Leitsatz (amtlich)

1. Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO wegen versäumter Revisionsbegründungsfrist kann durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.

2. Der Beschluß, durch den eine Revision als unzulässig verworfen wird, kann nach § 90 Abs. 1 Satz 2 FGO auch dann ohne mündliche Verhandlung ergehen, wenn eine solche gemäß § 159 FGO beantragt ist.

 

Normenkette

FGO §§ 56, 90, 126, 159

 

Tatbestand

Die Kläger (Steuerpflichtige) hatten gegen das Urteil des FG München II (VI) 109/65 vom 26. Oktober 1967 Revision eingelegt, diese jedoch nicht fristgerecht begründet. Nach Fristablauf hatten sie Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt und zudem beantragt, sowohl über die Revision wie auch über den Wiedereinsetzungsantrag auf Grund mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Mit (nicht veröffentlichtem) Beschluß I R 181/67 vom 22. Mai 1968 lehnte der BFH den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab und verwarf gleichzeitig die Revision als unzulässig. Der Beschluß erging ohne mündliche Verhandlung unter Mitwirkung dreier Richter.

Mit der Nichtigkeitsklage vom 2. August 1968 begehren die Steuerpflichtigen die Aufhebung dieses Beschlusses und die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bezüglich der versäumten Revisionsbegründungsfrist. Zur Begründung tragen sie vor:

Grundsätzlich entscheide der BFH nach mündlicher Verhandlung. Zwar besage § 90 Abs. 1 Satz 2 FGO, daß Entscheidungen des Gerichts, die nicht Urteile sind, ohne mündliche Verhandlung ergehen können. Dies gelte jedoch nur, "soweit nichts anderes bestimmt ist". Für den vorliegenden Fall sei aber in § 159 FGO etwas anderes bestimmt, denn dort sei für die Dauer von drei Jahren nach dem Inkrafttreten der FGO angeordnet, daß abweichend von § 90 FGO der BFH auf Grund mündlicher Verhandlung entscheide, wenn ein Beteiligter es beantrage. Diese Bestimmung habe u. a. auch den Sinn, während einer Übergangszeit den Beteiligten einen Ausgleich für die Verschärfung der neuen Formvorschriften zu gewähren, indem ihnen die Möglichkeit gegeben werde, in jedem Falle eine mündliche Verhandlung herbeizuführen. Auch abgesehen von § 159 FGO ergebe sich aus dem Zusammenhang des Gesetzes, daß der BFH nur nach mündlicher Verhandlung habe entscheiden dürfen. Durch die Verwerfung der Revision werde nämlich ein Rechtsstreit um den Steueranspruch endgültig erledigt. Die Wirkung sei die gleiche wie bei einer Sachentscheidung. Es bestehe daher keinerlei Rechtfertigung für eine geringere Rechtsgarantie.

Nach § 238 ZPO, der gemäß § 155 FGO entsprechend im finanzgerichtlichen Verfahren anwendbar sei, entscheide über Wiedereinsetzungsanträge das Prozeßgericht, also das Gericht in voller Besetzung. Es sei daher regelmäßig nur nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden.

Der Beklagte (FA) beantragt, die Klage abzuweisen. Hilfsweise begehrt er die Zurückweisung des Antrags aut Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Er wendet insbesondere ein, daß die Voraussetzung des § 579 Abs. 1 Nr. 1 ZPO nicht gegeben sei, denn die Steuerpflichtigen rügten im Grunde keinen Verstoß gegen das Gebot der vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts. Vielmehr werde nur die Verletzung des Grundsatzes der mündlichen Verhandlung gerügt, der aber durch § 579 ZPO nicht geschützt sei.

 

Entscheidungsgründe

Aus den Gründen:

Die Klage ist zulässig.

Zwar tragen die Steuerpflichtigen zur Begründung der Klage insbesonders vor, der Senat habe im Verfahren I R 181/67 nicht ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß entscheiden dürfen. Durch diese Rüge allein wäre ein Nichtigkeitsgrund im Sinne des § 579 ZPO nicht schlüssig behauptet. Indes hängt die Frage der Zahl der an der Entscheidung mitwirkenden Richter gemäß § 10 Abs. 3 FGO so unlösbar mit der Frage zusammen, ob außerhalb der mündlichen Verhandlung entschieden werden durfte, daß das Vorbringen der Steuerpflichtigen als schlüssige Behauptung der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des in der Sache I R 181/67 erkennenden Senats anzusehen ist.

Die Klage ist aber nicht begründet.

Zu Unrecht meinen die Steuerpflichtigen, der BFH habe den Beschluß I R 181/67 vom 22. Mai 1968 in nicht ordnungsgemäßer Besetzung, insbesondere unter Mitwirkung von nur drei anstelle von fünf Richtern, getroffen. Die Zahl der an einer Entscheidung des BFH mitwirkenden Richter ergibt sich aus § 10 Abs. 3 FGO. Danach entscheidet der Senat grundsätzlich in der Besetzung von fünf Richtern, bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung jedoch in der Besetzung von drei Richtern. Im Falle I R 181/67 konnte der Senat, ohne gegen verfahrensrechtliche Bestimmungen zu verstoßen, die Revision durch Beschluß außerhalb der mündlichen Verhandlung unter Mitwirkung dreier Richter verwerfen. Dies ergibt sich aus § 126 Abs. 1, § 90 Abs. 1 Satz 2 FGO. Daß die Steuerpflichtigen Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt hatten, stand einer solchen Entscheidung nicht entgegen (vgl. BFH-Beschluß V R 177/66 vom 16. Februar 1967, BFH 88, 304, BStBl III 1967, 368).

Der Auffassung der Steuerpflichtigen, es habe ein Fall vorgelegen, in dem im Sinne des § 90 Abs. 1 Satz 2 FGO "etwas anderes bestimmt" sei, vermag der Senat nicht zu folgen. Insbesondere läßt sich diese Auffassung nicht aus § 159 FGO herleiten. Bei dieser Bestimmung handelt es sich, wie u. a. die Überschrift des vierten Teils der FGO zum Ausdruck bringt, um eine Übergangsregelung. Die für diese Regelung maßgebenden Erwägungen hat die Bundesregierung in der amtlichen Begründung zum Entwurf der FGO - § 163 des Entwurfs - wie folgt formuliert (vgl. Bundestagsdrucksache IV/1446):

"Der Bundesfinanzhof ist seit Jahren durch eine immer mehr zunehmende Zahl neuer Rechtsbeschwerden sehr stark überlastet. Die Entlastung, die aus der Heraufsetzung der Revisionssumme auf eintausend Deutsche Mark durch das Steueränderungsgesetz 1961 zu erwarten ist, kann nur allmählich eintreten. Es erscheint daher geboten, die naturgemäß mit zusätzlichem zeitlichem Aufwand verbundene Einführung der mündlichen Verhandlung als Regel, d. h. ohne besondere Anordnung, für das Verfahren vor dem Bundesfinanzhof bis zu einer Normalisierung des Geschäftsbetriebs aufzuschieben."

Weder die Wortfassung noch die Begründung der im Entwurf vorgesehenen Bestimmung erfuhren sodann durch die Beratungen des Deutschen Bundestags eine Änderung. Anhaltspunkte dafür, daß diese nunmehr in § 159 FGO Gesetz gewordene Regelung auch aus anderen als den in der amtlichen Begründung enthaltenen Motiven vom Parlament beschlossen wurde, sind nicht erkennbar. Der Senat ist daher der Auffassung, daß § 159 FGO nur aus dem Gedanken der Vorbeuge gegen eine noch stärkere Überlastung des BFH zu verstehen ist (so auch v. Wallis-List in Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung und Ziemer-Birkholz, Finanzgerichtsordnung, jeweils zu § 159 FGO). Unter diesem Blickwinkel muß auch das Verhältnis des § 159 FGO zu § 90 Abs. 1 Satz 2 und § 126 FGO gesehen werden.

Nach Wortlaut und Sinngehalt kann sich § 159 FGO demnach nur auf Entscheidungen beziehen, die kraft zwingender Bestimmung des zweiten Teils der FGO nach mündlicher Verhandlung ergehen müssen. Von diesen grundsätzlich zwingend vorgeschriebenen mündlichen Verhandlungen (§ 90 Abs. 1 Satz 1 FGO) soll der BFH gemäß § 159 FGO für eine Übergangszeit von drei Jahren entlastet werden. Die mündliche Verhandlung soll während dieser Zeit nicht die Regel, sondern die Ausnahme sein. Würde § 159 FGO - wie die Steuerpflichtigen meinen - für alle Entscheidungen des BFH, also auch für Beschlüsse und Verfügungen gelten, so würde während der dort genannten Übergangszeit eine Mehrbelastung des BFH mit weiteren (fakultativen) mündlichen Verhandlungen eintreten, eine Folge, die der Gesetzgeber durch § 159 FGO gerade vermieden wissen wollte.

Auch aus § 56 FGO ergibt sich nicht, daß der Senat im Verfahren I R 181/67 unter Mitwirkung von fünf Richtern hätte entscheiden müssen. § 56 Abs. 4 FGO bestimmt, daß über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand das Gericht entscheidet, das über die versäumte Rechtshandlung zu befinden hat. In welcher Besetzung dieses Gericht entscheiden muß, ergibt sich aus § 56 FGO nicht. Die Bestimmung befaßt sich vielmehr nur mit der Frage der Zuständigkeit des Gerichts. Übereinstimmend mit der im Schrifttum allgemein vertretenen Auffassung wird man jedoch aus der Fassung des § 56 FGO schließen müssen, daß das Gericht in der Besetzung entscheiden muß, in der es über die versäumte Rechtshandlung befinden muß. Welche Besetzung dies ist, insbesondere ob Dreierbesetzung oder Fünferbesetzung, bestimmt sich gemäß § 155 FGO, § 238 Abs. 2 ZPO nach den Vorschriften über die nachgeholte Prozeßhandlung. Die nachgeholte Prozeßhandlung ist im vorliegenden Fall die Revisionsbegründung, über deren rechtzeitige Einlegung im Rahmen des Revisionsverfahrens zu entscheiden ist.

Bei verspäteter Anbringung der Revisionsbegründung wird die Revision als unzulässig verworfen (§ 124 Satz 2 FGO). Dies konnte im Fall I R 181/67 - wie bereits oben dargestellt - den Vorschriften des § 10 Abs. 3, § 126 Abs. 1, § 90 FGO entsprechend durch Beschluß ohne mündliche Verhandlung geschehen (vgl. auch Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts V C 20/63 vom 29. November 1963, Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bd. 17 S. 207).

 

Fundstellen

Haufe-Index 68484

BStBl II 1969, 320

BFHE 1969, 86

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