Leitsatz (amtlich)

Die Bestimmung des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 Buchst. b AO a. F., wonach Mitglieder von Lohnsteuerhilfevereinigungen ausschließlich Arbeitnehmer sein müssen, ist dahin auszulegen, daß sie nur für die beratenen, nicht auch für die beratenden Mitglieder der Vereinigungen gilt.

 

Normenkette

AO a.F. § 107a

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist in L als selbständiger Versicherungsvertreter und Makler tätig. Er ist Mitglied des beigeladenen Vereins. Nach dem zwischen ihm und dem beigeladenen Verein abgeschlossenen "Beratungsstellen-Vertrag" unterhält er in L eine Beratungsstelle für den Verein, in der er Mitglieder in den Verein aufnimmt und steuerlich berät.

Der beigeladene Verein leistet nach § 2 seiner Satzung "seinen Mitgliedern Beratung und tätige Mithilfe in allen Angelegenheiten ihrer Lohnsteuerpflicht im Rahmen des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 Buchst. b der Reichsabgabenordnung". Nach § 3 der Satzung können alle natürlichen Personen Mitglied des Vereins werden, die ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) haben. Der Verein hat eine größere Anzahl von Beratungsstellen eingerichtet, in denen die Mitglieder durch sogenannte Obleute beraten werden. Mit den Obleuten sind Verträge abgeschlossen. Darin erklären die Berater zunächst ihren Beitritt zum Verein und verpflichten sich, in ihren Räumen eine Beratungsstelle für den Verein einzurichten. Der Berater erhält als Vergütung für seine Tätigkeit Anteile an den einmaligen Aufnahmegebühren und den Mitgliedsbeiträgen, Die Obleute werden nach den "Arbeitsrichtlinien für Beratungsstellen" des Vereins im Namen des Vereins tätig, sind aber nicht dessen Angestellte.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (FA) forderte am 10. April 1974 den Kläger auf, die Hilfeleistung in Steuersachen sowohl für den Verein als auch im eigenen Namen zu unterlassen. Zur Begründung führte das FA aus, Mitglieder einer Vereinigung nach § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO dürften nur Arbeitnehmer sein. Der Kläger dürfe also nicht Mitglied der Vereinigung sein, da er selbständig tätig sei. Er dürfe daher auch nicht als Obmann Mitglieder des Vereins beraten. Abschrift dieser Verfügung erhielt der beigeladene Verein mit der Aufforderung, "die Beratungsstelle L umgehend entweder mit einem rechtmäßigen Vereinsmitglied zu besetzen oder zu schließen".

Nach erfolgloser Beschwerde erhob der Kläger Klage mit dem Antrag, die Verfügung vom 10. April 1974 und die Beschwerdeentscheidung aufzuheben. Das FG lud den Verein nach § 60 FGO bei. Es wies die Klage ab und ließ die Revision ausdrücklich zu.

Zur Begründung führte das FG aus, das FA habe dem Kläger zu Recht die Hilfeleistung in Steuersachen nach § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO untersagt. Da § 107 a Abs. 3 AO jede unbefugte Hilfeleistung in Steuersachen verbiete, seien die FÄ nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, eine solche Hilfeleistung zu untersagen.

Der Verein dürfe seine satzungsmäßige Aufgabe nicht durch Obleute erfüllen, die nicht selbst Arbeitnehmer seien. Nach § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO müßten die Mitglieder der Vereinigungen, denen die Hilfeleistung in Lohnsteuerfragen erlaubt sei, ausschließlich Arbeitnehmer sein. Die Auffassung des Klägers und des beigeladenen Vereins, nur die beratenen Personen müßten Arbeitnehmer sein, sei nicht richtig. Das Gesetz unterscheide nicht zwischen beratenen und beratenden Mitgliedern.

Die Begrenzung der Mitgliedschaft auch der beratenden Mitglieder auf den Kreis der Arbeitnehmer erscheine auch aus folgenden Gründen verständlich, wenn nicht sogar angebracht: Sobald das beratende Mitglied nicht Arbeitnehmer sei, sondern eine gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübe, bestehe die Möglichkeit einer Interessenkollision zwischen der Beratungstätigkeit für den Verein und der übrigen Tätigkeit. So liege es z. B. für einen Versichergungsvertreter nahe, den Vereinsmitgliedern, die ihn zum Zweck der steuerlichen Beratung aufsuchten, bei dieser Gelegenheit den Abschluß eines Versicherungsvertrages oder Bausparvertrages zur Ausschöpfung des Sonderausgabenhöchstbetrages zu empfehlen.

Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung des § 107 a AO. Zu ihrer Begründung führt er aus:

Zwar sei der vom beigeladenen Verein als Obmann verpflichtete Kläger kein Arbeitnehmer. Nach dem Gesetz müßten aber nur diejenigen Mitglieder ausschließlich Arbeitnehmer sein, die zur Zahlung von Mitgliedsbeiträgen verpflichtet werden könnten. Damit sei ersichtlich die erwartete "Mandantschaft" der Personenvereinigungen gemeint gewesen, nicht aber diejenigen Mitglieder, welche die Lohnsteuerhilfe leisteten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung.

Die Rechtmäßigkeit dieser Verfügung hängt in erster Linie davon ab, ob der beigeladene Verein als eine Personenvereinigung im Sinne des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO a. F. - die Bestimmung wurde durch Art. 2 Nr. 2 des Dritten Gesetzes zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes gestrichen und ihre Regelung inhaltlich in den zweiten Abschnitt des Ersten Teiles des Steuerberatungsgesetzes übernommen - anzusehen ist. Zu diesen Personenvereinigungen zählen nur solche, deren "Mitglieder ausschließlich Arbeitnehmer sind". Dem Wortlaut nach erfüllt der beigeladene Verein diese Voraussetzung nicht, da der Kläger als beratender Obmann Mitglied des Vereins, aber kein Arbeitnehmer ist. Diese am Buchstaben des Gesetzes orientierte Auslegung wird jedoch dem Sinn der Bestimmung nicht gerecht. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß eine Vereinigung, die auch im übrigen die Voraussetzungen des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO erfüllt, das Recht der lohnsteuerrechtlichen Beratung ihrer Mitglieder nicht dadurch verliert, daß die beratenden Mitglieder keine Arbeitnehmer sind.

Die Bestimmungen des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 AO wurden durch Gesetz vom 29. April 1964 (BGBl I 1964, 297) in die Reichsabgabenordnung eingefügt. Das Gesetz, das auf einen Initiativantrag von Abgeordneten des Deutschen Bundestages zurückgeht, hatte den Zweck, dem Bedürfnis lohnsteuerpflichtiger Arbeitnehmer nach lohnsteuerrechtlicher Beratung entgegenzukommen. Nach dem schriftlichen Bericht des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages (Drucksache IV/1929) hielt der Ausschuß "für erwiesen, daß bei Arbeitnehmern ein nachhaltiges Bedürfnis nach reiner Lohnsteuerberatung bestehe, das von den herkömmlichen Beratungseinrichtungen in der Vergangenheit nicht erkannt worden sei und auch in Zukunft wohl kaum erfüllt werden könne. Der normale Lohnsteuerfall eigne sich seiner Größenordnung nach weniger zur Beratung durch steuerberatende Berufe. Würden Personenvereinigungen, die sich ausschließlich auf die Lohnsteuerberatung ihrer Mitglieder beschränkten, zu dieser Hilfeleistung befugt, dann sei auch ein Einbruch in die den steuerberatenden Berufen vorzubehaltende Steuerberatung nicht zu befürchten". Der Finanzausschuß sprach sich dementsprechend dafür aus, Personenvereinigungen die Hilfeleistung in Lohnsteuersachen u. a. unter der Voraussetzung zu gestatten, daß "nur Arbeitnehmer Mitglieder der Personenvereinigungen sein (dürfen); dadurch wird u. a. die Möglichkeit eines Zusammenschlusses von Arbeitgebern zwecks Beratung ihrer Arbeitnehmer ausgeschlossen".

Aus der Entstehungsgeschichte der letztgenannten Bestimmung ergibt sich zunächst, daß der Gesetzgeber den Einbruch in die grundsätzlich den steuerberatenden Berufen vorzubehaltende Steuerberatung nur im Hinblick auf das besondere Interesse der lohnsteuerpflichtigen Arbeitnehmer an lohnsteuerrechtlicher Beratung für vertretbar gehalten hat. Die Einschränkung der Erlaubnis auf Vereinigungen, deren Mitglieder "ausschließlich Arbeitnehmer" sind, beruht in erster Linie auf diesem Gedanken. Ferner ergibt sich aus dem Bericht des Finanzausschusses, daß die genannte Einschränkung u. a. die Möglichkeit eines Zusammenschlusses von Arbeitgebern zwecks Beratung ihrer Arbeitnehmer ausschließen sollte. Auch soll die steuerliche Beratung nur den Mitgliedern, nicht auch ihren Angehörigen gewährt werden können (vgl. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 107 a AO, Anm. 18 a Buchst. c; Kolbeck, Erweiterte steuerliche Beratung von Arbeitnehmern, DStZ A 1964, 177). Schließlich ist die fragliche Bestimmung auch noch die logische Folgerung aus der Regelung des ersten Halbsatzes des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO, wonach die satzungsmäßige Aufgabe des Vereins ausschließlich die Hilfeleistung in Lohnsteuersachen sein dürfe. Daraus ergibt sich folgerichtig, daß die geförderten Mitglieder des Vereins nur Arbeitnehmer, d. h. Lohnsteuerzahler sein können.

Nach Auffassung des FG liegt der Sinn der Begrenzung der Mitgliedschaft auch für die beratenden Mitglieder auf den Kreis der Arbeitnehmer darin, daß die Möglichkeit einer Interessenkollision zwischen der Beratungstätigkeit für den Verein und der übrigen Tätigkeit des Beraters ausgeschlossen werden solle. Demgegenüber hat der Kläger mit Recht darauf hingewiesen, daß eine Interessenkollision in gleicher Weise möglich ist, wenn der Berater Arbeitnehmer ist, z. B. Angestellter einer Versicherungsgesellschaft. Auch als solcher kann er den Einblick in die wirtschaftliche und finanzielle Lage des beratenen Mitglieds für seine eigenen beruflichen Interessen ausnützen. Die Beschränkung der Mitgliedschaft auf Arbeitnehmer ist also ein untaugliches Mittel, der Gefahr einer Interessenkollision vorzubeugen. Hätte der Gesetzgeber dieses Ziel verfolgt - der zitierte Bericht des Finanzausschusses spricht dagegen -, so hätte er sich sicherlich nicht dieses Mittels bedient, sondern eine entsprechende ausdrückliche Regelung getroffen.

Es ist also kein plausibler Grund erkennbar, weswegen die Tatsache, daß die beratenden Mitglieder keine Arbeitnehmer sind, die Vereinigung von der Lohnsteuerberatung ausschließen sollte. Ein solcher Ausschluß liefe im Gegenteil den Absichten des Gesetzgebers entgegen, den Lohnsteuerpflichtigen eine erweiterte lohnsteuerrechtliche Beratung zugute kommen zu lassen.

Wie sich aus dem Urteil des erkennenden Senats vom 27. Februar 1973 VII R 100/70 (BFHE 109, 4, BStBl II 1973, 536) ergibt, sagt das Gesetz selbst nichts darüber, auf welche Art und Weise die Vereine die Hilfe in Lohnsteuersachen erbringen können. Die nähere Ausgestaltung bleibt also weitgehend den Vereinen selbst überlassen. Sie können die Beratung durch ihre Organe ausüben lassen. Diese Möglichkeit genügt aber nicht, um den Vereinszweck zu erfüllen. Die Lohnsteuerberatung konzentriert sich auf den Lohnsteuer-Jahresausgleich. Die hierfür erforderlichen Anträge müssen innerhalb der ersten Monate des Jahres gestellt werden. Diese Aufgabe der entsprechenden Beratung kann ein Lohnsteuerhilfeverein daher praktisch nur leisten, wenn er eine Anzahl von Obleuten einsetzt, welche den Vereinsmitgliedern die ihnen satzungsgemäß zukommende Hilfe in Lohnsteuersachen erbringen. Dieses System der Hilfeleistung durch Obleute entspricht nach dem genannten Urteil dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Die Vereinigungen können sich die Beschäftigung einer großen Anzahl hauptberuflich tätiger und festangestellter Mitarbeiter kaum leisten. Andernfalls müßten sie ihre Mitgliedsbeiträge in einer Weise erhöhen, daß die meisten Lohnsteuerzahler davon Abstand nehmen würden, einer solchen Vereinigung beizutreten. Der Gesetzeszweck würde auf diese Weise geradezu vereitelt werden.

Dieses System würde nun ganz erheblich beeinträchtigt werden, wollte man von der Übernahme der Aufgabe des beratenden Obmanns alle Personen ausschließen, die keine Arbeitnehmer sind. Die erweiterte Hilfe der Lohnsteuerzahler würde dadurch nicht mehr im vom Gesetzgeber offensichtlich gewünschten Umfang gewährleistet sein. Diesem Sinn und Zweck der Regelung des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO muß bei seiner Auslegung Rechnung getragen werden. Daran fehlte es, würde man die Bestimmung "wenn die Mitglieder ausschließlich Arbeitnehmer sind" dem Buchstaben nach uneingeschränkt anwenden. Da der Gesetzeswortlaut selbst eine Einschränkung dieser Bestimmung auf die beratenen Mitglieder nicht enthält, liegt eine verdeckte Regelungslükke vor, die auszufüllen die Rechtsprechung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet ist (vgl. BFH-Urteil vom 21. Februar 1964 IV 26/62 S, BFHE 78, 490, BStBl III 1964, 188). Für das Vorliegen einer solchen Regelungslücke spricht auch der Umstand, daß es der Gesetzgeber unterlassen hat, die Art und Weise der durch den Lohnsteuerhilfeverein zu leistenden Hilfe zu regeln (vgl. auch Urteil VII R 100/70). Damit hat er es aber auch unterlassen, die mit der Art und Weise der Hilfeleistung in Zusammenhang stehenden denkbaren Situationen - insbesondere im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Mitgliedschaft - zu Ende zu denken.

Die Ausfüllung einer verdeckten Regelungslücke geschieht in der Weise, daß dem Gesetz die vom Sinn und Zweck geforderte Einschränkung hinzugefügt wird. Die im Gesetz enthaltene, im Wortlaut zu weit gefaßte Regel wird auf den nach dem Zweck- und Sinnzusammenhang des Gesetzes notwendigen Anwendungsbereich zurückgeführt. Diese sogenannte teleologische Reduktion ist eine in der Rechtslehre und -praxis anerkannte Methode bei der Auslegung und Anwendung der Gesetze (vgl. BFH-Urteil IV 26/62 S und die dort zitierte Rechtsprechung und Literatur). Die Anwendung dieser Grundsätze führt hier zum Ergebnis, daß in Fortentwicklung des Gedankens des Gesetzgebers - Sicherstellung einer erweiterten steuerlichen Beratung der Arbeitnehmer - die Bestimmung des § 107 a Abs. 3 Nr. 4 b AO, wonach Mitglieder von Lohnsteuerhilfevereinigungen ausschließlich Arbeitnehmer sein müssen, dahin auszulegen ist, daß sie nur für die beratenen, nicht aber auch für die beratenden Mitglieder der Vereinigungen gilt.

Die Richtigkeit dieser Auffassung wird durch die Neuregelung des Rechts für die Lohnsteuerhilfevereine durch das Dritte Gesetz zur Änderung des Steuerberatungsgesetzes vom 24. Juni 1975 (BGBl I 1975, 1509, BStBl I 1975, 733) bestätigt. Wie sich aus der Begründung des entsprechenden Gesetzentwurfs ergibt, war Ziel der Neuregelung, einerseits der ständig wachsenden Bedeutung der Lohnsteuerberatung Rechnung zu tragen und andererseits den hierbei aufgetretenen Mißständen wirksam zu begegnen (vgl. Bundestagsdrucksache 7/2852 S. 29). Obwohl also eine Erweiterung der Möglichkeiten der Lohnsteuerhilfevereinigungen nicht beabsichtigt war, ist die Klausel, daß Mitglieder der Vereine ausschließlich Arbeitnehmer sein dürfen, nicht in die Neuregelung übernommen worden. Der Gesetzgeber hielt offenbar die in § 14 Abs. 1 Nr. 1 StBerG n. F. enthaltene Bestimmung für ausreichend, daß Aufgabe des Vereins ausschließlich die Hilfeleistung in Lohnsteuersachen für seine Mitglieder sein dürfe.

 

Fundstellen

Haufe-Index 71923

BStBl II 1976, 601

BFHE 1977, 1

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