Entscheidungsstichwort (Thema)

Änderung der rechtlichen Beurteilung eines Sachverhalts

 

Leitsatz (NV)

1. Die Änderung der rechtlichen Beurteilung eines bestehenden Sachverhalts kann nicht zu einer Berichtigung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 führen.

2. Durch das EuGH-Urteil vom 17. Februar 2005 Rs. C-453/02 und Rs. C-462/02 ‐ Linneweber und Akritidis-, Slg. 2005, I-1131, hat sich nicht der zu beurteilende Sachverhalt geändert; vielmehr hat der EuGH in dieser Entscheidung lediglich die Voraussetzungen des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG präzisiert.

 

Normenkette

AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EWGRL 388/77 Art. 13 Teil B Buchst. f

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg (Urteil vom 04.02.2005; Aktenzeichen 9 K 198/02; EFG 2005, 910)

 

Tatbestand

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erbrachte in den Jahren 1979 bis 1986 (Streitjahre) u.a. Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) ermittelte die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer entsprechend den Schreiben des Bundesfinanzministeriums vom 21. Juni 1978 bzw. 7. Juni 1991 IV A 2 -S 7200- 45/91 (BStBl I 1991, 538) unter Anwendung eines Vervielfältigers von 1,5 bzw. 2,0 auf den Kasseninhalt der Geldspielautomaten. Sämtliche Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 1979 bis 1986 (Streitjahre) sind bestandskräftig. Mit Ablauf des 31. Dezember 1991 trat für die Umsatzsteuer 1986 als letzten der streitbefangenen Steueransprüche Festsetzungsverjährung ein.

Im Jahr 1994 entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), dass bei Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit der gesetzlich zwingend festgelegte Teil der Gesamtheit der Spieleinsätze, der den an die Spieler ausgezahlten Gewinnen entspreche, nicht zur Besteuerungsgrundlage gehöre (vgl. EuGH-Urteil vom 5. Mai 1994 Rs. C-38/93 --Glawe--, Slg. 1994, I-1679, BStBl II 1994, 548).

Mit Schreiben vom 21. Juni 1995 legte der Kläger gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Jahre 1979 bis 1986 Einspruch ein, wobei er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist beantragte. Er wollte erreichen, dass seine Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten nach den Grundsätzen des EuGH-Urteils Glawe in Slg. 1994, I 1679, BStBl II 1994, 548 bemessen werden, was eine Umsatzsteuererstattung von … DM zur Folge gehabt hätte.

Mit Einspruchsentscheidung vom 12. Juni 2002 verwarf das FA den Einspruch als unzulässig (verspätet) und lehnte die beantragte Wiedereinsetzung ab.

Das Finanzgericht (FG) wies die daraufhin vom Kläger erhobene Klage als unbegründet ab, weil die eingetretene Festsetzungsverjährung die Änderung der angefochtenen Bescheide verhindere. Das Urteil ist in "Entscheidungen der Finanzgerichte" (EFG) 2005, 910 veröffentlicht.

Gegen das ihm am 2. März 2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 31. März 2005 die vom FG zugelassene Revision eingelegt. Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist (2. Mai 2005) begründete der Kläger mit Telefax vom 4. Mai 2005 die Revision und beantragte wegen unverschuldeter Versäumung der Revisionsbegründungsfrist unter Vorlage zweier ärztlicher Atteste sowie einer eidesstattlichen Versicherung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Zur Revisionsbegründung macht der Kläger im Wesentlichen geltend:

Der EuGH habe mit Urteil vom 17. Februar 2005 Rs. C-453/02 und C-462/02 --Linneweber und Akritidis-- (Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2005, 194) entschieden, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) dahin auszulegen sei, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehe, wonach die Veranstaltung oder der Betrieb von Glücksspielen und Glücksspielgeräten aller Art in zugelassenen öffentlichen Spielbanken steuerfrei sei, während diese Steuerbefreiung für die Ausübung der gleichen Tätigkeit durch Wirtschaftsteilnehmer, die nicht Spielbankbetreiber seien, nicht gelte. Ferner habe der EuGH in diesem Urteil entschieden, dass Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbare Wirkung in dem Sinne habe, dass sich ein Veranstalter oder Betreiber von Glücksspielen oder Glücksspielgeräten vor den nationalen Gerichten darauf berufen könne, um die Anwendung mit dieser Bestimmung unvereinbarer innerstaatlicher Rechtsvorschriften zu verhindern.

Denn nach § 4 Nr. 9 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes (UStG) sei nur der Betrieb von Geldspielautomaten in öffentlichen Spielbanken umsatzsteuerfrei. Nach dem bezeichneten EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis müsse nunmehr auch der Betrieb von Geldspielautomaten außerhalb von öffentlichen Spielbanken als steuerfrei behandelt werden.

Im Gegensatz zum angefochtenen Urteil stehe einer Änderung der Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre die Festsetzungsverjährung nicht entgegen. Das ergebe sich aus dem EuGH-Urteil vom 25. Juli 1991 Rs. C-208/90 --Emmott-- (Slg. 1991, I-4269, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 1993, 137, UR 1993, 315) sowie aus Art. 10 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG).

Jedenfalls stelle das EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94, UR 2005, 194 ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) dar. Anders als nationale Gerichtsurteile hätten EuGH-Urteile, die --wie hier-- aufgrund von Vorabentscheidungsersuchen ergangen seien, nicht nur Wirkung "inter partes".

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil des FG aufzuheben und die Umsatzsteuerbescheide für 1979 bis 1986 dahin zu ändern, dass die Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit sowie die damit zusammenhängenden Vorsteuerbeträge mit 0 DM angesetzt werden.

Hilfsweise regt der Kläger an,

"1. das Verfahren auszusetzen und

2. folgende Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 234 EG vorzulegen:

a) Hindert das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der in Art. 10 des EG-Vertrages aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue bzw. der Zusammenarbeit sowie Art. 249 Abs. 3 des EG-Vertrages, eine Behörde, unter den Umständen, wie sie oben geschildert wurden, sich auf die nationalen Verfahrensvorschriften über Einspruchsfristen gegenüber einem Einspruch zu berufen, den ein Einzelner gegen sie zum Schutz der durch Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar verliehenen Rechte erhoben hat?

b) Hindert das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der in Art. 10 des EG-Vertrages aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue bzw. der Zusammenarbeit sowie Art. 249 Abs. 3 des EG-Vertrages, eine Behörde, unter den Umständen, wie sie oben geschildert wurden, sich auf die natürlichen Verfahrensvorschriften über die Festsetzungsverjährung gegenüber einem Änderungsbegehren zu berufen, das ein Einzelner gegen sie zum Schutz der durch Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG unmittelbar verliehenen Rechte erhoben hat?

c) Verpflichtet das Gemeinschaftsrecht, insbesondere der in Art. 10 des EG-Vertrages aufgestellte Grundsatz der Gemeinschaftstreue bzw. der Zusammenarbeit, eine Behörde, unter den Umständen, wie sie oben geschildert wurden, einen bestandskräftigen Bescheid zurückzunehmen, um die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts, so wie es aufgrund der Antwort auf ein späteres Vorabentscheidungsersuchen ausgelegt werden muss, sicherzustellen?"

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.

1. Die Revision ist zulässig. Dem Kläger ist wegen unverschuldeter Versäumung der Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) gemäß § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

2. Die Revision ist unbegründet.

a) Das FG hat zu Recht entschieden, dass die angefochtenen Umsatzsteuerbescheide für 1979 bis 1986 nach Ablauf der vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO 1977) nicht mehr geändert werden können.

aa) Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist die Änderung einer Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist.

Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vor, was das FG festgestellt hat und unter den Beteiligten nicht umstritten ist.

bb) Entgegen der Ansicht des Klägers lässt sich weder aus dem EuGH-Urteil Emmott in Slg. 1991, I-4269, BFH/NV Beilage 2005, 94, UR 1993, 315 noch aus Art. 10 EG herleiten, dass der Ablauf der Festsetzungsfrist im Streitfall unerheblich ist.

Zur Begründung verweist der Senat auf seine --in neutralisierter Form beigefügten-- Urteile vom 23. November 2006 V R 51/05 und V R 67/05.

b) Auch die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 liegen nicht vor.

Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. In diesem Fall beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem das Ereignis eintritt (§ 175 Abs. 1 Satz 2 AO 1977).

Es ist in der Rechtsprechung des BFH anerkannt, dass ein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 in der Weise in die Vergangenheit wirken muss, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist (vgl. Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897, unter C.II.1. b der Gründe). Die Änderung der rechtlichen Beurteilung eines bestehenden Sachverhalts kann nicht zu einer Berichtigung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 führen (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 26. Oktober 1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75, unter II.1.; vom 21. März 1996 XI R 36/95, BFHE 179, 563, BStBl II 1996, 399, unter II.2. der Gründe; BFH-Beschluss vom 19. Januar 2004 VIII B 167/03, juris).

Durch das EuGH-Urteil Linneweber und Akritidis in Slg. 2005, I-1131, BFH/NV Beilage 2005, 94, UR 2005, 194 hat sich nicht der zu beurteilende Sachverhalt geändert; vielmehr hat der EuGH in dieser Entscheidung lediglich die Voraussetzungen des Art. 13 Teil B Buchst. f der Richtlinie 77/388/EWG präzisiert.

3. Der Senat folgt nicht der Anregung des Klägers, gemäß Art. 234 Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.

Die von dem Kläger insoweit aufgeworfenen Fragen sind durch die Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt. Zur Begründung verweist der Senat auf sein Urteil vom 23. November 2006 V R 67/05.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1703553

BFH/NV 2007, 872

HFR 2007, 433

UR 2007, 329

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