Leitsatz (amtlich)

Wechselt der Kläger nach Ablauf der Klagefrist die beklagte Finanzbehörde aus und beantragt er wegen der Fristversäumnis Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, so hat das FG, bei dem die Klage anhängig ist, im Rahmen der Entscheidung über die Verweisung an das örtlich zuständige Finanzgericht (§ 70 FGO) auch über die Sachdienlichkeit der Klageänderung (§ 67 FGO) und über die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden.

 

Orientierungssatz

1. Die Entscheidung des FG, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, ist unanfechtbar und kann daher vom Revisionsgericht grundsätzlich nicht überprüft werden (vgl. BVerwG-Beschluß vom 11.11.1987 9 B 379/87; BFH-Beschluß vom 7.10.1987 II R 65/85).

2. Im Falle der Verweisung (§ 70 FGO) schließt sich das Verfahren vor dem angewiesenen Gericht an das vor dem verweisenden Gericht durchgeführte Verfahren unmittelbar in der Lage an, in der es sich vor der Verweisung befand. Beschlüsse des verweisenden Gerichts bleiben wirksam und können, wenn sie rechtskräftig geworden oder sonst unabänderlich sind, auch vom angewiesenen Gericht nicht mehr geändert werden (Literatur).

3. Die Bindung des Gerichts an von ihm erlassene Endurteile und Zwischenurteile (§ 318 ZPO i.V.m. § 155 FGO) gilt sinngemäß für die an Stelle eines denkbaren Zwischenurteils durch Beschluß getroffenen Entscheidungen, an deren Charakter sich durch die mindere Form nichts ändert (vgl. BVerfG-Beschluß vom 28.10.1958 1 BvR 5/58).

 

Normenkette

GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; FGO §§ 38, 56 Abs. 5, § 63 Abs. 2 Nr. 1, §§ 67, 70, 155; ZPO §§ 237, 318

 

Verfahrensgang

FG München (Entscheidung vom 25.05.1984; Aktenzeichen V 463/83 F)

 

Tatbestand

Für die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) stellte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA M--) den Gewinn 1978 mit Bescheid vom 10.Dezember 1980 unter Nachprüfungsvorbehalt fest. Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein.

Nach einer Außenprüfung änderte das FA M die Gewinnfeststellung durch Bescheid vom 1.Juli 1983.

Mit Einspruchsentscheidung vom 5.Juli 1983 wies das FA M den ursprünglich gegen den Feststellungsbescheid vom 10.Dezember 1980 eingelegten Einspruch zurück. Die am 11.Juli 1983 zugestellte Einspruchsentscheidung war mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen, wonach eine eventuelle Klage beim Finanzgericht München (FG M) zu erheben und gegen das FA M zu richten gewesen wäre.

Die Klägerin verlegte zwischenzeitlich ihren Sitz nach B, wie das nunmehr für die Besteuerung der Klägerin zuständige FA (FA B) dem FA M unter dem 21.Juli 1983 mitteilte.

Vor Klageerhebung erhielt der ehemalige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin bei einer Vorsprache im FA M die Auskunft, daß die Klage gegen das FA B zu richten sei, weil sämtliche Steuerakten bereits dorthin abgegeben worden seien.

Die Klagschrift vom 2.August 1983 an das FG B (FG B) ging dort am 3.August 1983 ein und benannte als Beklagten das FA B ("früher" FA M). Sie enthielt keinen Hinweis darauf, daß die angefochtene Einspruchsentscheidung vom FA M erlassen worden war.

Einige Tage nach dem 2.August 1983 berichtigte das FA M fernmündlich seine Auskunft gegenüber dem damaligen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin dahingehend, daß die Klage doch gegen das FA M zu richten sei.

Nach gerichtlichen Hinweisen stellte die Klägerin die Klage um gegen das FA M mit dem Begehren, diese Klageänderung unter Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zuzulassen und den Rechtsstreit an das FG M zu verweisen.

Nach Anhörung der FÄ B und M verwies das FG B mit Beschluß vom 24.November 1983 den Rechtsstreit gemäß § 70 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das FG M. In den Gründen führt das FG B aus, daß es die Klageänderung für sachdienlich halte. Der Klägerin sei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren gewesen, weil die Klage gegen das FA B durch eine unrichtige Auskunft des FA M veranlaßt worden sei.

Das FG M wies die Klage gegen das FA M als unzulässig ab, weil die Klagefrist nicht eingehalten bzw. die gegen das FA B erhobene Klage nicht fristgerecht in eine Klage gegen das FA M geändert worden sei (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1985, 31).

Mit ihrer hiergegen eingelegten Revision rügt die Klägerin eine unrichtige Anwendung der §§ 55 und 70 FGO.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG M zurückzuverweisen.

Das FA M beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG M zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).

Entgegen der Auffassung des FG M ist die Klage nicht unzulässig wegen Versäumung der Klagefrist (§ 47 FGO).

1. Unabhängig vom Wechsel der örtlichen Behördenzuständigkeit für die Bearbeitung des Steuerfalls der Klägerin war die Klage nach vorangegangenem Einspruch gegen das FA M zu richten, welches die Einspruchsentscheidung erlassen hat (§ 63 Abs.2 Nr.1 FGO).

2. Es kann dahinstehen, welche Auswirkungen die falsche mündliche Auskunft des FA M einerseits und die anschließende Berichtigung andererseits auf die Richtigkeit der Rechtsbehelfsbelehrung und den Lauf der Klagefrist hatten (§ 55 FGO). Denn selbst wenn die einmonatige Klagefrist versäumt wurde, ist die Nichteinhaltung jedenfalls durch die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das FG B geheilt (§ 56 FGO). Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 56 Abs.5 FGO) und kann daher vom Revisionsgericht grundsätzlich nicht (auch nicht incident) überprüft werden (Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts --BVerwG-- vom 11.November 1987 9 B 379/87, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht --NVwZ-- 1988, 531; Beschluß des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 7.Oktober 1987 II R 65/85, NV).

3. Die Wiedereinsetzung bezog sich auf die von der Klägerin begehrte (subjektive) Klageänderung (§ 67 FGO), die auf den Beklagtenwechsel --nunmehr FA M statt bisher FA B-- abzielte. Daß das FG B diese Klageänderung im Zusammenhang mit der von ihm gewährten Wiedereinsetzung in seinem Beschluß als sachdienlich beurteilt hat, ist nicht zu beanstanden. Bei fristgebundenen Klagen ist die einen Beteiligten wechselnde Klageänderung statthaft, wenn die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand --wie im vorliegenden Beschluß des FG B-- bejaht werden (BFH-Urteil vom 26.Februar 1980 VII R 60/78, BFHE 130, 12, 16, BStBl II 1980, 331, unter 3.).

4. Entgegen den Bedenken des FG M verstößt der Beschluß des FG B nicht gegen das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters (Art.101 Abs.1 Satz 2 des Grundgesetzes --GG--), soweit nicht nur über die Verweisung des Rechtsstreits wegen örtlicher Unzuständigkeit (§ 70 FGO), sondern zugleich über die Sachdienlichkeit der Klageänderung und über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden wurde.

Das FG B war gemäß § 38 FGO als Prozeßgericht örtlich zuständig für die bei ihm ursprünglich gegen das FA B erhobene Klage. Es hatte darüber zu befinden, ob die Klage gegen das FA B wegen fehlender Passivprozeßführungsbefugnis gemäß § 63 Abs.2 Nr.1 FGO durch Prozeßurteil als unzulässig abzuweisen oder der Beklagtenwechsel im Wege der begehrten Klageänderung --ohne Beklagteneinwilligung-- als sachdienlich gemäß § 67 FGO zuzulassen und dementsprechend der Rechtsstreit gemäß § 70 FGO an das FG M zu verweisen war. Die Verweisung erforderte eine Beendigung des Schwebezustands über die Frage des richtigen Beklagten. Die Zulassung der Klageänderung als sachdienlich setzte wiederum die Gewährung der Wiedereinsetzung voraus, für die das verweisende Gericht somit ebenfalls i.S. von § 237 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i.V.m. § 155 FGO zuständig war (vgl. Wieczorek, Zivilprozeßordnung und Nebengesetze, 2.Aufl., § 276 a.F. Anm.B IV b 3).

Der Senat kann offenlassen, ob das FG B in der richtigen Besetzung über die Frage der Wiedereinsetzung und über die Zulässigkeit der Klageänderung entschieden hat. Denn das FG M ist an diese Entscheidungen auch dann gebunden, wenn sie unter Verstoß gegen Verfahrensrecht zustande gekommen sein sollten (vgl. unten unter 5.).

5. Das FG M als angewiesenes Gericht ist --entgegen seiner Auffassung-- an die bereits getroffenen abschließenden Entscheidungen des verweisenden FG B über die Zulassung der Klageänderung und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gebunden.

Zwar ist der Hinweis des FG M zutreffend, daß die Bindungswirkung einer Verweisung sich nur auf die damit jeweils entschiedene Zuständigkeitsfrage erstreckt.

Hiervon ist jedoch die Bindung an den bisherigen Stand des übernommenen Verfahrens zu unterscheiden, das insgesamt als Einheit anzusehen ist. Das Verfahren vor dem angewiesenen Gericht schließt sich an das vor dem verweisenden Gericht durchgeführte Verfahren unmittelbar in der Lage an, in der es sich vor der Verweisung befand. Beschlüsse des verweisenden Gerichts bleiben wirksam und können, wenn sie rechtskräftig geworden oder sonst unabänderlich sind, auch von dem angewiesenen Gericht nicht mehr geändert werden (statt aller Leipold in Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20.Aufl., § 281 Rdnr.35; List in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8.Aufl., § 70 FGO Anm.13).

Die Bindung des Gerichts an von ihm erlassene End- und Zwischenurteile (§ 318 ZPO i.V.m. § 155 FGO) gilt sinngemäß für die an Stelle eines denkbaren Zwischenurteils --wie hier-- durch Beschluß getroffenen Entscheidungen, an deren Charakter sich durch die mindere Form nichts ändert (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 28.Oktober 1958 1 BvR 5/58, Juristenzeitung --JZ-- 1959, 59). Um solche Entscheidungen handelt es sich bei der Zulassung der Klageänderung und bei der Wiedereinsetzung im Streitfall. Im Gegensatz zu frei abänderbaren prozeßleitenden Anordnungen liegen unmittelbar wirksame Gestaltungen des Prozeßverhältnisses zwischen den Beteiligten und uneingeschränkte Entscheidungen über Rechte der Klägerin vor. Aus Gründen der Rechtssicherheit muß diese vom FG B geschaffene prozeßrechtliche Lage vom FG M beachtet werden (vgl. Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 5.Februar 1954 I ZB 12/53, Neue Juristische Wochenschrift 1954, 880).

6. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG M hat --von seinem Rechtsstandpunkt aus-- bisher keine Feststellungen zur Begründetheit der Klage getroffen. Der Rechtsstreit ist daher zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG M zurückzuverweisen. Dieses wird nötigenfalls die vom FA M gerügte mangelnde Zustellung des Beschlusses des FG B an das FA M nachzuholen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 62209

BFH/NV 1989, 20

BStBl II 1989, 460

BFHE 155, 457

BFHE 1989, 457

BB 1989, 976-976 (L1)

DB 1989, 1012 (T)

HFR 1989, 377 (LT)

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