Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuer, Lohnsteuer, Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Die der Bundesregierung in § 26 Abs. 2 LStDV 1955 erteilte Ermächtigung, den Kreis der körperbeschädigten Arbeitnehmer zu bestimmen, die einen Pauschbetrag in Anspruch nehmen können, und die daraufhin ergangene Verwaltungsanweisung in Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 sind mit Art. 80 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.

Die Steuergerichte können eine begünstigende Verwaltungsanweisung auch nicht im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG anwenden und auslegen.

 

Normenkette

EStG §§ 33, 33a/6; LStDV §§ 25, 26 Abs. 2; LStR Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20, 80, 108 Abs. 6

 

Tatbestand

Der Beschwerdegegner (Bg.) hat als Kind durch Unfall das linke Auge verloren und trägt eine Augenprothese. Nach einer amtsärztlichen Bescheinigung ist seine Erwerbsfähigkeit um 30 v. H. gemindert. Er verlangt für das Streitjahr 1955 einen steuerfreien Pauschbetrag von 360 DM gemäß § 26 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) 1955 in Verbindung mit Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 der Lohnsteuer-Richtlinien (LStR) 1955. Das Finanzamt lehnte den Antrag ab.

Das Finanzgericht gab der Berufung statt. Es führte aus, die Voraussetzungen des Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 seien erfüllt. Nach der amtsärztlichen Bescheinigung sei der Körperschaden des Bg. äußerlich erkennbar und hindere ihn in der körperlichen Beweglichkeit.

Der Vorsteher des Finanzamts rügt unrichtige Anwendung von § 26 LStDV 1955 und Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955. Seine Rechtsbeschwerde führt, wenn auch aus anderen als den von ihm vorgetragenen Gründen, zur Aufhebung der Vorentscheidung.

 

Entscheidungsgründe

In der zur amtlichen Veröffentlichung freigegebenen Entscheidung VI 2/54 U vom heutigen Tage ist ausgesprochen worden, daß durch Unfall einäugig Blinden ein Pauschbetrag gemäß § 26 LStDV 1952 in Verbindung mit Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1952 zustehe. Der Senat würde, wenn er Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955, der für das Streitjahr 1955 gilt, auszulegen hätte, zum gleichen Ergebnis kommen, weil die Regelungen in den LStR 1952 und in den LStR 1955 in den hier in Betracht kommenden Punkten sachlich übereinstimmen.

Indessen können die Steuergerichte Abschn. 40 LStR 1955 nicht auslegen. Nach Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) ist die Rechtsprechung an das Gesetz gebunden. Verwaltungsanweisungen sind keine Gesetze. Sie schaffen keine Rechtsnormen, die die Bürger zu einem bestimmten Tun verpflichten oder ihnen bestimmte Rechte einräumen können. Verwaltungsanweisungen der obersten Verwaltungsbehörden binden kraft der aus dem hierarchischen Behördenaufbau sich ergebenden Weisungsbefugnis nur die nachgeordneten Dienststellen. In einem demokratischen Rechtsstaat, der wie die Bundesrepublik die Staatsgewalt auf Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung verteilt (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG), können für die Rechtsprechung verbindliche Rechtsnormen nur von den Institutionen und in den Formen geschaffen werden, die die Verfassung bestimmt. Die Gerichte müssen, um im demokratischen Rechtsstaat die verfassungsmäßige Ordnung zu gewährleisten, alle Bestimmungen vor ihrer Anwendung darauf prüfen, ob sie sachlich und formell Rechtsnormen sind. Unter der Herrschaft des GG können Bundesgesetze nur in den in Abschn. VII (Art. 70 - 82) GG vorgesehenen Formen geschaffen werden. Rechtsverordnungen stehen Gesetzen gleich, sofern sie auf einer verfassungsmäßig einwandfreien Ermächtigung beruhen. Dazu gehört nach Art. 80 Abs. 1 GG zunächst, daß die Ermächtigung in einem Gesetz erteilt ist; ferner müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz bestimmt sein; schließlich ist die Rechtsgrundlage für die Rechtsverordnung in der Verordnung anzugeben. Unterermächtigungen (Subdelegationen) sind nicht ausgeschlossen, müssen aber im Gesetz vorgesehen sein und durch Rechtsverordnung vollzogen werden. Die Einschränkung der Rechtssetzungsbefugnis der Verwaltung durch Rechtsverordnung ist ein wesentliches Merkmal des demokratischen Rechtsstaats gegenüber totalitären Staaten, die gewöhnlich die Macht zur Rechtssetzung in unbeschränktem und unkontrollierbarem Masse auf die Verwaltung übertragen. Die Verwaltung ist in Diktaturen nur dem Diktator, nicht dem Bürger verantwortlich.

Die LStR sind allgemeine Verwaltungsvorschriften, die von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats auf Grund von Art. 108 Abs. 6 GG erlassen werden. Sie sind keine Gesetze, sondern Verwaltungsanweisungen. Die Steuergerichte sind nicht gehindert, die in den Richtlinien zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung der Bundesregierung bei der Auslegung der Gesetze in Betracht zu ziehen. Wenn aber die Bundesregierung in Verwaltungsanweisungen aus dem Gesetz nicht abzuleitende sachlich-rechtliche Regelungen trifft, so können die Steuergerichte solche Regelungen nicht beachten. Sie würden sonst gegen Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen (Urteile des Bundesfinanzhofs IV 342/53 U vom 8. April 1954, Slg. Bd. 58 S. 722, Bundessteuerblatt - BStBl - 1954 III S. 188 betreffend Werbungskosten-Pauschsätze; IV 47/54 S vom 22. September 1955, Slg. Bd. 62 S. 488, BStBl 1956 III S. 181 und IV 382/55 S vom 24. Juli 1956, Slg. Bd. 64 S. 291, BStBl 1957 III S. 111, betreffend Steuerfreiheit der Ministerialzulage; I 292/55 U vom 17. Juli 1956, Slg. Bd. 63 S. 476, BStBl 1956 III S. 379, betreffend Bewertung von Importwaren).

Es wird zuweilen behauptet, die Gerichte müßten wegen des Gleichheitsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG begünstigende Verwaltungsanweisungen beachten. Denn da erfahrungsgemäß die meisten Steuerpflichtigen nach der günstigen Regelung behandelt würden, wäre es unvertretbar, wenn die Gerichte einzelnen Bürgern, die die gleiche günstige Behandlung von der Verwaltung verlangten, ihren Schutz versagten, indem sie sich zur Anwendung und Auslegung von Verwaltungsanweisungen nicht für zuständig erklärten. Es ist zwar unerfreulich, wenn solche Fälle eintreten. Das Ergebnis muß trotzdem in Kauf genommen werden. Denn andernfalls würden die Gerichte versteckt eine mit dem GG unvereinbare Rechtssetzungsbefugnis der Verwaltung anerkennen. Die Gerichte dürfen nicht etwa unter Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG den Grundsatz der Dreiteilung der Staatsgewalt (Art. 20 GG), ein Grundelement des demokratischen Staatsaufbaus, außer Kraft setzen.

Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 ist eine begünstigende Verwaltungsanweisung, die weder in § 33 a des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1955 noch in einer anderen Bestimmung eine ausreichende rechtliche Grundlage hat. Für die Zeit bis zum 31. Dezember 1954 konnte der Senat Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1948 und später als unverändert fortgeltenden Milderungserlaß aus der Zeit vor Inkrafttreten des GG anwenden. Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 kann aber nicht mehr so beurteilt werden. Denn zum 1. Januar 1955 ist mit § 33 a EStG 1955 ein neuer Anfang gemacht und die Rechtskontinuität unterbrochen worden. Diese Vorschrift sieht in Abs. 6 Satz 1 vor, daß für bestimmte körperbeschädigte Personen durch Rechtsverordnung Pauschbeträge wegen außergewöhnlicher Belastungen festgesetzt werden können. Nach Abs. 6 letzter Satz kann die Regelung auch auf andere Gruppen in ähnlichen Fällen ausgedehnt werden.

Die Regelung in Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 kann nicht auf § 33 a Abs. 6 und auch nicht auf § 51 EStG 1955 gestützt werden. Nach der letztgenannten Vorschrift kann die Bundesregierung "zur Durchführung des Gesetzes" Rechtsverordnungen mit näher bestimmtem Inhalt erlassen.

Die Ermächtigungen in § 33 a Abs. 6 und § 51 EStG konnte die Bundesregierung jedenfalls nicht in einer Verwaltungsanweisung in einer von den Steuergerichten zu beachtenden Weise festlegen. Man kann auch nicht Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 weiterhin als fortgeltenden Milderungserlaß ansehen, da, wie gesagt, durch § 33 a Abs. 6 EStG 1955 die Gesetzeslage sich entscheidend geändert hat.

Das Finanzgericht durfte also nach allem die Verwaltungsanweisung in Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 nicht anwenden und auslegen. Es hätte, da der Bg. nicht auf Grund des Gesetzes einen vor den Steuergerichten verfolgbaren Rechtsanspruch auf die Gewährung des Pauschbetrags hatte, nur prüfen können, ob etwa eine Steuerermäßigung aus § 33 EStG (ß 25 LStDV) wegen der durch den Körperschaden verursachten Aufwendungen zu gewähren war. Die Vorentscheidungen werden wegen unrichtiger Anwendung von §§ 33, 33a EStG (§§ 25, 26 LStDV 1955) aufgehoben. Die nicht spruchreife Sache wird an das Finanzamt zurückverwiesen, damit es die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen für die Anwendung des § 33 EStG 1955 (ß 25 LStDV 1955) trifft.

Sollte der Bg., was wahrscheinlich ist, seine Aufwendungen nicht im einzelnen nachweisen können, so würde der Senat es für rechtlich vertretbar halten, wenn unter den obwaltenden besonderen Umständen die zu berücksichtigenden Mehraufwendungen in Höhe des erstrebten Pauschbetrags von 360 DM geschätzt würden (ß 217 der Reichsabgabenordnung).

Der Senat würde es ferner für richtig halten, wenn das Finanzamt dem Bg. etwaige Rechtsmittelkosten aus diesem Verfahren erlassen würde, weil der Bg. davon ausgehen durfte, daß die von der Bundesregierung erlassene Regelung des Abschn. 40 Abs. 1 Ziff. 2 LStR 1955 rechtsgültig war.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408933

BStBl III 1958, 44

BFHE 1958, 111

BFHE 66, 111

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