Leitsatz (amtlich)

Hat ein Steuerpflichtiger bei einer Vielzahl auf Grund fortlaufender Einfuhren der gleichen Ware erlassener Eingangsabgabenbescheide wegen einer Rechtsfrage gegen einen Teil der Bescheide ein Rechtsbehelfsverfahren mit Erfolg durchgeführt und hat die Verwaltung die angefochtenen Bescheide berichtigt, so kann die Berichtigung der nicht angefochtenen Bescheide nicht lediglich deshalb versagt werden, weil insoweit kein Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt worden sei.

 

Normenkette

AO § 94 Abs. 1 Nr. 1, § § 228 ff.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Berichtigung unanfechtbar gewordener Zollbescheide zu Recht abgelehnt worden ist.

Die Klägerin führte fortlaufend Büromaschinen ein. Zwischen ihr und der Zollverwaltung wurde streitig, ob ein von dem Lieferanten gewährtes Skonto zollwertmindernd zu berücksichtigen sei. Die Klägerin führte dieserhalb ein finanzgerichtliches Verfahren beim Finanzgericht (FG), das mit Urteil vom Oktober 1961 entschied, die Preise seien zollwertrechtlich als Zielpreise anzuerkennen. Das Urteil wurde rechtskräftig. Das Hauptzollamt (HZA) berichtigte daraufhin gemäß § 94 AO zunächst 224 als vorläufig ergangene Zollbescheide aus der Zeit vom Januar 1956 bis März 1961. Auf den Einspruch der Klägerin, mit dem diese bemängelte, es seien nicht die sämtlichen in dieser Zeit ergangenen Bescheide berichtigt worden, erließ das HZA nochmals einen Berichtigungsbescheid, in den es noch 46 ergangene Zollbescheide, die ebenfalls als vorläufig erlassen worden waren, einbezog. Dagegen lehnte es das HZA ab, auch noch 56 weitere Zollbescheide aus der Zeit vom 24. Februar 1961 bis 13. November 1961, die nicht als vorläufig ergangen und unanfechtbar geworden waren, zu berichtigen. Es vertrat dabei den Standpunkt, die Klägerin hätte die Möglichkeit gehabt, gegen diese Bescheide Rechtsbehelfe einzulegen; da sie dies verabsäumt habe und die genannten Bescheide unanfechtbar geworden seien, komme eine Berichtigung gemäß § 94 AO nicht mehr in Betracht. Die unter Nichtberücksichtigung des Skontos festgesetzten Eingangsabgaben könnten insoweit nicht erstattet werden.

Einspruch und Berufung blieben ohne Erfolg. Das FG hat ausgeführt im Streitfalle werde die Berichtigung der Steuerbescheide mit Gründen verlangt, die in einem Rechtsbehelfsverfahren gemäß §§ 228 ff. AO hätten vorgebracht werden können. In solchem Falle sei die Ablehnung der begehrten Berichtigung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) – vgl. Urteile VII 104/60 U vom 7. Dezember 1960, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 72 S. 225 (BFH 72, 225), BStBl III 1961, 84, VII 63/61 vom 14. März 1962, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1963 S. 31 (HFR 1963, 31), und VII 155/62 U vom 30. Juni 1964, BFH 80, 44, BStBl III 1964, 490 – nicht ermessensfehlerhaft.

In der als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde rügt die Klägerin Verstoß gegen den Inhalt der Akten und unrichtige Anwendung des geltenden Rechts. Weder die wörtliche noch die sinngerechte Anwendung des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO ließen die von dem FG und dem VII. Senat des BFH gemachte Einschränkung zu. Die Berichtigung sei vielmehr auch bei unanfechtbar gewordenen Bescheiden bis zum Ablauf der Verjährungsfrist zulässig (Hinweis auf Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, Bd. 1, § 94, Anm. 11; Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, 9. Aufl., § 94 Anm. 30). Der Begriff der Rechtskraft werde vom BFH überbewertet; er müsse zurücktreten, wenn die Behörde schnell und summarisch verfahre, wie dies bei Zoll- und Verbrauchsteuerbescheiden der Fall sei. Angesichts der Schwierigkeiten des Wertzollrechts könne der Pflichtige häufig innerhalb der Rechtsbehelfsfrist noch zu keiner abschließenden Beurteilung über die Sachlage und die Aussichten eines Rechtsbehelfs kommen. Die Benachteiligung des Pflichtigen gegenüber der Verwaltung lasse sich nicht damit rechtfertigen, der Pflichtige habe es nur mit einer begrenzten Zahl von Abgabefällen zu tun und könne sich daher – anders als die Verwaltung – innerhalb der Rechtsbehelfsfrist schlüssig werden. Vielmehr verstoße es gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG), dem Pflichtigen die Berichtigung nach § 94 AO zu versagen, die der Verwaltung noch bis zum Ablauf der Verjährungsfrist (§ 223 AO) offenstehe. Die einschränkende Auslegung des § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO sei auch systematisch unvereinbar mit § 224 AO. Denn wenn der Fehler innerhalb der Verjährungsfrist bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde aufgedeckt worden wäre, hätte – trotz inzwischen eingetretener Rechtskraft – dennoch berichtigt werden müssen.

Aber selbst bei Anwendung der vom BFH zu § 94 AO entwickelten Grundsätze liege ein Ermessensfehlgebrauch der Verwaltung vor. Als die Verwaltung es abgelehnt habe, das Skonto zollwertmindernd zu berücksichtigen, habe die Klägerin gegen zwei, für eine Vielzahl von Abfertigungen dieserhalb erlassene Nachforderungsbescheide ein Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt. Es sei ihr – auch wegen der Kosten – nicht zuzumuten gewesen, daneben noch jeden der nahezu täglich eingehenden Zollbescheide anzufechten. Dies um so mehr, als der dortigen Zollverwaltung das schwebende Rechtsbehelfsverfahren und der Streitgegenstand genau bekannt gewesen seien. Aus diesem Grunde hätte die Zollverwaltung für sämtliche, die gleiche Rechtsfrage berührenden Abfertigungen nur vorläufige Bescheide gemäß § 100 Abs. 1 AO, nicht aber endgültige erlassen dürfen. Dies habe das FG, das sich insoweit mit den Ausführungen in der Berufungsbegründung unter Verstoß gegen den Akteninhalt nicht auseinandergesetzt habe, verkannt.

Die Klägerin beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und zu erkennen, daß die in der Zeit vom 24. Februar 1961 bis zum 13. November 1961 ergangenen Abfertigungsbescheide unter zollwertmindernder Berücksichtigung des Skontoabzugs zugunsten der Rechtsbeschwerdeführer in zu berichtigen sind.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet.

Die Entscheidung über Berichtigungsanträge nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO liegt im Ermessen der Verwaltungsbehörden, das von den Steuergerichten nach der Rechtsprechung des Senate (Urteil VII 245/63 U vom 29. September 1964, BFH 80, 492, BStBl III 1964, 651 ff.) nur daraufhin geprüft werden kann, ob die der Ermessensausübung gesetzten Grenzen eingehalten sind oder ein Ermessensfehlgebrauch erkennbar ist. Die Vorinstanz hält die Ablehnung des Berichtigungsbegehrens im Streitfall für nicht ermessensfehlerhaft und damit im Ergebnis für zutreffend, weil gegen die 56 Bescheide, um deren Berichtigung es hier geht, kein Rechtsbehelf eingelegt worden ist und diese Bescheide dadurch unanfechtbar geworden sind.

Diese Auffassung der Vorinstanz trifft zwar insofern zu, als nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (Urteile VII 245/63 U vom 29. September 1964, a. a. O., VII 155/62 U vom 30. Juni 1964, BFH 80, 44, BStBl III 1964, 490) die Ablehnung von Änderungsanträgen nach § 94 AO in der Regel dann nicht als ermessensfehlerhaft anzusehen ist, wenn der Steuerpflichtige in der Lage war, seine Rechte in dem vom Gesetz (§§ 228 ff. AO) dafür bestimmten Rechtsbehelfsverfahren geltend zu machen. Dabei war für den Senat insbesondere die Erwägung ausschlaggebend, daß die Vorschrift des § 94 AO dem Steuerpflichtigen keine Vorteile bieten will, die er auf dem Weg des Rechtsbehelfsverfahrens nicht oder nicht mehr erreichen kann.

Die von dem Senat in ständiger Rechtsprechung vertretene Auffassung enthält jedoch einen Grundsatz, der als solcher den Regelfall im Auge hat und es daher, wie in dem Urteil VII 155/62 U, a. a. O., ausgeführt ist, nicht ausschließt, daß u. U. „in besonderen Fällen” die Ablehnung der Berichtigung auch bei unanfechtbar gewordenen Bescheiden einen Ermessensfehlgebrauch darstellen kann. Demnach ist es Sache der Verwaltung, den Besonderheiten des Einzelfalles in der gebotenen Weise Rechnung zu tragen. Bei der steuergerichtlichen Nachprüfung der Ermessensentscheidungen der Verwaltung ist daher auch zu prüfen, ob die besonderen Umstände des Falles gegenüber den auf den Regelfall abgestellten Gründen ausreichend berücksichtigt wurden.

Das besondere Merkmal des Streitfalles liegt zunächst darin, daß die streitigen 56 Bescheide innerhalb der relativ kurzen Zeit von rund 10 Monaten erlassen worden sind, wobei durchweg die gleiche Ware eingeführt und zum freien Verkehr abgefertigt worden ist. Hinzu kommt, daß dieselbe Warenart vor Einsetzen dieser Abfertigungen seit Januar 1956 bereits in 270 Fällen eingeführt und abgefertigt worden ist. Es handelt sich also um einen Gesamtkomplex von insgesamt 326 Einfuhren und Abfertigungen zum freien Verkehr, die die gleiche Ware zum Gegenstand haben. Die Streitfrage, ob das Skonto zollwertmindernd zu berücksichtigen war, betrifft aber – und zwar in gleicher Weise – die sämtlichen erlassenen Zollbescheide, sie erfaßt also einheitlich den gesamten Komplex von 326 Abfertigungen. Unterscheidet sich die Sachlage also schon durch die Vielzahl der fortlaufend getätigten Einfuhren und im Anschluß daran erlassenen Bescheide wesentlich vom Regelfall, in dem ein Zollbescheid erlassen und nach eingetretener Unanfechtbarkeit berichtigt werden soll so kommt noch hinzu, daß wegen der einheitlichen materiellen Streitfrage (der zollwertrechtlichen Auswirkungen des Skontos) hier ein Rechtsbehelfsverfahren gegen eine Anzahl von Bescheiden tatsächlich – und zwar mit Erfolg – durchgeführt worden ist. Damit entfällt der für den Grundsatz im Regelfall von dem Senat als entscheidend herausgestellte Gesichtspunkt, daß die Berichtigung grundsätzlich nicht mit Gründen verlangt werden kann, die in einem Rechtsbehelfsverfahren hätten vorgebracht werden können oder – anders ausgedrückt –, daß § 94 AO dem Steuerpflichtigen keine Vorteile bieten will, die er in einem Rechtsbehelfsverfahren nicht oder nicht mehr erreichen kann. Denn ein Rechtsbehelfsverfahren hat hier tatsächlich stattgefunden. Daß es nicht wegen der hier streitigen, sondern wegen der zeitlich vorangegangenen Bescheide durchgeführt worden ist, kann demgegenüber nicht maßgeblich sein. Denn die materielle Streitfrage (der Berücksichtigung des Skontos als zollwertmindernd) war und ist bei sämtlichen Bescheiden die gleiche. Ist aber bei einer Vielzahl nacheinander erlassener Bescheide wegen einer sich auf alle Bescheide gleichermaßen auswirkenden Streitfrage gegen einen Teil derselben ein Rechtsbehelfsverfahren mit Erfolg durchgeführt worden, so erscheint es nicht vereinbar mit Recht und Billigkeit und daher ermessensfehlerhaft, die Berichtigung der nicht angefochtenen Bescheide nur um deswillen zu versagen, weil gegen diese kein Rechtsbehelfsverfahren durchgeführt worden sei. Dies würde – worin der Revision zuzustimmen ist – darauf hinauslaufen, daß der Steuerpflichtige jeden der während und möglicherweise auch noch nach Abschluß des Rechtsbehelfsverfahrens erlassenen Bescheide nur und ausschließlich zum Zwecke der Vermeidung ihrer Unanfechtbarkeit gesondert anfechten müßte. Eine derartige Kumulierung von Rechtsbehelfen bei Identität des Streitgegenstandes, die praktisch dazu führt, daß die Anfechtung zum Selbstzweck wird, hat keine Beziehung zu Sinn und Zweck des von dem Senat für den Normalfall aufgestellten Grundsatzes. Denn mit diesem soll, wie bereits angeführt in erster Linie verhindert werden, daß der Steuerpflichtige die Berichtigung durch Inanspruchnahme des § 94 AO erreicht, ohne den gesetzlich vorgesehenen und ihm im Einzelfall möglichen Weg des Rechtsbehelfs beschritten zu haben. Es soll weiter vermieden werden, daß die Verwaltung einer Flut von Änderungs- und Berichtigungsanträgen von seiten solcher Steuerpflichtigen ausgesetzt wird, die es verabsäumt haben, die nachträglich vorgebrachten Gründe im Rechtsbehelfsverfahren klären zu lassen. Da im Streitfall auf Grund des Urteils des FG ohnehin 270 Bescheide berichtigt worden sind, scheidet auch dieser Gesichtspunkt hier aus.

Der Senat kommt demnach zu dem Ergebnis, daß die Vorinstanz nicht ohne Rechtsirrtum die eine Berichtigung ablehnende Entscheidung der Verwaltung für ermessensfehlerfrei angesehen hat. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Da aus den obengenannten Gründen die Ermessensentscheidung der Verwaltung nur auf Berichtigung der in der Zeit vom 24. Februar 1961 bis 13. November 1961 erlassenen 56 Zollbescheide lauten durfte, waren auch die Einspruchsentscheidung des HZA und der Bescheid des Zollamts, mit dem die Berichtigung abgelehnt wurde, aufzuheben und war die Verwaltung zu verpflichten, die genannten Bescheide unter Anerkennung des Skontos als zollwertmindernd zu berichtigen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 600714

BFHE 1969, 306

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