Entscheidungsstichwort (Thema)

Sonstiges Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine nicht auf Grund einer mündlichen Verhandlung getroffene und noch nicht bekanntgegebene Entscheidung kann zurückgenommen oder geändert werden, auch wenn sich inzwischen die Besetzung des Gerichts geändert hat (§ 92 Abs. 1 AO). Gesetzlicher Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ist das Gericht in der geschäftsplanmäßigen Besetzung im Zeitpunkt der endgültigen Beschlußfassung.

 

Normenkette

GG Art. 101 Abs. 1 S. 2; AO § 92 Abs. 1; FGO § 104

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die bei der übertragung eines Gewerbebetriebs dem bisherigen Alleininhaber eingeräumte Rente betrieblicher oder privater Natur ist.

 

Entscheidungsgründe

-- I. --

Der erkennende Senat hatte bereits in der Sitzung vom 5. September 1963 in der vorliegenden Sache ein Urteil beschlossen, das von den mitwirkenden Mitgliedern des Senats unterzeichnet worden war. Vor der Bekanntgabe wurden die Entscheidungen des VI. Senats des Bundesfinanzhofs VI 53/61 U vom 11. Oktober 1963 (BStBl 1963 III S 594) und VI 59/62 U vom 11. Oktober 1963 (BStBl 1963 III S. 594) veröffentlicht. Da die dort entschiedenen Rechtsfragen für die Beurteilung des vorliegenden Falles von Bedeutung waren, beantragte ein Mitglied des Senats erneute Beratung, um den Erlaß widersprechender Entscheidungen zu vermeiden. Der Senat trat daraufhin in anderer geschäftsplanmäßiger Besetzung erneut in die Beratung ein. Er beschloß das vorliegende Urteil (das in seinem sachlichen Teil von der zuerst beschlossenen Entscheidung abweicht).

-- II. -- Der Senat war zur Aufhebung der in anderer Besetzung zunächst beschlossenen Entscheidung berechtigt.

Nach § 92 Abs. 1 AO können Verfügungen im Sinne des § 91 AO bis zu ihrer Bekanntgabe zurückgenommen, geändert oder durch andere Verfügungen ersetzt werden. Zu den Verfügungen im Sinne dieser Vorschrift gehören auch die Entscheidungen der Steuergerichte. Eine Entscheidung wird durch ihre Bekanntgabe wirksam, d. h. dadurch, daß sie demjenigen zugeht, für den sie ihrem Inhalt nach bestimmt ist (§ 91 Abs. 1 Satz 1 AO). Entscheidungen, die auf Grund einer mündlichen Verhandlung verkündet werden, können nach ihrer Verkündung nicht mehr zurückgenommen oder geändert werden (§ 92 Abs. 2 AO).

Bis zur Verkündung oder Bekanntgabe bildet die Entscheidung eine innere Angelegenheit des Gerichts, einen Entscheidungsentwurf. Nach der für das Zivilprozeßrecht geltenden Lehre und Praxis ist sie ein Nichturteil, als Entscheidung noch nicht existent und für das Gericht nicht bindend (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., S. 252, 338, mit Rechtsprechungsnachweisen; Baumbach-Lauterbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, Anm. 1 zu § 310). Das trifft auch auf steuergerichtliche Entscheidungen zu. Im steuergerichtlichen Verfahren hat allerdings die Unterzeichnung der Entscheidung insofern eine gewisse Bedeutung, als der Rechtsmittelführer von diesem Zeitpunkt ab das Rechtsmittel nicht mehr zurücknehmen (§ 253 AO) oder Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung (§ 294 AO) stellen kann (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs I 94/56 U vom 27. November 1956, BStBl 1957 III S. 30, Slg. Bd. 64 S. 80). Diese Bestimmungen dienen aber nur der Abgrenzung von Verfahrensabschnitten; sie verleihen der Entscheidung selbst keine darüber hinausgehende sachliche Bedeutung. Eine Bindung des Gerichts an seine Entscheidung tritt trotzdem erst mit der Bekanntgabe ein.

Das Recht, eine ohne mündliche Verhandlung beschlossene und noch nicht bekanntgegebene, daher nicht bindende Entscheidung zurückzunehmen oder zu ändern, steht dem Gericht (der Kammer oder dem Senat) auch dann zu, wenn die Besetzung des Spruchkörpers sich inzwischen dadurch verändert hat, daß ein Richter aus dem Amt oder aus dem Kollegium ausgeschieden oder an der Mitwirkung durch Krankheit oder Urlaub verhindert ist. Die Kontinuität eines Senats wird auch sonst durch Richterwechsel nicht berührt (vgl. Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen in der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 295 ff.).

Die vorstehende Auslegung des § 92 AO ist durch den Wortlaut der Vorschrift gedeckt. Es bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Die hier in Betracht kommende Verfassungsnorm (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes - GG -), daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf, wird durch diese Auslegung nicht verletzt.

Unter dem gesetzlichen Richter sind der Richter und das Gericht zu verstehen, deren Zuständigkeit durch Gesetz oder durch Bestimmungen geregelt ist, denen, obwohl sie formell kein Gesetz sind, normativer Charakter beizumessen ist (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 6 S. 45/50 ff.); Bd. 9 S. 223 (226); Bd. 10 S. 200 (213); Bettermann in Bettermann-Nipperdey- Scheuner, Die Grundrechte, Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Dritter Band, 2. Halbband S. 561 mit weiteren Nachweisen). "Sein" gesetzlicher Richter, dem niemand entzogen werden darf, ist hiernach der Richter, der nach der Rechtsordnung einschließlich der Geschäftsverteilung für ihn und seinen Prozeß oder Fall zuständig ist. Die Zuständigkeit muß möglichst so eindeutig bestimmt sein, daß die Richter im voraus feststehen und jeder "seinen" Richter im voraus mit Sicherheit erkennen kann (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 2 S. 307 (320); Bd. 6 S. 45 (51); Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bd. 8 S. 240 ff). Daher betrifft die im Wege der Selbstverwaltung der Gerichte vorgenommene Verteilung der Geschäfte und der Richter auf die einzelnen Spruchkörper die Frage des gesetzlichen Richters (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4 S. 412 (416); Bettermann, a. a. O. S. 549 ff., 556). Wer im einzelnen Fall gesetzlicher Richter ist, bestimmt sich, wenn das Gericht feststeht, nach der Geschäftsverteilung (vgl. Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Bd. 61 S. 423 (425 ff.); Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, S. 238, Rdnr. 439). Der Geschäftsverteilungsplan dient u. a. dem Zweck, ungesetzliche Zuständigkeitsveränderungen innerhalb eines Gerichts, von einem Richter zum anderen, die Richtervertauschung oder Richterauswechselung zu verhindern. Jedoch verlangt Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht, daß unter allen Umständen von vornherein feststeht, wer in einem bestimmten Fall Richter sein wird (vgl. Kern, Gerichtsverfassungsrecht, 3. Aufl., S. 151).

Diese überlegungen zeigen, daß das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters in aller Regel nicht verletzt sein kann, wenn das Gericht in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung entscheidet. Eine Verletzung kommt aber dann in Betracht, wenn im Ausnahmefall durch das Mittel geschäftsplanmäßiger Zuständigkeit eines ausgewechselten Richters subjektive, nicht sachgerechte Einflüsse zur Geltung gebracht werden sollen. Der Grundgedanke des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG fordert, daß die Zuständigkeitsregelung unter justizmäßigen Gesichtspunkten generalisiert wird, um sachfremden Einflüssen auf das Verfahren vorzubeugen (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4 S. 412 (416 ff.); Bd. 9 S. 223 (227 ff.)). Der gesamte Art. 101 GG will eine Gerichtsentscheidung nach Willkür verbieten und verhüten (Bettermann, a. a. O. S. 556, 565). Daher kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch die Annahme oder Ablehnung der Zuständigkeit für ein bestimmtes Verfahren Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt sein, wenn solche gerichtlichen Entscheidungen willkürlich sind (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 3 S. 359 (364 ff.); Bd. 4 S. 412 (416 ff.); Bd. 7 S. 327 (329); Bd. 9 S. 223 (230); Bd. 11 S. 1 (6); Bd. 11 S. 263 ff.).

Diese Grundsätze, die vor allem für die Annahme einer nicht gegebenen oder die Ablehnung einer gegebenen Zuständigkeit im Verhältnis mehrerer Gerichte zueinander entwickelt wurden, gelten auch für die Zuständigkeit eines Spruchkörpers innerhalb eines Gerichts. Sie müssen sinngemäß angewendet werden auf die Frage, ob ein Spruchkörper, der in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung entscheidet, dadurch das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters verletzen kann. Das kann nur bejaht werden, wenn die Entscheidung willkürlich ist (vgl. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 4 S. 413, (417 ff.); Kern, Der gesetzliche Richter, in öffentlich-rechtliche Abhandlungen 8. Heft, 1927, S. 189; ders., Gerichtsverfassungsrecht, S. 153).

Das in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltene Willkürverbot ist nicht verletzt, wenn die Entscheidung auf sachlichen Erwägungen beruht. Das ist immer dann der Fall, wenn ein vernünftiger Zweifel an der Richtigkeit der gefällten Entscheidung zu der erneuten Beratung und Abstimmung führt. Den Anlaß kann auch eine nachträglich bekanntgewordene höchstrichterliche Entscheidung bilden. Die sich hiernach aus sachlichen Gründen als notwendig erweisende erneute Entscheidung kann nicht deshalb unterlassen werden, weil an ihr nunmehr geschäftsplanmäßig zum Teil andere Richter mitwirken.

Eine gesetzliche Vorschrift, ihre Auslegungen oder ihre Handhabung verstößt nicht schon deshalb gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters, weil die Möglichkeit von Willkür im Einzelfall nicht völlig ausgeschlossen ist. Das ergibt sich daraus, daß eine Reihe praktisch wichtiger Vorschriften von der herrschenden Meinung im Grundsatz für verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen werden, obgleich sie subjektive, nicht sachgerechte Einflußnahme ermöglichen. Dazu gehören die Vorschriften, nach denen die Vorsitzenden der Kollegialgerichte die Geschäfte auf die Mitglieder verteilen (§ 62 AO, vgl. auch § 69 des Gerichtsverfassungsgesetzes, § 8 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -) oder die im Falle der überbesetzung des Kollegiums den Vorsitzenden ermächtigen, die im Einzelfall mitwirkenden Richter zu bestimmen (vgl. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bd. 20 S. 355 ff.). Auch in der Befugnis zur Anberaumung oder Absetzung von Terminen in Verbindung mit der Geschäfts- und Richterverteilung innerhalb des Kollegiums liegen Möglichkeiten, gegen den Sinn des verfassungsrechtlichen Grundsatzes zu verstoßen (vgl. Kern, Der gesetzliche Richter, a. a. O. S. 189; ders., Gerichtsverfassungsrecht, S. 152). Andererseits wirkt einer sachfremden Anwendung des sich aus § 92 Abs. 1 AO ergebenden Rechtes, eine von dem Kollegium in anderer Besetzung beschlossene Entscheidung aufzuheben, der Umstand entgegen, daß auch die erneute Entscheidung nur mit Stimmenmehrheit gefällt werden kann (§ 52 Abs. 3 AO).

Eine unzulässige Richterentziehung kann auch nicht damit begründet werden, daß durch die von dem Senat in anderer Besetzung endgültig getroffene Entscheidung in die rechtlich geschützte Position eines Richters eingegriffen werde. Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, daß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht nur dem Bürger, sondern auch dem Richter Verfassungsschutz gewähre und auch diesem die gesetzliche Zuständigkeitsordnung garantiere. Jeder Richter habe Anspruch auf seinen Fall, wenn auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG insoweit kein Grundrecht im Sinne eines subjektiv öffentlichen Rechtes, sondern nur eine institutionelle Garantie gewähre und ein Gerichtsverfassungsprinzip beinhalte (Bettermann, a. a. O., S. 557). Es kann hier dahingestellt bleiben, inwieweit diese Rechtsauffassung zutrifft; denn aus denselben Gründen, die das Vorliegen der Verletzung eines Grundrechtes des Staatsbürgers ausschließen, kann auch bei einem Richter, der früher mitgewirkt hatte, von einer Verletzung einer institutionellen Garantie nicht gesprochen werden. Hinzu kommt, daß eine institutionelle Garantie ihrem Wesen nach eine schwächere rechtliche Wirkung entfaltet als ein Grundrecht (vgl. Maunz-Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Rdnr. 97 ff. zu Art. 1). Auch als Gerichtsverfassungsprinzip zwingt sie nicht dazu, die Vorschrift des § 92 Abs. 1 AO eng auszulegen. Denn ein Richter, der bei der Entscheidung zunächst mitgewirkt hatte, kann einen Anspruch auf weitere Mitwirkung und Teilnahme bei der letzten Beschlußfassung nicht deshalb erheben, weil er einmal mit der Sache befaßt gewesen war. Einen solchen Anspruch müßte dann auch ein Richter haben, der nur an einer Beratung teilgenommen hat. Das ist nicht der Fall. Die Anerkennung eines solchen Anspruches würde besonders bei einem Kollegialgericht zu einer weitgehenden Lahmlegung seiner Tätigkeit führen. Das Gericht ist deshalb grundsätzlich berechtigt, über einen entscheidungsreifen Fall in der nach dem Geschäftsverteilungsplan sich ergebenden Besetzung zu entscheiden, ohne darauf Rücksicht nehmen zu müssen, welche Richter zur Zeit mitwirken.

Eine Einschränkung dieses Grundsatzes enthält § 279 Abs. 2 AO. Diese Vorschrift entspricht einem allgemeinen verfahrensrechtlichen Gedanken. Danach kann eine Entscheidung, die auf Grund mündlicher Verhandlung ergeht, nur von den Richtern erlassen werden, die an der mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. Diese Vorschrift beruht nicht auf der Garantie des gesetzlichen Richters; sie ergibt sich aus dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Verhandlung (vgl. Rosenberg, a. a. O. S. 301 ff.). Für eine sinngemäße Anwendung im Verfahren ohne mündliche Verhandlung ist kein Raum (vgl. Entscheidungen des Bundesgerichtshof in Zivilsachen Bd. 11 S. 27, (30)). Dasselbe gilt für Vorschriften in anderen Prozeßordnungen, nach denen der Tatbestand eines bekanntgegebenen Urteils nachträglich nur von den Richtern berichtigt werden darf, die die Entscheidung erlassen haben (vgl. § 320 der Zivilprozeßordnung, §§ 119 Abs. 2, 173 VwGO).

Der Senat kommt somit zu dem Ergebnis, daß eine Sache, in der er in anderer Besetzung ohne mündliche Verhandlung bereits eine Entscheidung beschlossen, aber noch nicht bekanntgegeben hat, grundsätzlich zum Gegenstand erneuter Beratung und Abstimmung gemacht werden kann. Einer Zustimmung der Richter, die bei der ersten Beschlußfassung mitgewirkt haben, bedarf es nicht. Der Senat ist vorschriftsmäßig besetzt, wenn bei der erneuten Entscheidung die nunmehr geschäftsplanmäßig zuständigen Richter mitwirken. Der abweichenden Ansicht von Wennrich (Deutsche Steuer-Zeitung, Ausgabe A 1955 S. 149) stimmt der Senat nicht zu.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411155

BStBl III 1964, 338

BFHE 1964, 294

BFHE 79, 294

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