Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorweggenommene Würdigung eines nicht erhobenen Beweismittels ist Verfahrensverstoß

 

Leitsatz (NV)

Nach § 76 Abs. 1 FGO hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und dabei die erforderlichen Beweise (§ 81 Abs. 1 Satz 2 FGO) zu erheben. Mit diesem Gebot der Sachverhaltsaufklärung ist es nicht vereinbar, daß das FG die Beteiligtenvernehmung zwar als Mittel der Glaubhaftmachung in Erwägung gezogen, der Aussage der Beteiligten aber von vornherein jeglichen Beweiswert abgesprochen hat. Die darin liegende vorweggenommene Würdigung der unterlassenen Beteiligtenvernehmung stellt einen Verfahrensverstoß dar (Anschluß an BFH-Urteile vom 6. Februar 1985 II R 12/84, BFH/NV 1985, 41, und vom 9. Juli 1985 IX R 53/80, BFH/NV 1986, 217 m.w.N.).

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1, § 81 Abs. 1 S. 2, § 115 Abs. 2 Nr. 3

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die im Streitjahr 1986 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden. Der Kläger betreibt einen Gewerbebetrieb. Im Rahmen einer Außenprüfung stellte der Prüfer fest, daß der Kläger am 30. Juli 1986 eine Bareinlage in Höhe von 30000 DM gebucht hatte. Das Geld sollte nach seinen Angben aus einem am 15. November 1983 vom privaten Sparbuch abgehobenen Betrag von 50000 DM stammen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erkannte die Einlage nicht an, weil in der Vermögensteuererklärung zum 1. Januar 1986 nur ein Geldbestand von 10000 DM angegeben war und nach einer Geldverkehrsrechnung die Einlage nicht aus Bargeld des Privatbereichs stammen konnte. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Es führt im wesentlichen aus, die Herkunft der streitigen Einlage aus privaten Mitteln der Kläger sei nicht beweisbar. Nachgewiesen sei lediglich die Abhebung von 50000 DM vom privaten Sparbuch des Klägers am 15. November 1983 und dessen psychische Erkrankung ab August 1980 bis August 1985. Zwar sei auch im Grundsatz noch einigermaßen verständlich, daß der Ehegatte eines unter Depressionen leidenden Erkrankten von dessen Sparbuch Gelder abhebe, entweder um sich selbst finanziell zu sichern, oder auch, um sie dem Zugriff des Erkrankten zu entziehen. Nicht plausibel sei indessen, daß die Klägerin sich erst im November 1983 so verhalten habe, obgleich der Kläger schon 1980 erkrankt gewesen sei. Abgesehen davon erklärten die vorgebrachten Motive für die Abhebung nicht, daß die Klägerin den Betrag von 50000 DM zu Hause aufbewahrt und teilweise verbraucht haben wolle, statt sie zinsbringend auf ein eigenes Sparkonto einzuzahlen und bei Bedarf Abhebungen zu tätigen. Es falle auch die fehlende Angabe eines so hohen Bestandes an Bargeld in der Vermögensteuererklärung zum 1. Januar 1986 ins Gewicht. Wesentlich sei jedoch, daß der Nachweis der Identität der abgehobenen und eingelegten Gelder nicht geführt sei. Auch eine Glaubhaftmachung sei nicht gegeben. Hierfür existiere lediglich die Behauptung der Kläger, die in den Augen des Senats als Nachweis aber auch dann nicht ausreiche, wenn sie die Kläger im Rahmen einer Beteiligtenvernehmung wiederholt und beeidigt hätten.

Auf die Beschwerde der Kläger hat der Senat die Revision zugelassen. Der Beschluß wurde dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger am 12. März 1992 zugestellt. Eine Revisionsschrift bzw. Revisionsbegründungsschrift gingen innerhalb der entsprechenden Fristen nicht beim FG ein. Mit Schriftsatz vom 8. Juli 1992 wies das FA den Prozeßbevollmächtigten darauf hin, daß mangels Revisionseinlegung die Voraussetzungen der Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide geendet hätten. Am 16. Juli 1992 ging beim FG ein Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten ein, dem ein an das FG gerichteter Schriftsatz, der das Datum 7. April 1992 trägt, mit Revision und Revisionsbegründung beigefügt war. Der Prozeßbevollmächtigte bat um Nachprüfung der Angelegenheit.

Er beantragte vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und legte Revision gegen das Urteil ein. Er selbst habe die Revisionsschrift und Revisionsbegründung am 7. April 1992 unterzeichnet, kuvertiert und in einem frankierten Umschlag in den Briefkasten bei der Post an seinem Wohnsitz eingeworfen. Der Prozeßbevollmächtigte versicherte dies an Eides Statt.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung des § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO):

 

Entscheidungsgründe

1. Die Revision ist zulässig.

Revision und Revisionsbegründung sind zwar nicht innerhalb der Fristen des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO bei Gericht eingegangen. Die Revisionsfrist endete am Montag, dem 13. April 1992, die Revisionsbegründungsfrist am 13. Mai 1992 (§ 54 Abs. 1 und 2 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und 2 der Zivilprozeßordnung - ZPO -, § 188 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Die Revisionsschrift mit der Begründung ging erst am 16. Juli 1992 beim FG ein. Den Klägern ist aber antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Ihr Prozeßbevollmächtigter hat glaubhaft gemacht, daß ihn an der Fristversäumnis kein Verschulden trifft (§ 56 Abs. 1 FGO). Er hat den Antrag auf Wiedereinsetzung innerhalb der Zwei-Wochen-Frist des § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO gestellt. Das Hindernis im Sinne dieser Vorschrift war mit Erhalt des Schriftsatzes des FA vom 8. Juli 1992 weggefallen; denn von diesem Zeitpunkt an mußte der Prozeßbevollmächtigte davon ausgehen, daß beim FG eine Revision und Revisionsbegründung nicht vorlagen.

Der Prozeßbevollmächtigte hat die versäumte Rechtshandlung nachgeholt und glaubhaft dargelegt, daß er den Schriftsatz vom 7. April 1992 mit der Revision und Revisionsbegründung selbst unterschrieben, kuvertiert und in den Briefkasten geworfen hat (§ 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 FGO). Unter Berücksichtigung der normalen Postlaufzeiten konnte er damit rechnen, daß der Schriftsatz bis zum Ablauf der Revisionsfrist am 13. April 1992 beim FG eingehen würde.

2. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Das FG hat die ihm obliegende Ermittlungspflicht dadurch verletzt, daß es die Würdigung nicht erhobener Beweise vorweggenommen hat.

Die Rüge der Kläger, das FG habe es unterlassen, sie zur Glaubhaftmachung der Identität der abgehobenen und eingelegten Gelder zu vernehmen und dadurch ein unrichtiges Urteil gefällt, weil es aufgrund des persönlichen Eindrucks sicherlich zu einer anderen Beurteilung gekommen wäre, genügt den Anforderungen des § 120 Abs. 2 FGO. Da sich die den geltend gemachten Verfahrensverstoß begründenden Tatsachen aus dem angefochtenen Urteil selbst ergeben, bedurfte es keiner Darlegung, ob die Kläger einen entsprechenden Beweisantrag gestellt hatten bzw. ob sich dem FG die Beteiligtenvernehmung hätte aufdrängen müssen; ebenso waren Ausführungen zur Frage des Verlustes des Rügerechts (§ 155 FGO i.V.m. § 295 Abs. 1 ZPO) entbehrlich (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Februar 1985 VII R 137/81, BFH/NV 1986, 136 unter 3.).

Die Rüge der mangelnden Sachaufklärung ist auch begründet.

Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Nach § 76 Abs. 1 FGO hat es den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen und dabei die erforderlichen Beweise (§ 81 Abs. 1 Satz 2 FGO) zu erheben. Mit diesem Gebot der Sachverhaltsaufklärung ist es nicht vereinbar, daß das FG die Beteiligtenvernehmung zwar als Mittel der Glaubhaftmachung in Erwägung gezogen, der Aussage der Beteiligten aber von vornherein jeglichen Beweiswert abgesprochen hat. Die darin liegende vorweggenommene Würdigung der unterlassenen Beteiligtenvernehmung stellt einen Verfahrensverstoß dar (vgl. BFH-Urteile vom 6. Februar 1985 II R 12/84, BFH/NV 1985, 41, und vom 9. Juli 1985 IX R 53/80, BFH/NV 1986, 217 m.w.N.). Auf diesem beruht die angefochtene Entscheidung. Denn die Möglichkeit, daß das FG ohne den Fehler anders entschieden hätte. läßt sich nicht ausschließen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418974

BFH/NV 1993, 671

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