Leitsatz (amtlich)

1. Die vom VI.Senat des BFH im Urteil vom 18.September 1981 VI R 44/77 (BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801) vertretene Auffassung gilt für die Haftungsinanspruchnahme gemäß § 50a Abs.5 EStG entsprechend.

2. Muß ein gegen den Steuerschuldner zu richtender Nachforderungsbescheid im Ausland vollstreckt werden, so rechtfertigt dieser Umstand im Rahmen der Ermessensausübung die Inanspruchnahme eines inländischen Haftungsschuldners, ohne daß dies einer weiteren Begründung bedarf (Anschluß an BFH-Urteil vom 22* .Oktober 1986 I R 261/82, BFHE 148, 143, BStBl II 1987, 171).

 

Orientierungssatz

Ein inländischer Vergütungsschuldner (Haftungsschuldner) kann sich auf die Steuerbefreiung des Art. 12 Abs. 1 DBA-Schweiz nur dann berufen, wenn und soweit der Vergütungsgläubiger einen Antrag auf Freistellung gestellt hat (vgl. BFH-Urteil vom 22.10.1986 I R 261/82).

 

Normenkette

AO 1977 § 121 Abs. 2 Nr. 2; EStG § 49 Abs. 1 Nr. 9, § 50a Abs. 4-5; DBA CHE Art. 12 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1; EStDV § 73h

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine Kapitalgesellschaft mit Sitz und Geschäftsleitung in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik). Sie beauftragte eine in der Schweiz ansässige Aktiengesellschaft (schweizerische AG) damit, in verschiedenen Unternehmensbereichen der Klägerin Untersuchungen durchzuführen mit dem Ziel, Mängel aufzudecken, Verbesserungsvorschläge zu machen und bei der Realisierung der Verbesserungsvorschläge mitzuwirken. Auf Grund dieses Auftrages waren in den Streitjahren 1974 bis 1976 zehn bis zwanzig freie Mitarbeiter der schweizerischen AG bei der Klägerin tätig.

Die schweizerische AG erarbeitete für die Klägerin insbesondere EDV-Programme, die die von der Klägerin zuvor eingesetzten ablösten. Die Klägerin sah in den an die schweizerische AG gezahlten Vergütungen keine inländischen Einkünfte i.S. des § 49 des Einkommensteuergesetzes (EStG), weil sie die Tätigkeit der schweizerischen AG als eine allgemeine Beratungstätigkeit ansah. Eine Körperschaftsteuer gemäß § 6 Abs.1 Satz 1 des Körperschaftsteuergesetzes i.d.F. vom 13.Oktober 1969 --KStG 1968-- (BGBl I 1969, 1869, BStBl I 1969, 633) i.V.m. § 50a Abs.4 Satz 1 Buchst.b EStG i.d.F. des Zweiten Steueränderungsgesetzes 1973 vom 18.Juli 1974 --2.StÄndG 1973-- (BGBl I 1974, 1489, BStBl I 1974, 521) behielt sie von den gezahlten Vergütungen nicht ein.

Nach einer Betriebsprüfung vertrat der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Auffassung, daß die Vergütungen teilweise für die Überlassung von know-how gezahlt worden seien. Es handele sich deshalb um inländische Einkünfte der schweizerischen AG i.S. des § 49 Abs.1 Nr.9 EStG, für die die Klägerin Körperschaftsteuer hätte einbehalten müssen. Als Überlassung von know-how behandelte das FA insbesondere die Entwicklung eines Auftragsbearbeitungssystems und eines Kostenstellenrechnungssystems. Dabei handelt es sich um folgendes: Zur Bearbeitung der Kundenaufträge und ihrer Abwicklung hatte die Klägerin ein eigenes EDV-Programm installiert. Die schweizerische AG überarbeitete das Programm und machte anschließend Verbesserungsvorschläge, die auch realisiert wurden. Dabei veräußerte die schweizerische AG der Klägerin das Software-Paket M, das sie auch programmierte.

Das FA erließ am 6.Juni 1979 gegenüber der Klägerin einen Haftungsbescheid wegen "Einkommensteuer 1974 bis 1976 und Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer 1974" in Höhe von 412 475,85 DM. Zur Begründung verwies es lediglich auf die Feststellungen im Betriebsprüfungsbericht. Über den Einspruch der Klägerin entschied das FA zunächst nicht. Deshalb erhob die Klägerin bereits vor Erlaß der Einspruchsentscheidung Untätigkeitsklage gemäß § 46 Abs.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Die Einspruchsentscheidung erging nach Klageerhebung am 26.Februar 1980. In der Einspruchsentscheidung wurde die Klägerin wegen Körperschaftsteuer 1974 bis 1976 und Ergänzungsabgabe 1974 bis 1976 als Haftende in Anspruch genommen. Das Finanzgericht (FG) hob den Haftungsbescheid vom 6.Juni 1979 und die Einspruchsentscheidung vom 26.Februar 1980 durch Urteil vom 27.November 1984 auf, weil das FA seine Ermessenserwägungen bei der Haftungsinanspruchnahme der Klägerin weder im Haftungsbescheid noch in der Einspruchsentscheidung dargelegt habe.

Gegen das Urteil des FG legte das FA am 13.März 1985 Revision ein. Es rügt die Verletzung von Verfahrensrecht und von materiellem Recht.

Das FA beantragt, das Urteil des FG Nürnberg vom 27.November 1984 I (VI) 27/80 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).

1. Der erkennende Senat hält die vom FA erhobene Rüge mangelnder Sachaufklärung nicht für durchgreifend. Dies bedarf keiner weiteren Begründung (Art.1 Nr.8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs).

2. Entgegen der Rechtsauffassung des FG ist die Haftungsinanspruchnahme der Klägerin nicht schon aus Gründen des Art.12 Abs.1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11.August 1971 --DBA-Schweiz-- (BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519) ausgeschlossen. Dazu verweist der erkennende Senat auf sein Urteil vom 22.Oktober 1986 I R 261/82 (BFHE 148, 143, BStBl II 1987, 171). Aus den dort unter II.2 bis II.6 wiedergegebenen Gründen folgt in Verbindung mit Art.28 Abs.1 DBA-Schweiz, daß die Klägerin sich als Haftungsschuldnerin auf die Steuerbefreiung des Art.12 Abs.1 DBA-Schweiz nur dann berufen kann, wenn und soweit der Vergütungsgläubiger (*= schweizerische AG) einen Antrag auf Freistellung gestellt hat. Daran fehlt es nach den Feststellungen des FG im Streitfall.

3. Der Haftungsbescheid ist auch insoweit formell ordnungsmäßig, als in ihm die Gründe für die Haftungsinanspruchnahme der Klägerin nicht besonders erwähnt wurden.

a) Der Schuldner von Vergütungen i.S. des § 50a Abs.4 Buchst.b EStG haftet dafür, daß die vom Gläubiger der Vergütungen geschuldete Einkommen- oder Körperschaftsteuer von den Vergütungen einbehalten und an das FA abgeführt wird (§ 50a Abs.5 Satz 4 EStG). Kürzt der Vergütungsschuldner die Vergütung nicht um die geschuldete Einkommen- oder Körperschaftsteuer, so kann das FA die Einkommen- oder Körperschaftsteuer bis zum Ablauf der Verjährungsfrist sowohl durch Nachforderungsbescheid vom Vergütungsgläubiger (§ 50a Abs.5 Satz 5 Nr.1 EStG) als auch durch Haftungsbescheid vom Vergütungsschuldner erheben (§ 50a Abs.5 Satz 4 EStG). Vergütungsgläubiger und Vergütungsschuldner sind insoweit Gesamtschuldner (§ 118 der Abgabenordnung --AO 1977--, § 7 des Steueranpassungsgesetzes --StAnpG--, § 44 Abs.1 AO 1977).

b) Der VI.Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hat für das Verhältnis zwischen der Inanspruchnahme des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers in ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl. Urteil vom 18.September 1981 VI R 44/77, BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801 m.w.N.), daß das FA die Wahl, an welchen Gesamtschuldner es sich halten will, nur nach pflichtgemäßem Ermessen und unter Beachtung der durch Recht und Billigkeit gezogenen Grenzen treffen kann. Diese Rechtsprechung gilt wegen des im wesentlichen gleichen Wortlauts des § 38 Abs.3 und 4 EStG einerseits und des § 50a Abs.5 EStG andererseits für die Haftungsinanspruchnahme eines Vergütungsschuldners gleichermaßen.

Bei einer Ermessensentscheidung kann jedoch gemäß § 121 Abs.2 Nr.2 AO 1977 von einer Begründung abgesehen werden, wenn dem Adressaten des Verwaltungsaktes (hier: der Klägerin) die Auffassung der Finanzbehörde über die Sach- und Rechtslage bekannt oder doch ohne weiteres erkennbar ist. Diese Voraussetzungen waren im Streitfall nach den tatsächlichen und den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs.2 FGO) erfüllt. Der gegen die Klägerin gerichtete Haftungsbescheid erging nach einer bei ihr durchgeführten Betriebsprüfung. Die Klägerin wußte, daß sie für die schweizerische AG, d.h. für einen ausländischen Vergütungsgläubiger, als Haftende in Anspruch genommen wurde. Ob die Inanspruchnahme der schweizerischen AG tatsächlich und rechtlich schwieriger gewesen wäre als die der Klägerin, kann dahinstehen; jedenfalls mußte das FA auch an die Möglichkeiten der Verwirklichung des Steueranspruchs gegenüber der schweizerischen AG denken. Eine Verwirklichung ist häufig nur möglich, wenn aus dem Steuerbescheid tatsächlich auch vollstreckt werden kann. Vollstreckungsmöglichkeiten bestehen aber für eine deutsche Finanzbehörde in der Schweiz praktisch nicht. Dieser der Klägerin schon vor Erlaß des Haftungsbescheides bekannte Umstand rechtfertigte im Rahmen der Ermessensausübung die Inanspruchnahme des inländischen Haftungsschuldners. Entsprechend hat der Senat schon in seinem Urteil in BFHE 148, 143, BStBl II 1987, 171 entschieden, daß bei ausländischen Steuerpflichtigen zur Begründung der Ermessensausübung der Hinweis auf die beschränkte Steuerpflicht des Vergütungsgläubigers und dessen Aufenthalt im Ausland ausreicht.

4. Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Deshalb kann die Vorentscheidung keinen Bestand haben. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG hat --von seinem Standpunkt aus zu Recht-- keine tatsächlichen Feststellungen darüber getroffen, ob die schweizerische AG den Tatbestand des § 49 Abs.1 Nr.9 EStG verwirklicht hat. Diese Feststellungen nachzuholen ist Aufgabe des FG. Zu diesem Zweck war die Sache an das FG zurückzuverweisen.

5. Der Senat weist für den zweiten Rechtszug auf folgendes hin:

a) § 49 Abs.1 Nr.9 EStG ist erst durch das 2.StÄndG 1973 in das EStG eingefügt worden. Nach § 52 Abs.22 EStG i.d.F. des 2.StÄndG 1973 findet § 50a Abs.4 Satz 1 Buchst.b erstmals auf solche Vergütungen Anwendung, die nach dem 21.Juli 1974 zugeflossen sind. Auf den Erlaß des Niedersächsischen Finanzministeriums vom 12.Januar 1976 S 1301 - 161 - 332 (Der Betrieb --DB-- 1976, 701, Finanz-Rundschau 1976, 67) wird Bezug genommen.

b) Das FG wird sich mit der Frage auseinandersetzen und die dazu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen treffen müssen, welcher Art die der Klägerin überlassenen Programme (Standard- oder Individualprogramme) waren und ob diese der Klägerin zur Nutzung überlassen oder aber an die Klägerin verkauft wurden. Dazu nimmt der Senat auf das BFH-Urteil vom 3.Juli 1987 III R 7/86 (BFHE 150, 259, BStBl II 1987, 728) sowie auf die Urteile des Bundesgerichtshofs vom 9.Mai 1985 I ZR 52/83 (Neue Juristische Wochenschrift 1986, 192, und vom 25.März 1987 VIII ZR 43/86 (DB 1987, 1290) Bezug.

c) Sollte das FG zu der Auffassung kommen, daß die schweizerische AG den Tatbestand des § 49 Abs.1 Nr.9 EStG verwirklicht hat, so kann die Inanspruchnahme der Klägerin als Haftende dennoch ausgeschlossen sein, wenn diese die Körperschaftsteuer infolge eines entschuldbaren Rechtsirrtums nicht einbehielt (vgl. Leitsatz 2 des Urteils in BFHE 134, 149, BStBl II 1981, 801).

 

Fundstellen

Haufe-Index 62050

BFH/NV 1988, 1

BStBl II 1989, 99

BFHE 154, 473

BFHE 1989, 473

BB 1988, 2376-2376 (L)

DB 1989, 88-89 (LT)

HFR 1989, 65 (LT)

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