Entscheidungsstichwort (Thema)

Kein Erlaß der Wechselsteuer für wegen Rotfärbung neu in Umlauf gebrachte Wechsel; Verzicht auf mündliche Verhandlung erfordert Postulationsfähigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Werden neue Wechsel in Umlauf gebracht, weil die ersten wegen Beschädigung (Rotfärbung) nicht mehr rediskontiert werden können, so ist die Einziehung erneut anfallender Wechselsteuer nicht unbillig i.S. des § 227 AO 1977.

2. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung kann als Prozeßhandlung nur von einer der in Art.1 Nr.1 BFHEntlG genannten postulationsfähigen Personen wirksam abgegeben werden.

 

Orientierungssatz

1. Die Entscheidung über einen Erlaßantrag aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung, die im finanzgerichtlichen Verfahren nur dahin geprüft werden kann, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Der Maßstab der Billigkeit bestimmt Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens. Die Unbilligkeit kann entweder in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen haben (vgl. Urteil des BFH vom 2.3.1961 IV 126/60 U).

2. Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines gesetzlichen Besteuerungstatbestands bewußt in Kauf genommen hat, können einen Billigkeitserlaß aus sachlichen Gründen nicht rechtfertigen.

 

Normenkette

AO 1977 § 227 Abs. 1; BFHEntlG Art. 1 Nr. 1; WStG §§ 1-2, 9 Abs. 2; AO 1977 § 5; FGO § 102

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 26.02.1988; Aktenzeichen IX K 301/87)

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine Bank, kaufte sieben von den jeweils Bezogenen angenommene Wechsel, indossierte sie zum Zwecke der Rediskontierung und ließ sie durch einen Bankboten zur Landeszentralbank (LZB) bringen. Die Wechsel waren ordnungsgemäß versteuert. Bei diesem Transport explodierte der gesicherte Transportkoffer und färbte u.a. die Wechsel mit roter Farbe ein. Die LZB lehnte die Rediskontierung wegen der Beschädigung ab. Daraufhin nahm die Klägerin die Wechsel aus dem Umlauf. Sie füllte sieben neue Wechselformulare mit demselben Inhalt aus, ließ diese einschließlich des auf sie lautenden Indossaments von den jeweiligen Ausstellern und Bezogenen unterzeichnen, versteuerte die Wechsel und übertrug sie durch Indossament zum Rediskont auf die LZB.

Mit Schreiben vom 4.Mai 1987 beantragte die Klägerin beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ―FA―) die Erstattung der bezahlten Wechselsteuer in Höhe von 1 766 DM im Erlaßwege. Das FA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 14.Mai 1987 ab; das Beschwerdeverfahren blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.

Mit der Revision beantragt das FA, das Urteil des FG aufzuheben.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet.

1. Gegenstand des Rechtsstreits, über den das FG mit dem angefochtenen Urteil entschieden hat, ist die Rechtmäßigkeit der Verwaltungsakte, mit denen der Antrag der Klägerin auf Erstattung aus Billigkeitsgründen der von ihr entrichteten Wechselsteuer für die neu ausgestellten Wechsel ("Ersatzwechsel") abgelehnt wurde. Zur Geltendmachung des Erstattungsanspruchs war die Klägerin nur berechtigt, wenn sie den zu erstattenden Betrag auf eine eigene Steuer- oder Haftungsschuld entrichtet hat. Das FG hat nicht festgestellt, ob vor der Entrichtung der Wechselsteuer in der Person der Klägerin der Haftungstatbestand des § 9 Abs.2 des Wechselsteuergesetzes (WStG) erfüllt worden war oder nicht. Die Frage der Aktivlegitimation der Klägerin kann jedoch dahinstehen, weil das FA zur Erstattung der Wechselsteuer ohnehin nicht verpflichtet war.

2. Nach § 227 Abs.1 der Abgabenordnung (AO 1977) können auf Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis bereits entrichtete Beträge erstattet werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.

Die Entscheidung über einen Erlaß- bzw. Erstattungsantrag aus Billigkeitsgründen ist eine Ermessensentscheidung, die im finanzgerichtlichen Verfahren nur dahin geprüft werden kann, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 102 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―; Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19.Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Der Maßstab der Billigkeit bestimmt Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens. Die Unbilligkeit kann entweder in der Sache liegen oder ihren Grund in der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen haben (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 2.März 1961 IV 126/60 U, BFHE 73, 53, BStBl III 1961, 288).

3. Auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen ist die Ablehnung der Erstattung der bezahlten Wechselsteuer nicht ermessensfehlerhaft.

a) Die Finanzbehörden haben zu Recht das Vorliegen sachlicher Billigkeitsgründe verneint.

Erlaß (Erstattung) aus sachlichen Gründen kann nur gewährt werden, wenn die Besteuerung eines Sachverhalts, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit Sinn und Zweck des Steuergesetzes nicht vereinbar ist und dadurch ein Überhang des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers besteht (ständige Rechtsprechung des BFH; vgl. Urteile vom 14.Juli 1976 II R 121/71, BFHE 120, 403, BStBl II 1977, 84, und vom 25.November 1980 VII R 17/78, BFHE 132, 159, BStBl II 1981, 204). Demnach können Umstände, die dem Besteuerungszweck entsprechen oder die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung eines Tatbestandes bewußt in Kauf genommen hat, einen Billigkeitserlaß aus sachlichen Gründen nicht rechtfertigen.

Im Wechselsteuerrecht läßt sich aus der Gestaltung des Steuertatbestands (Aushändigung des ausgestellten Wechsels) und den eng begrenzten (steuersystematischen) Steuerbefreiungen des WStG als gesetzgeberisches "Programm" ableiten, daß das spätere Schicksal des einmal ausgestellten und ausgehändigten Wechsels für die Steuer grundsätzlich ohne Belang ist. Wird der mit der Ausstellung des Wechsels verfolgte (wirtschaftliche) Zweck nicht erreicht, so steht dies nach dem Willen des Gesetzgebers einer Besteuerung gleichwohl nicht entgegen und kann deshalb für sich allein eine Billigkeitsmaßnahme nicht rechtfertigen. Wird der Wechsel daher beispielsweise nicht akzeptiert, nicht diskontiert oder geht er in Verlust, so rechtfertigt dies noch keinen Erlaß (Erstattung) der Wechselsteuer.

Wenn auch im Streitfall die aus den alten (gefärbten) Wechseln Verpflichteten und Berechtigten einvernehmlich alle Wechselverpflichtungen aus diesen Wechseln aufgehoben und dies mit der Abrede verbunden haben mögen, daß die alten Wechsel von der Klägerin nicht weiter verwendet werden und dafür neue Wechsel ausgestellt werden sollten, so wurden damit wirtschaftlich und rechtlich die alten Wechselverpflichtungen durch die neuen Wechselverpflichtungen ersetzt und jeweils mit einer neuen ―unbeschädigten und damit uneingeschränkt verkehrsfähigen― Urkunde verbunden. Eine Besteuerung auch der neuen "Ersatzwechsel" mag damit zwar Elemente einer sachlichen Härte enthalten. Beim WStG fällt jedoch entscheidend ins Gewicht, daß der Gesetzgeber im Interesse einer einfachen Besteuerung massenhaft verwirklichter Tatbestände dem Gesichtspunkt der Einzelfallgerechtigkeit erkennbar geringere Bedeutung beigemessen hat als in anderen Steuergesetzen. Das ist bei der Prüfung der Frage, ob im Einzelfall eine sachliche Unbilligkeit gegeben ist, zu berücksichtigen. Nach Abwägung aller Umstände sind im Streitfall zwar Gesichtspunkte erkennbar, die für eine sachliche Unbilligkeit sprechen, diese sind jedoch nicht so gewichtig, daß sie bei einer Entscheidung über eine beantragte Billigkeitsmaßnahme nach § 227 Abs.1 AO 1977 zu einer Ermessensreduzierung auf Null führten. Dies wäre allenfalls denkbar, wenn in einem dem Streitfall ähnlichen Sachverhalt eine ganz erhebliche steuerliche Auswirkung für den davon Betroffenen entstünde, also auch Elemente einer persönlichen Härte vorlägen.

b) Persönliche Billigkeitsgründe sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Damit war die Ablehnung der Erstattung durch das FA nicht ermessensfehlerhaft.

4. Da das FG von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, konnte die Entscheidung keinen Bestand haben. Sie war aufzuheben.

5. Der Senat entscheidet in der Sache selbst; diese ist spruchreif (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO). Nach den vom FG getroffenen und den Senat bindenden (§ 118 Abs.2 FGO) tatsächlichen Feststellungen war die Klage entsprechend der Rechtsauffassung des Senats unbegründet und daher abzuweisen.

6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs.1 FGO.

7. Das FA hat auf mündliche Verhandlung verzichtet; die Klägerin hat sich, ohne nach Art.1 Nr.1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs vertreten zu sein, selbst mit einem Verfahren ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Verzicht auf mündliche Verhandlung ist eine Prozeßhandlung und kann daher vor dem BFH nur durch einen befugten Prozeßbevollmächtigten abgegeben werden. Der Verzicht der Klägerin ist daher unwirksam.

 

Fundstellen

Haufe-Index 63645

BFH/NV 1991, 42

BStBl II 1991, 541

BFHE 164, 114

BFHE 1992, 114

BB 1991, 1776

BB 1991, 1776 (LT)

DB 1992, 255 (L)

HFR 1991, 492 (LT)

StE 1991, 201 (K)

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