Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Frage des groben Verschuldens in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

1. Die in den nachträglich erstellten Bilanzen enthaltenen steuererheblichen Sachverhalte sind Tatsachen im Sinne des § 173 AO 1977.

2. Ein grobes Verschulden des Geschäftsführers einer GmbH liegt bereits darin, daß Tatsachen und Beweismittel grundlos nicht so rechtzeitig vorgelegt werden, daß sie bei der ersten Steuerfestsetzung berücksichtigt werden können.

3. Bei der Frage des groben Verschuldens ist auch der Zeitraum einzubeziehen, in dem nach Durchführung der Steuerveranlagung der Bescheid noch anfechtbar ist.

 

Normenkette

FGO § 118 Abs. 2; AO 1977 §§ 149, 173 Abs. 1 Nr. 2; KStG 1977 § 49; EStDV 1975 §§ 56, 60 Abs. 2; GewStDV 1974 § 25

 

Verfahrensgang

FG des Saarlandes

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, gab durch ihren Geschäftsführer innerhalb der vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt - FA -) gesetzten Frist für die Veranlagungszeiträume 1977 und 1978 keine Steuererklärungen ab. Das FA ermittelte deshalb den Gewinn durch Schätzung und erließ am 20. Oktober 1980 diverse Steuerbescheide. Die Steuerbescheide wurden von der Klägerin zunächst nicht angefochten. Am 15. Januar 1981 reichte die Klägerin die Steuererklärungen 1977 und am 10. Februar 1981 die Steuererklärungen 1978 beim FA ein. Die erst jetzt gegen die Steuerbescheide erhobenen Einsprüche wurden wegen Fristversäumnis zurückgewiesen. Klage und Revision hatten keinen Erfolg.

Daneben beantragte die Klägerin mit Schreiben vom 8. Dezember 1982, die strittigen Bescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern. Das FA lehnte die Änderung ab. Einspruch und Klage wurden als unbegründet zurückgewiesen.

Gegen das Urteil des Finanzgerichts (FG) legte die Klägerin Revision ein. Sie rügt Verletzung formellen und materiellen Rechts.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

1. Der Senat hält die von der Klägerin erhobenen Verfahrensrügen nicht für durchgreifend. Dies bedarf keiner weiteren Begründung (Art. 1 Nr. 8 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs - BFHEntlG -).

2. FA und FG haben zu Recht eine Änderung gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht zugelassen.

Ein Steuerbescheid ist nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern, wenn Tatsachen nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen. Außerdem darf den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran treffen, daß die Tatsachen erst nachträglich bekanntwerden.

a) Die in den nachträglich erstellten Bilanzen enthaltenen steuererheblichen Sachverhalte sind Tatsachen i. S. des § 173 AO 1977 (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 10. Mai 1961 IV 101/60 U, BFHE 73, 146, BStBl III 1961, 321). Sie wurden dem FA durch Vorlage im Januar bzw. Februar 1981 bekannt und hätten zu einer niedrigeren Steuer geführt. Insoweit sind die Tatbestandsvoraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 erfüllt. Jedoch trifft die Klägerin ein grobes Verschulden daran, daß diese Tatsachen erst nachträglich bekanntwurden.

b) Ob ein Beteiligter grob fahrlässig i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (BFH-Urteile vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324; vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2; vom 29. Juni 1984 VI R 181/80, BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693). Das FG hat im Streitfall die Voraussetzungen des Rechtsbegriffs der groben Fahrlässigkeit nicht verkannt. Die Klägerin muß sich das grobe Verschulden ihres Vertreters, des Geschäftsführers, zurechnen lassen. Sie erfüllte ihre steuerlichen Pflichten grob fahrlässig nicht, da ihr Geschäftsführer die Sorgfalt, zu der er nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten verpflichtet und imstande war, in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise nicht wahrnahm. Die Ausführungen des FG zu den persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten des Geschäftsführers der Klägerin sind revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

Ein grobes Verschulden lag in dem grundlosen Versäumnis des Geschäftsführers der Klägerin, die Tatsachen oder Beweismittel so rechtzeitig vorzubringen, daß sie bereits bei der ersten Steuerfestsetzung berücksichtigt werden konnten (vgl. Schwarz, AO-Kommentar, Anm. 13 a zu § 173 AO 1977). Die Klägerin legte ihre Bilanzen 1977 und 1978 vor Erlaß der Steuerbescheide dem FA nicht vor.

Die Klägerin war verpflichtet, Bilanzen zur Durchführung der Veranlagung vorzulegen. Dies ergibt sich aus § 49 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes 1977 - KStG 1977 - (i. d. F. vom 31. August 1976, BGBl I, 2597, BStBl I, 445 i. V. m. § 56 Abs. 1, § 60 Abs. 2 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung - EStDV - vom 24. Januar 1975, BGBl I, 369, BStBl I, 129, und § 25 der Gewerbesteuer-Durchführungsverordnung 1974 - GewStDV - vom 15. November 1974, BGBl I, 3138, BStBl I, 979). Die der Klägerin gewährte Frist war angemessen lang. Sie war für die Steuererklärung 1977 länger als die selbst einem von einem Berater vertretenen Steuerpflichtigen normalerweise eingeräumte Frist (üblicherweise bis 28. Februar 1979) und entsprach den in Sonderfällen den Steuerpflichtigen und den steuerlich Vertretenen gewährten Verlängerungen bis Mai/Juni des auf das Veranlagungsjahr nächstfolgenden Jahres.

Bei der Frage, ob die Klägerin ein grobes Verschulden daran trifft, daß dem FA neue Tatsachen erst nachträglich bekanntwurden, ist auch der Zeitraum einzubeziehen, in dem nach Durchführung der Steuerveranlagung der Bescheid noch anfechtbar war. Die Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärung bleibt auch dann bestehen, wenn die Finanzbehörde die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO 1977 geschätzt hat (§ 149 Abs. 1 Satz 4 AO 1977), wozu sie trotz Ungültigkeit der Fristenregelung in § 149 a. F. AO 1977 berechtigt war (vgl. BFH-Urteil vom 16. Juli 1981 V R 156/78, BFHE 133, 352, BStBl II 1981, 720, 722).

Zudem verletzt die Steuerpflichtige bzw. deren Geschäftsführer die von ihm geforderte Sorgfaltspflicht grob, wenn sie es trotz Kenntnis der später eingetretenen Umstände unterlassen, diese noch vor Bestandskraft des Steuerbescheids zugunsten der Gesellschaft geltend zu machen. Dann ist es nicht mehr gerechtfertigt, die Bestandskraft nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu durchbrechen. Die Einlegung eines Einspruches hätte sich der Klägerin aufdrängen müssen, um Zeit zu gewinnen, mit Hilfe des beauftragten Steuerberaters ihre wahren steuerlichen Verhältnisse aufzudecken.

Die Klägerin erfüllte ihre Pflicht zur Abgabe der Steuererklärungen 1977 und 1978 aber erst im Januar bzw. Februar 1981.

Die im Revisionsverfahren vorgebrachte Tatsache, die Klägerin sei doch in dem entscheidenen Jahr steuerlich vertreten worden, kann in der Revisionsinstanz nicht mehr berücksichtigt werden (§ 118 Abs. 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415558

BFH/NV 1988, 348

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