Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen

 

Leitsatz (NV)

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen. Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten bezeichneten Beweismittels darf im Regelfall nur verzichtet werden, wenn das FG die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache rechtsunerheblich ist.

 

Normenkette

FGO § 76

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Rechtsnachfolgerin der im Streitjahr (1979) noch bestehenden und gewerblich tätigen L KG. Die KG hatte der für sie tätigen Steuerberatungsgesellschaft bei den Vor arbeiten zur Erstellung der Umsatzsteuerjahreserklärung 1979 eine Aufstellung der Umsatzsteuervoranmeldungen 1979 vorgelegt und dabei die im Mai 1980 berichtigte Voranmeldung für Dezember 1979 mit einer Zahllast von 45 516,82 DM vergessen. Die bekanntgegebenen Voranmeldungen gingen in die von der Steuerberatungsgesellschaft gefertigte Umsatzsteuerjahreserklärung 1979 ein, die mithin eine um 45 516,82 DM zu niedrige Umsatzsteuer auswies. Den infolge der Sollstellung überzahlten Betrag überwies die Finanzkasse an die KG.

Anläßlich einer im Juni 1989 durchgeführten Außenprüfung für die Jahre 1985 bis 1987 wurde der Sachverhalt aufgeklärt. Die KG hatte den Erstattungsbetrag in den Bilanzen 1979 bis 1984 als "Umsatzsteuerschuld für 1979" passiviert und in der Bilanz 1985 unter Hinweis auf die eingetretene Verjährung als Ertrag ausgebucht.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) erließ einen auf §173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützten geänderten Umsatzsteuerbescheid für das Kalenderjahr 1979 und setzte eine um 45 516,82 DM höhere Zahllast fest. Der Einspruch, mit dem die Klägerin vorgetragen hatte, eine Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 1979 sei wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist nicht mehr möglich, blieb ohne Erfolg. Das FA war der Meinung, die Vertreter der KG hätten sich der Steuerhinterziehung schuldig gemacht. Deshalb betrage die Festsetzungsfrist 10 Jahre.

Während des finanzgerichtlichen Verfahrens beantragte die Klägerin zum Beweis dafür, daß der subjektive Tatbestand der Steuerhinterziehung nicht vorliege, die Vernehmung des Geschäftsführers und des zuständigen Sachbearbeiters der KG.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Zur Begründung verwies es gemäß §105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf die zutreffenden Ausführungen des FA in der Einspruchsentscheidung. Die von der Klägerin angebotenen Beweise hätten nicht erhoben werden müssen. Die in Frage stehenden Tatsachen seien als wahr zu unterstellen und für die Entscheidung unerheblich.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG sowie den Umsatzsteuerbescheid 1979 vom ... und die Einspruchsentscheidung vom ... aufzuheben.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Die Ablehnung der beantragten Beweiserhebung verletzt §76 Abs. 1 FGO. Dieser Verstoß, auf dem die Vorentscheidung beruht, führt zur Aufhebung und zur Zurückverweisung (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Klägerin hat den Verstoß gegen §76 FGO ordnungsgemäß gerügt (§120 Abs. 2 Satz 2 FGO). Die Begründung ihrer erfolgreichen Nichtzulassungsbeschwerde enthält eine eingehende Bezeichnung der Tatsachen (vgl. zur ordnungsgemäßen Rüge der unterlassenen Beweiserhebung: Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 4. März 1992 II B 201/91, BFHE 166, 574, BStBl II 1992, 562). Diese ergeben den Verfahrensfehler. Die Klägerin hat daher zumindest durch die Bezugnahme auf die Nichtzulassungsbeschwerde die Begründungsanforderungen erfüllt (vgl. zur Begründung des Verfahrensmangels durch Bezugnahme auf die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde: Urteil des Senats vom 17. März 1994 V R 92/91, BFH/NV 1995, 314, m. N.).

2. Das FG hat den entscheidungserheblichen Sachverhalt verfahrensfehlerhaft nicht vollständig aufgeklärt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Vorentscheidung bei vollständiger Sachverhaltsaufklärung zugunsten der Klägerin ausgefallen wäre.

Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§76 Abs. 1 Satz 1 FGO). Es ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Danach muß die Tatsacheninstanz den Sachverhalt erforderlichenfalls unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel so vollständig wie möglich aufklären. Auf die Erhebung eines von einem Beteiligten bezeichneten Beweismittels darf im Regelfall nur verzichtet werden, wenn das FG die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betroffenen Partei unterstellt, das Beweismittel nicht erreichbar oder die Tatsache rechtsunerheblich ist (BFH-Urteil vom 19. September 1985 VII R 164/84, BFH/NV 1986, 674, m. w. N.).

Das FG ist bei der Klageabweisung der Entscheidung des FA über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefolgt und hat dies in seiner Entscheidung festgestellt (§105 Abs. 5 FGO). Es hat damit den Rechtsstandpunkt vertreten, wegen des Vorliegens von Steuerhinterziehung durch unrichtige Angaben in der Jahreserklärung sowie Nichtbeachtung der Berichtigungspflicht gemäß §153 Abs. 1 AO 1977 betrage die Festsetzungsfrist im Streitfall 10 Jahre. Der Umsatzsteuerbescheid für 1979 der Klägerin habe daher noch im Jahr 1990 geändert werden können.

Nach der in der Vorentscheidung geäußerten Rechtsauffassung des FG kommt es für die Entscheidung des Streitfalls darauf an, ob durch das Verhalten der Verantwortlichen der KG Steuern hinterzogen wurden und dadurch die Verlängerung der Festsetzungsfrist eingetreten ist (§169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977). Deshalb durfte das FG den Antrag der Klägerin nicht übergehen, den Geschäftsführer und den damaligen Sachbearbeiter als Zeugen darüber zu vernehmen, weshalb die Berichtigung der Steuererklärung 1979 der Klägerin unterblieben ist. Der Beweisantrag im Schriftsatz der Klägerin vom 26. Juli 1994 war hinreichend substantiiert (vgl. dazu BFH-Urteil vom 26. Februar 1985 VII R 137/81, BFH/NV 1986, 136) und für die Entscheidung bedeutsam, so daß das FG die Zeugen nach pflichtgemäßem Ermessen hätte vernehmen müssen (§82 FGO i. V. m. §373 der Zivilprozeßordnung).

Das FG hat den Beweisantrag im Tatbestand der Vorentscheidung wiedergegeben. Es hat jedoch die Beweisaufnahme mit dem Hinweis unterlassen, die von der Klägerin angebotenen Beweise seien als wahr zu unterstellen und für die Entscheidung unerheblich. Diese Wahrunterstellung der angebotenen Zeugenaussagen wurde aber nur behauptet, nicht jedoch wirklich vorgenommen. Zwar hat die Klägerin das zu erwartende Beweisergebnis in ihren Schriftsätzen im erstinstanzlichen Verfahren nur vage und undeutlich beschrieben, indem sie sinngemäß vorgetragen hat, die Verbuchung als Verbindlichkeit Umsatzsteuer 1979 sei rechtlich und betrieblich so zu erklären, daß kein Hinterziehungsvorsatz daraus gefolgert werden könne. Konkrete Erläuterungen fehlen. Das Vorbringen der Klägerin reichte aber dennoch aus, das FG zu zwingen, die für diese Behauptung angebotenen Zeugenbeweise zu erheben. Das FG hat dies unterlassen und sich für seine Beweiswürdigung hinsichtlich des Hinterziehungsvorsatzes allein auf die Behandlung der Steuerauszahlung in der Bilanz und den Bilanzberichten gestützt.

Die unterlassene Beweiserhebung kann für den Ausgang des Rechtsstreits erheblich sein. Falls Tatsachen bekundet werden sollten, die eine Steuerhinterziehung ausschließen, kommt es auf die Glaubwürdigkeit der Zeugen an. Im Rahmen der Würdigung des gesamten Verfahrens (§96 Abs. 1 FGO) muß das FG dann entscheiden, ob die Festsetzungsfrist im Streitfall 4 oder 10 Jahre betrug.

3. Da schon die Verletzung des §76 FGO zur Aufhebung der Vorentscheidung führt, braucht der Senat nicht darauf einzugehen, ob die angefochtene Entscheidung weitere Rechtsverstöße enthält.

 

Fundstellen

Haufe-Index 66359

BFH/NV 1998, 174

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