Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Arbeitsrecht Bankrecht Kreditrecht Berufsrecht Handelsrecht Gesellschaftsrecht Steuerliche Förderungsgesetze Berufsrecht Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Wird in einem steuergerichtlichen Verfahren festgestellt, daß ein Abgabepflichtiger geschäfts- oder prozeßunfähig ist, so bestehen keine Bedenken, die zivilprozessualen Grundsätze, die sich auf die Prozeßfähigkeit beziehen, auf den Steuerprozeß zu übertragen.

Die Prozeßfähigkeit ist eine Prozeßvoraussetzung und ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen.

Ist einem geschäfts- und prozeßunfähigen Abgabepflichtigen eine Einspruchsentscheidung und auf Grund seiner Berufung ein Berufungsurteil zugestellt worden und hat er dagegen Rechtsbeschwerde eingelegt, so sind die Einspruchsentscheidung und das Berufungsurteil aufzuheben. Das Urteil über die Rechtsbeschwerde ist dem gesetzlichen Vertreter nach dessen Bestellung zuzustellen.

LAG §§ 21, 22, 38, 39, 203; AO § 102; BGB §§ 104, 131, 1910; ZPO §§ 52, 56, 551 Ziff. 5, 578, 579

 

Normenkette

AO § 102; BGB §§ 104, 131, 1910; LAG §§ 21-22, 38-39, 203; ZPO §§ 52, 56, 551/5, §§ 578, 579 Abs. 1 Ziff. 4

 

Tatbestand

Der Bf. ist mit den Einheitswerten zweier Betriebe in Höhe von 2.000 DM und von 17.800 DM zur Vermögensabgabe herangezogen worden. In der Betriebsvermögensaufstellung zum 31. Dezember 1945 wurden als Inhaber des Betriebs mit dem Einheitswert von 2.000 DM der Bf. und seine Ehefrau angegeben. In den Gewerbesteuerakten dieses Betriebs sind die Erklärungen und Schreiben des Bf. ab 1. Januar 1946 mit dem Stempel versehen, der den Bf. und seine Ehefrau als Inhaber bezeichnet. Bei der Veranlagung wurde nur ein Freibetrag von 5.000 DM berücksichtigt. Da der Bf. seinen ursprünglich gestellten Antrag auf Berücksichtigung des Kriegssachschadens bei der Vermögensabgabe zurückgezogen hatte, wurde bei der Veranlagung eine Schadensermäßigung nicht gewährt. Der Vermögenabgabebescheid ist am 26. November 1958 dem Bf. zugesandt worden. Dagegen hat sich der Bf. durch Schreiben vom 28. März 1959 gewandt. Das Finanzamt hat wegen der verspäteten Einlegung des Einspruchs Nachsicht gewährt und, nachdem der Antrag auf Berücksichtigung des Kriegssachschadens von dem Bf. erneut gestellt worden war, den Vierteljahresbetrag auf 54,60 DM festgesetzt. Unter Berücksichtigung der Vergünstigung für Vermögen in Berlin, der zusätzlichen Berücksichtigung von Kriegsschäden und der Familienermäßigung für seine Ehefrau waren danach bis 31. März 1957 13,20 DM und für die Zeit vom 1. April 1957 bis zum Ende der Laufzeit 0 DM zu entrichten. Dieser Bescheid wurde dem Bf. am 9. April 1962 gegen Unterschrift zugestellt. Die dagegen eingelegte Berufung vom 25. April 1962 ging am 8. Mai 1962 beim Finanzamt ein. Die Vorinstanz hat die Berufung mit der Maßgabe als unbegründet zurückgewiesen, daß der Einspruch als unzulässig verworfen wird. Da der Wert des Streitgegenstands auf 211 DM festgestellt wurde, bezeichnete das Gericht die Entscheidung als endgültig. Das Urteil wurde am 10. September 1963 dem Prozeßbevollmächtigten des Bf. zugestellt. Mit Schreiben vom 26. Juli 1964, eingegangen bei der Vorinstanz am 30. Juli 1964, legte der Bf. Rb. ein und wiederholte im Ergebnis sein bisheriges Begehren, ihn von der Vermögensabgabe ganz freizustellen. Das Finanzamt hat beantragt, die Rb. als unzulässig zu verwerfen, da der Bf. die Rechtsmittelfrist versäumt habe und Nachsichtsgründe nicht ersichtlich seien. Im übrigen sei der Beschwerdewert nicht erreicht. Außerdem macht das Finanzamt geltend, der Bf. dürfte geschäfts- und prozeßunfähig sein.

Die überprüfung des letzteren Vorbringens des Finanzamts hat folgendes ergeben:

In der Ermittlungssache wegen Steuervergehens erstattete das zuständige Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin am 5. April 1963 auf Grund einer ärztlichen körperlichen und psychischen Untersuchung vom 10. Januar 1963 ein Gutachten, das zu dem Ergebnis kam, daß der Bf. nicht in der Lage sei, das Verbotene seines Handelns einzusehen, so daß - medizinisch gesehen - eine Anwendungsform des § 51 Abs. 1 StGB gegeben erscheine. Außerdem sei der Bf. nicht verhandlungsfähig. Um die gleiche Zeit, als dieses Gutachten abgegeben wurde, war bei der Vorinstanz außer dem vorliegenden Streitfall noch ein anderer Steuerrechtsstreit anhängig. Die für diesen letzteren Rechtsstreit zuständige Kammer hat am 5. Mai 1964 bei dem Institut angefragt, ob sich der Bf. auch in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden habe und damit geschäfts- und prozeßunfähig im bürgerlich-rechtlichen Sinne sei. Das Institut hat die Frage bejaht und den Bf. nicht nur als nicht prozeßfähig, sondern auch darüber hinaus als nicht geschäftsfähig bezeichnet, soweit es sich um seine Prozesse handle. Es liege eine partielle Geschäftsunfähigkeit vor. Die zuständige Kammer hat daraufhin ohne mündliche Verhandlung, auf der der Bf. nach vorheriger Anfrage bestanden hatte, die Berufung als unzulässig verworfen.

Da im vorliegenden Streitfall von Bedeutung ist, von welchem Zeitpunkt ab die partielle Geschäftsunfähigkeit vorgelegen hat, ist das Institut gebeten worden, sich auch über diese Frage zu äußern. Aus dem Befundzeugnis geht hervor, es sei möglich, daß der Bf. schon am 26. November 1958 (Tag der Absendung des Vermögensabgabebescheids) geschäftsunfähig gewesen sei, er sei mit größter Wahrscheinlichkeit am 9. April 1962 (Tag der Zustellung der Einspruchsentscheidung) und am 25. April 1962 (Tag der Einlegung der Berufung) geschäftsunfähig gewesen und die Geschäftsunfähigkeit habe am 13. August 1963 (Tag der Berufungsentscheidung) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bestanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidungen.

Der Vierteljahresbetrag ist ohne Berücksichtigung der Familienermäßigung durch den Vermögensabgabebescheid auf 37 DM, durch die Einspruchsentscheidung für die Zeit vom 1. April 1952 bis 31. März 1957 auf 18,20 DM und von da ab auf 0 DM und durch das Urteil der Vorinstanz wieder auf 37 DM festgesetzt worden. Da der Bf. die Festsetzung des Vierteljahrsbetrags im Rechtsbeschwerdeverfahren auf 0 DM beantragt hat, beträgt der Streitwert in der Rechtsbeschwerdeinstanz 1.412 DM.

Nach § 104 Ziff. 2 BGB ist geschäftsunfähig, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Diese Vorschrift gilt nach § 203 Abs. 1 LAG in Verbindung mit § 102 Abs. 1 AO auch für die Lastenausgleichsabgaben. Ein die freie Willensbestimmung ausschließender Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit kann sich auf alle Angelegenheiten einer Person beziehen, er kann aber auch nur bei einem bestimmten Kreis von Geschäften auftreten. Ist letzteres der Fall, so bezieht sich die Geschäftsunfähigkeit nur auf diesen Kreis von Angelegenheiten (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen - RGZ - Bd. 162 S. 223 (229); Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen - BGHZ - Bd. 18 S. 184 (186); Enneccerus-Kipp-Wolff, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, I. Bd. 1. Halbband, 15. Auflage von H. C. Nipperdey, § 92, S. 531/532 und die dort angeführte umfangreiche Literatur).

Im Zivilprozeßrecht wird die Prozeßfähigkeit von der Geschäftsfähigkeit des bürgerlichen Rechts unterschieden (ß 52 der Zivilprozeßordnung - ZPO -). Die Prozeßfähigkeit ist die Fähigkeit, alle Prozeßhandlungen wirksam entgegenzunehmen und selbst vorzunehmen. Die Prozeßfähigkeit ist das prozessuale Seitenstück zur Geschäftsfähigkeit. Das Zivilprozeßrecht kennt jedoch nur eine volle Prozeßfähigkeit oder Prozeßunfähigkeit, nicht aber eine beschränkte Prozeßfähigkeit als Seitenstück zur beschränkten Geschäftsfähigkeit. Beschränkt Geschäftsfähige, insbesondere Minderjährige, sind prozeßunfähig. Die gegenständlich erweiterte Geschäftsfähigkeit der Minderjährigen im Rahmen der nach den §§ 112, 113 BGB erteilten Ermächtigung hat für den in Betracht kommenden Lebensbereich die volle Prozeßfähigkeit zur Folge. Die Prozeßfähigkeit gehört zu den Prozeßvoraussetzungen und ist daher in jeder Lage des Verfahrens vom Amts wegen zu prüfen (ß 56 ZPO).

Das Zivilprozeßrecht unterscheidet zwischen wirkungslosen und mangelhaften Urteilen. Die mangelhaften Urteile sind nicht nichtig, sondern mit Rechtsmitteln und nach Rechtskrafteintritt mit der Wiederaufnahmeklage anfechtbar (vgl. Baumbach-Lauterbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 28. Auflage, Grundzüge vor § 511 ZPO Anm. 4, insbesondere übersicht vor § 300 ZPO Anm. 3). Die Nichtigkeitsklage findet nach § 579 Abs. 1 Ziff. 4 ZPO grundsätzlich dann statt, wenn eine Partei in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war. Hierzu gehört auch der Fall, daß eine Partei geschäftsunfähig ist und ihr das Urteil zugestellt wurde, so daß es in Rechtskraft erwachsen konnte (vgl. Baumbach-Lauterbach, a. a. O., § 579 ZPO Anm. 4). Die Rechtskraft des gegen eine nicht nach Vorschrift der Gesetze vertretene Partei ergangenen Urteils ist demnach Voraussetzung der Nichtigkeitsklage (RGZ Bd. 121 S. 63 (64)).

Die AO hat keine Regelung über die Prozeßfähigkeit getroffen und enthält auch keine Vorschriften, die den damit zusammenhängenden Vorschriften der ZPO entsprechen würden. In dem Urteil des Bundesfinanzhofs V 21/53 vom 5. November 1954 (Bundeszollblatt 1955 S. 2) ist ausgesprochen, daß keine Bedenken bestehen, die zivilprozessualen, die Prozeßunfähigkeit betreffenden Vorschriften auf den Steuerprozeß zu übertragen (vgl. auch Rademacher, Die Prozeßfähigkeit natürlicher Personen im steuerlichen Rechtsmittelverfahren, Deutsche Steuer-Rundschau 1958 S. 81).

Da mangelnde Prozeßfähigkeit eine Prozeßvoraussetzung ist, die von Amts wegen in jeder Rechtsstufe berücksichtigt werden muß, ist auch die Geschäftsunfähigkeit vom Gericht selbständig festzustellen (Entscheidung des Reichsgerichts, Juristische Wochenschrift 1895 S. 378). Der erkennende Senat sieht auf Grund des fachärztlichen Befundzeugnisses als erwiesen an, daß der Bf. bei Einlegung der Rb. mit Schreiben vom 26. Juli 1964 geschäftsunfähig und damit prozeßunfähig war. Er trägt auch keine Bedenken, daß die Geschäfts- und Prozeßunfähigkeit schon bei der Einlegung der Berufung und bei Empfangnahme der Einspruchsentscheidung im April 1962 bestanden hat. Wird aber einem Geschäftsunfähigen gegenüber eine Willenserklärung abgegeben, so wird sie nicht wirksam, bevor sie dem gesetzlichen Vertreter zugeht (ß 131 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 203 Abs. 1 LAG und § 102 Abs. 1 AO). Auch die Zustellung des Berufungsurteils konnte deshalb nicht wirksam werden, weil der von dem Bf. Bevollmächtigte nicht gesetzlicher Vertreter des Bf. war. Obwohl die Zustellung an den Bf. nicht erfolgen durfte, da er nicht prozeßfähig war, werden entsprechend den zivilprozessualen Vorschriften die Rechtsmittelfristen in Lauf gesetzt. Soweit es sich im Streitfall um die Rechtsmittelfrist für das Rechtsbeschwerdeverfahren handelt, ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Rechtsmittelbelehrung in der Berufungsentscheidung unrichtig erteilt wurde. Nach § 246 Abs. 3 AO ist auf Grund dieser Sondervorschrift die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden.

Ob der Bf. bereits bei Bekanntgabe des Vermögensabgabebescheids im November 1958 geschäftsunfähig war, wird in dem fachärztlichen Befundzeugnis als möglich bezeichnet. Die in dem Befundzeugnis angenommene Möglichkeit reicht aber nicht aus, den Bf. bereits im Jahre 1958 in Steuer-, insbesondere in Vermögensabgabesachen, als geschäftsunfähig zu bezeichnen. Es muß deshalb unterstellt werden, daß der Bf. am 28. März 1959 noch geschäfts- und damit prozeßfähig war, so daß der damals verspätet eingelegte Einspruch nicht als nichtig behandelt werden kann.

Da die Einspruchsentscheidung einem Geschäfts- und Prozeßunfähigen zugestellt und von diesem dagegen Berufung eingelegt worden ist, haben die Vorentscheidungen keinen Bestand und unterliegen der Aufhebung. Das Verfahren muß an das Finanzamt zurückverwiesen werden. Dieses hat zunächst für die Zwecke der Vermögensabgabe die Bestellung eines Pflegers nach § 1910 BGB zu veranlassen, dem die Rechtsbeschwerdeentscheidung zuzustellen und der im übrigen zu veranlassen ist, zweckentsprechende Anträge (Berücksichtigung eines zusätzlichen Freibetrags für die Ehefrau bei der Vermögensabgabeveranlagung, Antrag nach § 54 LAG, falls die Voraussetzungen, insbesondere mit Rücksicht auf Absatz 2 Nr. 4 dieser Vorschrift, dafür vorliegen, Antrag auf Erlaß nach § 131 LAG, unter Umständen Nichtberücksichtigung der Kriegssachschäden bei der Vermögensabgabe, je nachdem, ob die Erlaßanträge Aussicht auf Erfolg haben) zu stellen. Das Finanzamt hat weiterhin erneut über den Einspruch und über die Frage der Nachsichtgewährung zu entscheiden. Bei der letzteren Entscheidung besteht kein Grund, das ärztliche Befundzeugnis außer acht zu lassen. Außerdem hat das Finanzamt zu berücksichtigen, daß sich auch aus den Akten (vgl. Aktenvermerk über die Verhandlung vom 22. April 1959 und das durch persönliche Angriffe gegen den Bearbeiter der Vermögensabgabesache des Bf. gekennzeichnete Einspruchsschreiben vom 28. März 1959) Anzeichen seiner schweren Erkrankung, die zu seiner Geschäfts- und Prozeßunfähigkeit geführt haben, ergeben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 424247

BStBl III 1965, 370

BFHE 1965, 344

BFHE 82, 344

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