Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Bei Grunderwerbsteuerbescheiden ist eine Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 der Reichsabgabenordnung auch dann zulässig, wenn sich die Fehleraufdeckung auf Streitpunkte bezieht, über die bereits durch eine Einspruchsentscheidung rechtskräftig entschieden wurde.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 3

 

Tatbestand

Streitig ist, ob eine Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 der Reichsabgabenordnung (AO) auch dann zulässig ist, wenn sich die Fehleraufdeckung auf Streitpunkte bezieht, über die bereits in einem früher geführten Einspruchsverfahren rechtskräftig entschieden wurde. Die Rechtskraft war eingetreten, nachdem der Beschwerdeführer (Bf.) im Berufungsverfahren, das aus anderen Gründen anhängig war, seine Berufung zurückgenommen hatte. Der Bf. hatte sich zur Zurücknahme der Berufung entschlossen, weil er vom Finanzgericht darauf hingewiesen worden war, daß er aus den Gründen, die zu der jetzt streitigen Fehlerberichtigung geführt haben, mit einer "Verböserung" der Steuerfestsetzung (§ 243 Abs. 3 AO) rechnen müsse.

Das Finanzamt hat den Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Auch die Berufung war ohne Erfolg.

 

Entscheidungsgründe

Der Rechtsbeschwerde (Rb.) kann gleichfalls nicht stattgegeben werden, da die Fehlerberichtigung als zulässig anzusehen ist.

Allerdings hat der Reichsfinanzhof in älteren Entscheidungen wiederholt ausgesprochen, daß außer durch rechtskräftige Berufungs- und Rechtsbeschwerdeentscheidungen auch durch rechtskräftige Einspruchsentscheidungen die Anwendung des § 212 Abs. 3 AO 1919 (jetzt § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO 1931) auf denselben Tatbestand, der Gegenstand der rechtskräftigen Entscheidung war, ausgeschlossen wird; Voraussetzung ist, daß es sich nur um eine abweichende Rechtsbeurteilung handelt. Siehe dazu die Urteile II A 45/21 vom 4. Februar 1921 (Slg. Bd. 4 S. 308, Reichssteuerblatt 1921 S. 183), II A 66/27 vom 25. März 1927 (Slg. Bd. 21 S. 85), II A 689/29 vom 1. April 1930 (Steuer und Wirtschaft 1930 Nr. 454 Mrozek-Kartei, Reichsabgabenordnung 1919 § 76 Rechtsspruch 22), I e A 212/30 vom 17. Juni 1930 (Steuer und Wirtschaft 1930 Nr. 1310) und II A 287/31 vom 7. Oktober 1931 (Steuer und Wirtschaft 1932 Nr. 102 Mrozek-Kartei, Reichsabgabenordnung 1931 § 222 Abs. 1 Nr. 3 Rechtssprüche 1 und 2).

Demgegenüber hat der Reichsfinanzhof in einem späteren Urteil III e 27/37 vom 16. Dezember 1937 (Slg. Bd. 43 S. 34, Reichssteuerblatt 1938 S. 20) ausgesprochen, daß eine Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO dann zulässig ist, wenn als rechtskräftige Entscheidung lediglich eine Einspruchsentscheidung in Betracht kommt. Zur Begründung ist auf die inzwischen aufgehobene Vorschrift des § 1 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes 1934 Bezug genommen worden.

Der III. Senat des Bundesfinanzhofs hat in dem Urteil III 157/54 U vom 30. Juni 1956 (Slg. Bd. 63 S. 53, Bundessteuerblatt 1956 III S. 216) die Auffassung vertreten, daß in Fällen, in denen das Finanzamt im Verfahren über die Berufung eine Einspruchsentscheidung auf Veranlassung des Finanzgerichts zurücknimmt oder ändert, im Bereich des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO eine solche Zurücknahme oder änderung einer rechtskräftigen Berufungsentscheidung gleichsteht und daß in solchen Fällen eine Anwendung des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO auf Grund abweichender Beurteilung unzulässig ist. Dagegen hat der III. Senat über die grundsätzliche Frage, ob das vorerwähnte Urteil III e 27/37 vom 16. Dezember 1937 nach wie vor anwendbar ist, nicht entschieden, weil nach seiner Auffassung, um es zu wiederholen, nicht lediglich eine rechtskräftige Einspruchsentscheidung, sondern vielmehr ein Sachverhalt vorlag, der bereits einer rechtskräftigen Berufungsentscheidung gleichzustellen war. Ein dem Urteil III 157/54 U vom 30. Juni 1956 entsprechender Sachverhalt ist jedoch im Streitfall nicht gegeben; denn in dem früheren Verfahren fand die Berufung nicht dadurch ihre Erledigung, daß das Finanzamt die Einspruchsentscheidung auf Veranlassung des Finanzgerichts zurücknahm oder änderte, sondern dadurch, daß die Berufung vom Bf. zurückgenommen wurde.

Dem Urteil III e 27/37 vom 16. Dezember 1937 ist im Ergebnis nach wie vor zuzustimmen.

Im Rechtsmittelverfahren der AO ist zwischen Einspruchsentscheidungen (§ 259 AO) und Berufungs- bzw. Rechtsbeschwerdeentscheidungen (§§ 261 - 298 AO) zu unterscheiden. Die letztgenannten Entscheidungen sind richterliche Entscheidungen. Ihre Rechtskraft ist unabänderlich, es sei denn, daß ausdrücklich Abweichendes bestimmt worden ist. Nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland wird die Staatsgewalt, soweit sie nicht unmittelbar vom Volke wahrgenommen wird, durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Der Grundsatz der Gewaltenteilung ist durch diese Vorschrift zum tragenden Organisationsprinzip des Staates erhoben worden (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 106/53 vom 18. Dezember 1953, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bd. 3 S. 225 ff., 247). Demgemäß können die rechtskräftigen Berufungs- oder Rechtsbeschwerdeentscheidungen nicht mit Hilfe der Fehleraufdeckung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO lediglich deshalb aufgehoben oder geändert werden, weil die dem Finanzamt übergeordnete Aufsichtsbehörde anderer Rechtsauffassung ist als das in der Berufungs- oder Rechtsbeschwerdeinstanz zur Entscheidung berufene Gericht. Würde der Aufsichtsbehörde ein solches Recht zustehen, so wäre ein Akt der Rechtsprechung der Nachprüfung durch die vollziehende Gewalt unterworfen. Nach dem Grundsatz der Gewaltenteilung kommt ein derartiges Aufhebungs- oder änderungsrecht der vollziehenden Gewalt jedoch nicht in Betracht. Als Akt der Rechtsprechung im Sinn des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ist grundsätzlich auch die Berufungsentscheidung eines Finanzgerichts anzusehen.

Im Streitfall ist jedoch keine richterliche Entscheidung, d. h. keine Berufungs- oder Rechtsbeschwerdeentscheidung, sondern eine Einspruchsentscheidung berichtigt worden. Einspruchsentscheidungen sind keine Akte der Rechtsprechung, sondern Verwaltungsakte, d. h. Entscheidungen der vollziehenden Gewalt. Die Einspruchsentscheidung ist kein Rechtsprechungsakt im formellen Sinne, weil sie nicht von unabhängigen, nichtweisungsgebundenen Richtern getroffen wird. Auch im materiellen Sinne liegt kein Rechtsprechungsakt vor; denn die Rechtsprechung im materiellen Sinne setzt voraus, daß in einem Streit auch bei Beteiligung von Behörden ein unbeteiligter Dritter die Rechtsprechung ausübt (vgl. den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 1 BvL 13/52 und 21/52 vom 9. November 1955, Neue Juristische Wochenschrift 1956 S. 137, sowie den Vorlagebeschluß des Bundesverwaltungsgerichts I C 142/54 vom 3. Mai 1956, Der Betriebs-Berater 1956 S. 829). Die Aufhebung oder Abänderung einer Einspruchsentscheidung durch andere Organe der vollziehenden Gewalt ist lediglich ein Akt der Selbstkontrolle und steht demnach mit dem vorerwähnten Grundsatz der Gewaltenteilung nicht in Widerspruch.

Auch dem Wortlaut des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO widerspricht es nicht, daß die Aufsichtsbehörde die Berichtigung von Steuerfestsetzungen selbst dann veranlassen darf, wenn bereits eine rechtskräftige Einspruchsentscheidung vorliegt. Die Richtigkeit dieser Auffassung wird auch durch die Vorschrift des § 94 Abs. 4 Satz 1 AO bestätigt. Danach können Einspruchsentscheidungen unter den gleichen Voraussetzungen wie Steuerbescheide zurückgenommen oder geändert werden. Unter diesen Umständen besteht kein ausreichender Anlaß, der Befugnis, der Aufsichtsbehörde zu Fehlerberichtigungen nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO dann Schranken zu ziehen, wenn rechtskräftige Einspruchsentscheidungen vorliegen.

Andererseits kann der vorerwähnten älteren Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs zu § 212 Abs. 3 AO 1919 (jetzt § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO 1931), nach der bei rechtskräftigen Einspruchsentscheidungen eine Fehlerberichtigung gleichfalls ausgeschlossen war, vom Standpunkt des geltenden Rechts aus nicht mehr gefolgt werden. Die ältere Rechtsprechung geht gleichfalls vom Grundsatz der Gewaltenteilung aus. Auch sie unterscheidet zwischen verwaltender und rechtsprechender Tätigkeit; beide Tätigkeiten werden streng voneinander getrennt. Jedoch wird die Auffassung vertreten, daß die Entscheidung über Einsprüche keine Tätigkeit verwaltender, sondern eine solche rechtsprechender Art sei. Dieser Auffassung kann nach heutigem Recht nicht zugestimmt werden. Die Einspruchsentscheidung ist zwar eine Rechtsmittelentscheidung; sie ist aber, um es zu wiederholen, nach geltendem Recht nicht als Akt der Rechtsprechung, sondern als Verwaltungsakt anzusehen. Die Auffassung des Finanzgerichts, nach der auf Grund des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO eine Fehlerberichtigung auch dann zulässig ist, wenn eine rechtskräftige Einspruchsentscheidung vorliegt, ist somit frei von Rechtsirrtum.

Dagegen, daß die vom Finanzamt im Berichtigungsbescheid festgesetzte Steuer richtig berechnet wurde, sind in dieser Instanz Einwendungen nicht erhoben worden. Eine Nachprüfung hat keine Veranlassung zu Beanstandungen ergeben.

Die Rb. war somit als unbegründet zurückzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408875

BStBl III 1957, 423

BFHE 1958, 495

BFHE 65, 495

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge