Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Veranlagung unter Nachprüfungsvorbehalt

 

Leitsatz (NV)

1. Zu der Frage, ob das Finanzamt bei einer Veranlagung unter Nachprüfungsvorbehalt von der Steuererklärung abweichen darf.

2. Zu der Frage, ob das Finanzamt einen Nachprüfungsvorbehalt im Einspruchsverfahren aufrechterhalten darf.

 

Normenkette

AO 1977 §§ 164, 169 Abs. 1 S. 1, § 367 Abs. 2 S. 1

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Der unverheiratete Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist angestellter Vertreter. Seine Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit beliefen sich im Streitjahr auf 38 500 DM. In seiner Einkommensteuererklärung machte er Werbungskosten, hauptsächlich für Dienstreisen, in Höhe von 23 150 DM geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) errechnete, daß die Ausgaben (Werbungskosten, Steuerabzugsbeträge und Sonderausgaben) über den Einnahmen gelegen hätten. Das FA erkannte deshalb nur Werbungskosten in Höhe von 2 550 DM an.

Der Einkommensteuerbescheid 1980 erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977). Der Einspruch, mit dem der Kläger sein Begehren im wesentlichen weiterverfolgte, wurde vom FA als unbegründet zurückgewiesen; der Vorbehalt der Nachprüfung wurde aufrechterhalten.

Im Klageverfahren trug der Kläger vor, ihm habe aus dem Vorjahr eine Steuererstattung in Höhe von 4 500 DM zur Verfügung gestanden; außerdem seien seine Haushaltskosten niedrig gewesen, weil er gemeinsam mit seiner ebenfalls berufstätigen Freundin gewirtschaftet habe. Nach seiner spezifizierten Berechnung verbleibe ein Überschuß der Einnahmen von 15 000 DM.

Die Klage hatte aus formellen Gründen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, der angefochtene Bescheid und die Einspruchsentscheidung könnten keinen Bestand haben, weil das FA - ohne Zustimmung des Klägers - von der Steuererklärung abgewichen sei, ohne eine endgültige Steuerveranlagung vorzunehmen. Wie das FG Münster (Urteil vom 17. Februar 1981 VI 648/78 E, VI 5381/78 E, VI 3972/79 E, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1981, 324) entschieden habe, dürfe bei Veranlagungen unter Vorbehalt der Nachprüfung nur bei offensichtlicher Unrichtigkeit von der Steuererklärung abgewichen werden. Die

ser Rechtsauffassung schließe sich der Senat an. Von einer offensichtlichen Unrichtigkeit der Steuererklärung könne im Streitfall keine Rede sein. Davon könne nur ausgegangen werden, wenn der Steuerpflichtige in seiner Erklärung einem Irrtum unterlegen oder offenkundig einen Sachverhalt erfunden habe, um sich durch eine Vorbehaltsveranlagung zunächst einen Vorteil zu verschaffen. Beides sei hier nicht gegeben, zumal der Kläger mit einer Vorbehaltsveranlagung überhaupt nicht habe rechnen können. Schließlich erscheine es auch zumindest möglich, daß er andere Geldquellen gehabt habe.

Maßgebend für seine, des FG, Entscheidung sei auch gewesen, daß Steueransprüche im Wege der Eingriffsverwaltung grundsätzlich nur festgesetzt werden dürften, wenn deren Berechtigung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht festgestellt worden sei. Verzichte der Staat auf diese unabdingbare Prüfung, um eine möglichst frühzeitige Steuerzahlung zu erreichen, müsse er sich zwingend an die Steuererklärung halten. In der Steuererklärung bringe der Steuerpflichtige selbst zum Ausdruck, daß er die daraus sich ergebende Steuer schulde. Weiche das FA aber von der Steuererklärung zum Nachteil des Steuerpflichtigen ab und behalte es sich die weitere Nachprüfung vor, so habe es den Entstehungstatbestand nicht festgestellt und dieser Mangel sei auch nicht durch das in der Steuererklärung liegende Zugeständnis der Steuerschuld ausgeglichen.

Schließlich spreche dafür auch § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977, nach dem eine Änderung nur innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist möglich sei. Denn wenn das FA befugt sei, der Besteuerung einen ungeprüften Sachverhalt zugrunde zu legen, könne es nicht auch noch das Risiko der Unabänderbarkeit des Vorbehaltsbescheides dem Steuerpflichtigen in der Weise aufbürden, daß es von einem der Steuererklärung nicht entsprechenden und dem Steuerpflichtigen nachteiligen Sachverhalt ausgehe. Hiergegen richtet sich die Revision des FA. Es macht geltend, das FG habe § 164 Abs. 1 AO 1977 unrichtig angewandt.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Entgegen der Auffassung des FG war das FA verfahrensrechtlich nicht gehindert, eine von der Einkommensteuererklärung abweichende Einkommensteuerveranlagung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung durchzuführen. Wie der IV. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) nach Ergehen der Vorentscheidung mit Urteil vom 4. August 1983 IV R 79/83 (BFHE 139, 137, BStBl II 1984, 6) entschieden hat, besteht nach dem Sinn und Zweck des § 164 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 keine Veranlassung, die Vorschrift entgegen ihrem Wortlaut einschränkend dahin auszulegen, daß bei einer Veranlagung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nicht oder jedenfalls nur ausnahmsweise von der Steuererklärung abgewichen werden dürfe. Der IV. Senat hat darauf hingewiesen, daß nach dem Gesetzeswortlaut eine Vorbehaltsfestsetzung nur dann nicht zulässig sei, wenn der Steuerfall abschließend geprüft wurde, eine vorläufige, insbesondere eine auf einzelne Punkte beschränkte Nachprüfung des steuererheblichen Sachverhalts aber einer Vorbehaltsfestsetzung nicht im Wege stehe. Das entspreche auch dem Sinn der Vorschrift, die es dem FA ermöglichen solle, unter Zurückstellung seiner Pflicht zur umfassenden Ermittlung des Sachverhalts die Steuer alsbald festzusetzen. Es könne sich dabei allein an die Angaben des Steuerpflichtigen halten, sei aber nicht gehalten, nur diejenige Steuerschuld festzusetzen, zu der sich der Steuerpflichtige durch seine tatsächlichen Angaben in der Steuererklärung bekenne.

Dieser Auffassung des IV. Senats, der auch der VIII. Senat des BfH (Urteil vom 2. Oktober 1984 VIII R 20/84, BFHE 143, 304, 308, BStBl II 1985, 428, 430) gefolgt ist, schließt sich der erkennende Senat an. Mit Recht hat bereits der IV. Senat des BFH in der oben erwähnten Entscheidung darauf hingewiesen, daß die Vorschrift des § 164 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 auch auf Steuerfestsetzungen anwendbar ist, denen überhaupt keine Steuererklärung zugrunde liegt; dies hat der BFH bereits für den Fall der Schätzung von Besteuerungsgrundlagen ausgesprochen (Urteil vom 30. Oktober 1980 IV R 168-170/79, BFHE 132, 5, BStBl II 1981, 150; anderer Ansicht insoweit Schuhmann, Deutsche Steuer-Zeitung 1986, 161, 165 re. Sp.). Dann aber kann dem FA das Anstellen eigener Ermittlungen auch dann, wenn eine Steuererklärung vorliegt, nicht verwehrt sein. Es trifft also nicht zu, daß dem Steuerpflichtigen in derartigen Fällen - wie das FG meint - eine ungesetzliche Steuer auferlegt werde, weil ihr Entstehungstatbestand nicht festgestellt sei und dieser Mangel nicht durch ein entsprechendes Zugeständnis des Steuerpflichtigen ausgeglichen werde. Vielmehr hat der Gesetzgeber im Interesse einer beschleunigten Steuerfestsetzung bewußt in Kauf genommen, daß der steuererhebliche Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und die Steuerfestsetzung deshalb materiell unrichtig ist. Die Möglichkeit materieller Unrichtigkeit besteht im übrigen auch dann, wenn das FA der Erklärung des Steuerpflichtigen folgt; sie wird verringert, wenn das FA wenigstens gewisse Ermittlungen durchführt.

Auch die auf § 169 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 gestützten Bedenken des FG sind unbegründet; das von ihm befürchtete ,,Risiko der Unabänderbarkeit des Vorbehaltsbescheides" besteht nicht. Denn einmal kann der Steuerpflichtige gegen den Vorbehaltsbescheid Einspruch einlegen. Zum anderen kann er, solange der Vorbehalt wirksam ist, auch nach Ablauf der Einspruchsfrist gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 die Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung beantragen.

Der angefochtene Bescheid in der Form der Einspruchsentscheidung ist auch insofern verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, als das FA den Nachprüfungsvorbehalt im Einspruchsverfahren aufrechterhalten hat. Wie der BFH im Urteil vom 12. Juni 1980 IV R 23/79 (BFHE 130, 370, BStBl II 1980, 527) ausgeführt hat, ergibt sich die Befugnis der Finanzbehörde, den Nachprüfungsvorbehalt im Einspruchsverfahren aufrechtzuerhalten, daraus, daß das Gesetz die Entscheidung, ob ein Bescheid unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergehen soll, der Behörde übertragen hat. Müßte das FA aber auf einen Einspruch hin stets einen endgültigen Bescheid erlassen, so könnte der Steuerpflichtige einen Nachprüfungsvorbehalt durch Einlegen des Einspruchs in jedem Fall beseitigen.

Die Vorentscheidung, die auf einer anderen Rechtsauffassung beruht, ist aufzuheben. Die Sache ist nicht entscheidungsreif; sie muß deshalb gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das FG zurückverwiesen werden. Dieses wird über die Klage materiell zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414521

BFH/NV 1986, 715

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