Entscheidungsstichwort (Thema)

Einkommensteuerveranlagung trotz bestandskräftigen Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids

 

Leitsatz (NV)

1. Zur Frage, ob die Bestandskraft eines nach § 42 EStG ergangenen Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids einer Veranlagung und im Zusammenhang damit einer anderen rechtlichen Würdigung des Sachverhalts entgegensteht.

2. Zum Verbot des venire contra factum proprium bei Veranlagung nach Bestandskraft des Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids.

3. Zum Erfordernis einer erneuten mündlichen Verhandlung, wenn aufgrund der ersten mündlichen Verhandlung ein Vorlagebeschluß an den Großen Senat ergangen ist.

 

Normenkette

EStG 1977 §§ 42, 46; FGO § 11 Abs. 5, § 90

 

Verfahrensgang

FG Münster (Urteil vom 11.05.1982; Aktenzeichen VI 6115/80 E)

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist spanischer Staatsangehöriger. Er ist verheiratet und lebt seit 1969 als Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik). Seitdem unterhielt er hier mit seiner Ehefrau einen gemeinsamen Familienwohnsitz. Im Jahre 1974 kehrte die Ehefrau aus privaten (gesundheitlichen) Gründen nach Spanien zurück; sie begründete dort wieder den Familienhausstand.

Im Lohnsteuer-Jahresausgleich 1974 machte der Kläger einen erhöhten Werbungskostenabzug wegen Mehraufwendungen für doppelte Haushaltsführung mit der Begründung geltend, daß er seinen Familienwohnsitz wegen der endgültigen Rückkehr seiner Frau nach Spanien dorthin verlegt habe. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) anerkannte die geltend gemachten Aufwendungen für doppelte Haushaltsführung. Auch in den Folgejahren wurden entsprechende Mehraufwendungen als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt.

Beim Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1978 (Streitjahr) machte der Kläger, der lediglich Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit hatte, rund 9 500 DM Mehraufwendungen wegen doppelter Haushaltsführung geltend. Mit Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid vom 20. März 1979 berücksichtigte das FA diese Aufwendungen als Werbungskosten; dadurch ergab sich für den Kläger ein Erstattungsbetrag.

Beim Lohnsteuer-Jahresausgleich für das Jahr 1979 ging das FA davon aus, die doppelte Haushaltsführung sei nicht beruflich veranlaßt, weil die Ehefrau des Klägers aus privaten Gründen nach Spanien zurückgekehrt sei. Aus demselben Grund änderte das FA nun den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1978 unter Berufung auf § 173 der Abgabenordnung (AO 1977). Das FA veranlagte den Kläger für das Streitjahr zur Einkommensteuer. Dabei ergab sich gegen diesen eine Steuernachforderung.

Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) der Klage in dem in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1982, 572 veröffentlichten Urteil statt.

Mit der Revision gegen dieses Urteil rügt das FA Verletzung der Vorschriften der §§ 42, 46 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1977 sowie der §§ 155, 173 AO 1977. Es ist der Auffassung, daß bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine Einkommensteuerveranlagung keine Bindung an die im Lohnsteuer-Jahresausgleich ergangene Entscheidung bestehe. Diese Auffassung vertritt auch der dem Verfahren beigetretene Bundesminister der Finanzen (BMF).

Dagegen ist der Kläger der Ansicht, das FA sei an den Bescheid über den Lohnsteuer-Jahresausgleich gebunden.

Mit Vorbescheid vom 14. April 1983 hat der erkennende Senat die Revision des FA zurückgewiesen. Er hat darin zwar die Auffassung vertreten, daß die Bestandskraft eines Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids grundsätzlich nicht dem Erlaß eines Einkommensteuerveranlagungsbescheids entgegenstehe. Im vorliegenden Fall verbiete aber ausnahmsweise der Grundsatz von Treu und Glauben eine Einkommensteuerveranlagung. Auf Antrag des BMF hat der Senat in dieser Sache am 6. April 1984 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Aufgrund der mündlichen Verhandlung beabsichtigte er, die Revision zurückzuweisen. Er sah sich daran aber durch das Urteil des VIII. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 6. Dezember 1983 VIII R 196/82 (BFHE 140, 433, BStBl II 1984, 416) gehindert. Mit Beschluß vom 28. September 1984 legte der erkennende Senat die Sache deshalb dem Großen Senat des BFH zur Entscheidung vor (Leitsatz veröffentlicht in BFHE 142, 135, BStBl II 1985, 58). Der Große Senat hat mit Beschluß vom 21. Oktober 1985 GrS 2/84 (BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207) die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt entschieden: ,,Die Bestandskraft eines nach § 42 EStG ergangenen Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids hindert das FA nicht, denselben Steuerpflichtigen für dasselbe Kalenderjahr unter den Voraussetzungen des § 46 EStG zu veranlagen und dabei den gleichgebliebenen Sachverhalt rechtlich anders zu würdigen."

In der Begründung seiner Entscheidung, die in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 veröffentlicht ist, führt der Große Senat aus, daß angesichts der unterschiedlichen Zielrichtung der Lohnsteuerfreistellung (Lohnsteuererstattung) einerseits und der Einkommensteuerveranlagung andererseits das Verhältnis der sie regelnden Bescheide zueinander nicht durch die Bestandskraft des Bescheids nach § 42 Abs. 5 EStG und den ihr zugrundeliegenden Grundsatz der Rechtssicherheit, sondern nach dem Grundsatz der gleichmäßigen zutreffenden Besteuerung bestimmt werde. Führe das FA einen Lohnsteuer-Jahresausgleich durch, so schließe das nicht aus, daß auf Grund der Prüfung der Voraussetzungen für eine Einkommensteuerveranlagung durch die Veranlagungsstelle später gleichwohl ein Einkommensteuerbescheid ergehen müsse, wenn das FA erkenne, daß die Voraussetzungen für eine Einkommensteuerveranlagung gegeben seien.

 

Entscheidungsgründe

Der erkennende Senat ist an diese Entscheidung des Großen Senats gemäß § 11 Abs. 5 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gebunden. Die Revision des FA ist deshalb begründet.

Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die vom Kläger im Streitjahr 1978 geltend gemachten Mehraufwendungen wegen doppelter Haushaltsführung nicht als Werbungskosten hätten berücksichtigt werden dürfen, weil die Ehefrau des Klägers aus privaten Gründen an ihren früheren Wohnort zurückgekehrt war (vgl. BFH-Urteil vom 2. Dezember 1981 VI R 22/80, BFHE 135, 182, BStBl II 1982, 323). Da der Kläger folglich die beantragten Mehraufwendungen von rund 9 500 DM bei seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit nicht hätte abziehen dürfen, überstieg sein Einkommen (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 4 EStG) die 24 000 DM-Grenze des § 46 Abs. 1 Nr. 2 EStG, so daß eine Einkommensteuerveranlagung des Klägers von vornherein geboten war, weil seine Ehefrau im Streitjahr nicht der unbeschränkten Steuerpflicht unterlegen hatte (§ 32a Abs. 5, § 26 Abs. 1, § 1 EStG).

Die Einkommensteuerveranlagung des Klägers für das Streitjahr ist demnach sachlich nicht zu beanstanden; der Kläger hat auch keine sachlichen Einwendungen erhoben. Er hat lediglich geltend gemacht, nach bestandskräftigem Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheid dürfe eine Veranlagung für dasselbe Kalenderjahr nicht durchgeführt werden. Da diese Rechtsauffassung, der das FG gefolgt war, indessen nach der Entscheidung des Großen Senats in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 unzutreffend ist, war die Vorentscheidung des FG aufzuheben und die Klage gegen den Einkommensteuerbescheid vom 27. Mai 1980 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28. Oktober 1980 abzuweisen.

Allerdings hat der Senat, wie dargelegt, im Vorbescheid vom 14. April 1983 unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben die Auffassung vertreten, daß das Verbot des venire contra factum proprium einer Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr entgegenstehe. Der Große Senat hat unter C. III. a. E. seines Beschlusses in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 ausgeführt, daß er nicht darüber zu entscheiden habe, ob die Grundsätze von Treu und Glauben im Einzelfall das FA hindern, nach Rechtskraft eines Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheids einen Einkommensteuerbescheid zu erlassen. Die Entscheidung in BFHE 145, 147, BStBl II 1986, 207 bindet den erkennenden Senat also nicht dahingehend, daß unter allen Umständen eine Einkommensteuerveranlagung hier durchgeführt werden müsse. Der erkennende Senat ist nunmehr jedoch der Auffassung, daß die Grundsätze von Treu und Glauben der Einkommensteuerveranlagung 1978 nicht entgegenstehen.

Hätte der Senat diese Grundsätze für durchschlagend gehalten, wäre schon die Vorlage an den Großen Senat unzulässig, weil nicht entscheidungserheblich gewesen. Aber auch nach erneuter Überprüfung steht nach Auffassung des Senats das Verbot des venire contra factum proprium im Streitfall einer Einkommensteuerveranlagung nicht entgegen. Zwar hat das FA rechtsfehlerhaft zunächst einen Lohnsteuer-Jahresausgleich durchgeführt. Der Kläger ist dadurch günstiger gestellt worden, als er objektiv hätte stehen dürfen; denn er hat Steuerbeträge zu Unrecht erstattet erhalten. Daraus und aus der Tatsache, daß er auch in den Vorjahren - zu Unrecht - zu viel an Steuern zurückerstattet erhalten hat, kann er aber nicht für sich ableiten, diese Beträge weiterhin behalten zu dürfen, obwohl eine Einkommensteuerveranlagung grundsätzlich zulässig und damit geboten ist. Würde mit Rücksicht auf Treu und Glauben eine Einkommensteuerveranlagung im Streitfall ausgeschlossen, so würde das Ergebnis des Großen Senats gerade in sein Gegenteil verkehrt. Dies kann indessen nicht Rechtens sein, zumal der Kläger nicht geltend gemacht hat, er habe aufgrund der - zu Unrecht erfolgten - Erstattung des FA wirtschaftlich disponiert.

Die Verfahrensbeteiligten haben nicht auf mündliche Verhandlung verzichtet. Zwar hat der Senat am 6. April 1984 eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Die aufgrund dieser mündlichen Verhandlung ergangene Entscheidung war aber der Vorlagebeschluß an den Großen Senat. Der erkennende Senat müßte deshalb vor Erlaß eines Urteils erneut eine mündliche Verhandlung durchführen. Mit Rücksicht auf die Entscheidung des Großen Senats erscheint es ihm jedoch gerechtfertigt, zunächst durch Vorbescheid zu entscheiden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414461

BFH/NV 1986, 536

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