Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine unter 10 v. H. des Umsatzes liegende Erhöhung des Umsatzes und des Gewinns (vgl. Urteile des Reichsfinanzhofs VI A 765/36 vom 30. September 1936, RStBl 1936 S. 996, und VI A 418/36 vom 13. Januar 1937, RStBl 1937 S. 317) im Schätzungswege kann auch bei formell ordnungsmäßigen Aufzeichnungen gerechtfertigt sein, wenn die auf den inneren Betriebsvergleich gestützte Verprobung durch das Finanzamt einen erheblichen Anlaß bietet, an der sachlichen Richtigkeit der Aufzeichnungen zu zweifeln, und wenn der Steuerpflichtige keine glaubhaften Einwendungen gegen das Ergebnis der Verprobung erheben kann.

 

Normenkette

AO § 217

 

Tatbestand

Zu entscheiden ist für den Veranlagungszeitraum 1955, ob eine Schätzung schon deshalb dem Grunde nach unzulässig ist, weil der erklärte Umsatz des Steuerpflichtigen, der formell ordnungsmäßige Aufzeichnungen führte, nur etwa 3 % unter dem kalkulatorisch ermittelten Umsatz und der erklärte Gewinn rund 23 % unter dem vom Finanzamt geschätzten Reingewinn liegen.

Der Steuerpflichtige betreibt den Einzelhandel mit Tabakwaren, Zeitungen und Papierwaren. Außerdem unterhält er eine Toto- Annahmestelle. Er ermittelt seinen Gewinn nach dem überschuß der Einnahmen über die Ausgaben (§ 4 Abs. 3 EStG) und führte formell ordnungsmäßige Aufzeichnungen. Für das Jahr 1955 erklärte er einen Gesamtumsatz von 60.512,70 DM, von dem 2.102,40 DM auf Toto- Entgelte entfielen. Die verbleibenden 58.410,30 DM stammten zu 93 % (= 54.321,30 DM) aus dem Verkauf von Tabakwaren und Zeitungen. Der Wareneinsatz betrug insgesamt 49.531 DM. Der Steuerpflichtige erklärte einen gewerblichen Gewinn von 5.725 DM.

Das Finanzamt hielt den erklärten Umsatz für zu niedrig und ließ sich vom Steuerpflichtigen den Wareneinsatz nach Warengruppen aufgliedern und die jeweiligen Aufschlagsätze mitteilen. Der Steuerpflichtige gab als Aufschlag auf den Wareneinsatz bei Tabakwaren 16 %, bei Zeitungen 25 % und bei Schreibwaren 35 % an. Im Verlauf weiterer Ermittlungen des Finanzamts übersandte der Steuerpflichtige Aufstellungen über die Preise der in den Monaten Januar, Juni und Dezember 1955 eingekauften und verkauften Tabakwaren sowie über die Preise der im Januar 1955 eingekauften und verkauften Zeitungen. Die Einkaufs- und Verkaufspreise für Zeitungen blieben nach seinen Angaben auch während der übrigen Monate gleich. Das Finanzamt legte die Angaben des Steuerpflichtigen seiner Verprobung zugrunde und errechnete durchschnittliche Rohgewinnaufschläge von 17,5 % für Tabakwaren und von 31 % bei Zeitungen. Bei den Schreibwaren hielt der Steuerpflichtige nach einer von ihm durchgeführten Umsatzverprobung den vom Finanzamt angesetzten Rohgewinnaufschlag von 39 % für angemessen.

Das Finanzamt berechnet nach den so ermittelten Rohgewinnaufschlägen und nach dem vom Steuerpflichtigen angegebenen Wareneinsatz einen Umsatz von 61.863 DM (einschließlich der Entgelte aus der Toto-Annahmestelle) und unter Abzug der vom Steuerpflichtigen geltend gemachten Betriebsausgaben und von 600 DM für Warenverluste einen Gewinn aus Gewerbebetrieb von 7.277 DM. Die Einsprüche des Steuerpflichtigen blieben ohne Erfolg.

Die Berufung des Steuerpflichtigen hatte im wesentlichen Erfolg. Die Vorinstanz hielt die Schätzungen nicht für zulässig, da die geringen Abweichungen des vom Steuerpflichtigen erklärten, von dem vom Finanzamt kalkulatorisch ermittelten Umsatz eine Verwerfung der formell ordnungsmäßigen Aufzeichnungen nicht rechtfertige. Die Rohgewinnaufschläge des Finanzamts seien durch nichts erwiesen; Richtsätze für den Tabakwareneinzelhandel seien von der Finanzverwaltung nicht aufgestellt worden. Der Steuerpflichtige habe jedoch zu Unrecht eine Rückstellung von 500 DM vorgenommen, die aufgelöst werden müsse und die den erklärten Gewinn auf 6.225 DM erhöhe.

Der Vorsteher des Finanzamts rügt mit der Rb. Verstoß wider den klaren Inhalt der Akten und einen wesentlichen Verfahrensmangel. Einen Verstoß wider den klaren Inhalt der Akten sieht er in den Ausführungen der Vorinstanz, die vom Finanzamt bei der Verprobung angesetzten Rohgewinnaufschläge seien durch nichts gerechtfertigt. Aus den Akten ergebe sich, daß bei der Verprobung diejenigen Rohgewinnaufschläge angesetzt worden seien, die das Finanzamt auf Grund der vom Steuerpflichtigen mitgeteilten Einkaufs- und Verkaufspreise ermittelt habe. Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens sei gegeben, weil die Vorinstanz den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt habe. In den Schriftsätzen beider Beteiligten sei von Erfahrungs- und Richtsätzen die Rede gewesen. Wäre die Vorinstanz ihrer Ermittlungspflicht nachgekommen, hätte sie festgestellt, daß der Regionalverband der Tabakwareneinzelhändler laufend Richtsätze für den Tabakwareneinzelhandel veröffentliche. Mit diesen Richtsätzen stimmten die bei der Verprobung angesetzten Aufschläge überein.

Der Steuerpflichtige ist der Ansicht, daß eine Schätzung wegen seiner ordnungsmäßigen Aufzeichnungen und der Differenz von nur 3 % zwischen dem erklärten und dem durch Verprobung ermittelten Umsatz nicht zulässig sei. Im übrigen sei die Verprobung bei Tabakwaren nur für drei Monate, bei Zeitungen und Papierwaren nur für einen Monat des Jahres 1955 durchgeführt worden. Sie könne die wirklichen Verhältnisse deshalb nur annähernd wiedergeben. Innerhalb der verkauften Warengattungen träten laufend Verschiebungen ein. Bei den Tabakwaren schwankten die Verdienstspannen zwischen 14 und 23 %. Bei Zeitungen und Zeitschriften sei eine genaue Verprobung nicht möglich, weil sie zum großen Teil ohne spezifizierte Rechnung eingekauft würden und deshalb nicht zu ermitteln gewesen sei, inwieweit es sich um Artikel mit 20 oder mit 30 % Gewinnspanne gehandelt habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist begründet.

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Vorwurf mangelnder Sachaufklärung, den der Vorsteher des Finanzamts der Vorinstanz machte, begründet ist, oder ob die Vorinstanz zu Nachforschungen darüber verpflichtet war, ob Erfahrungs- und Richtsätze der Berufsverbände vorlagen, obwohl das Finanzamt seine Schätzung im wesentlichen mit dem Ergebnis seines inneren Betriebsvergleichs begründete. Denn in jedem Fall liegt in der Feststellung der Vorinstanz, daß die Rohgewinnaufschläge, die das Finanzamt seiner Schätzung zugrunde gelegt habe, durch nichts erwiesen seien, ein rechtzeitig vom Finanzamt gerügter Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten. Die Akten ergeben mit Deutlichkeit, daß das Finanzamt nur von den sich aus den eigenen Angaben des Steuerpflichtigen ergebenden Rohgewinnsätzen ausging und diese Sätze auf den unstreitigen Wareneinsatz anwandte. Da die Möglichkeit besteht, daß die Vorinstanz anders entschieden hätte, wenn sie von dieser Feststellung nicht ausgegangen wäre, muß die Vorentscheidung schon aus diesem Grunde aufgehoben werden (§ 288 Ziff. 1, § 296 Abs. 1 AO). Der Senat ist in der Lage, in der Sache selbst zu entscheiden.

Dem Steuerpflichtigen ist darin zu folgen, daß formell ordnungsmäßige Aufzeichnungen die Vermutung sachlicher Richtigkeit für sich haben. Diese Vermutung kann dadurch widerlegt sein, daß ein erheblicher Anlaß besteht, die sachliche Richtigkeit der formell ordnungsmäßigen Aufzeichnungen in Zweifel zu ziehen (§ 208 Abs. 1 Satz 1 AO). Aus dem Wortlaut der bezeichneten Vorschrift ergibt sich, daß die Berechtigung der Schätzung nicht davon abhängt, daß das Ergebnis der formell ordnungsmäßigen Aufzeichnungen schlechthin ausgeschlossen ist. Es muß nur ein erheblicher Anlaß zur Schätzung vorliegen, an dem um so größere Anforderungen zu stellen sind, je mehr die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, daß unaufgeklärte und vom Steuerpflichtigen nicht in allen Einzelheiten aufklärbare Umstände die Abweichung von den aus dem inneren oder äußeren Betriebsvergleich gewonnenen Roh- oder Reingewinnsätzen rechtfertigen. Will das Finanzamt seine Schätzungsbefugnis bei formell ordnungsmäßiger Buchführung ausschließlich mit den aus dem äußeren Betriebsvergleich gewonnenen Erfahrungen, also nur unter Hinweis auf Erfahrungs- und Richtsätze, begründen, so kann es Fälle geben, in denen die an die Erheblichkeit des Schätzungsanlasses zu stellenden Anforderungen so weit gehen, daß die Richtigkeit des vom Steuerpflichtigen ausgewiesenen Ergebnisses ausgeschlossen sein muß. Von diesen Grundsätzen geht der Reichsfinanzhof im Urteil VI A 765/36 vom 30. September 1936, RStBl 1936 S. 996, aus und nimmt an, daß bei einem Umsatz von über 100.000 DM die Feststellung der Unmöglichkeit der Richtigkeit des Buchergebnisses im allgemeinen nur dann getroffen werden kann, wenn die Abweichung beim Umsatz wenigstens 10 % ausmacht. Im Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 418/36 vom 13. Januar 1937, RStBl 1937 S. 317, dessen Ausführungen sich der Bundesfinanzhof im Urteil IV 345/52 U vom 26. Februar 1953, BStBl 1953 III S. 323, Slg. Bd. 58 S. 85, zu eigen gemacht hat, wird klargestellt, daß diese strengen Anforderungen an die Berechtigung einer Schätzung bei formell ordnungsmäßiger Buchführung (10 % - Grenze vom Umsatz und Unmöglichkeit des Buchergebnisses) dann nicht gestellt werden können, wenn das Finanzamt das von ihm behauptete Mißverhältnis zwischen dem Buchergebnis und dem von ihm für richtig gehaltenen Ergebnis in anderer Weise, z. B. durch einen sich aus der Buchführung ergebenden auffallend niedrigen Rohgewinnsatz, rechtfertigt.

Geht man von den Grundsätzen des Urteils des Reichsfinanzhofs VI A 418/36 aus, so kann der Steuerpflichtige der Berechtigung der Schätzung seines Umsatzes und seines Gewinns nicht allein damit entgegentreten, daß der Unterschied zwischen dem von ihm ausgewiesenen Umsatz und dem vom Finanzamt geschätzten Umsatz sich nur um 3 % bewege. Denn das Finanzamt ging bei seiner Verprobung nicht von aus dem äußeren Betriebsvergleich gewonnenen Erfahrungssätzen, sondern von den Rohgewinnaufschlägen aus, die der Steuerpflichtige selbst angegeben hatte, oder die sich unmittelbar aus seinen eigenen Aufzeichnungen ableiten ließen. Damit war ein erheblicher Teil möglicher Fehlerquellen ausgeschlossen. Es kommt weiter entscheidend hinzu, daß 93 % des Umsatzes des Steuerpflichtigen in Tabakwaren und Zeitungen bestand, bei denen mit festen Einkaufs- und Verkaufspreisen und einem geringen Schwund zu rechnen war. Unter diesen Umständen muß der Einwand des Steuerpflichtigen, daß die Umsatzverprobung nur zu annähernd richtigen Werten geführt habe und das Ergebnis seiner Aufzeichnungen nicht erschüttert worden sei, zurückgewiesen werden. Es wäre Sache des Steuerpflichtigen gewesen, wenigstens einleuchtende Erklärungen dafür zu geben, warum er die aus seinen eigenen Angaben errechneten Rohgewinne nicht erzielt habe, wobei nicht unberücksichtigt bleiben kann, daß die von ihm behaupteten Rohgewinne sich nicht einmal im unteren Rahmen der von seiner eigenen Berufsvertretung angegebenen Erfahrungssätze hielten. Die vom Steuerpflichtigen gegebene Erklärung, daß die Umsatzdifferenzen auf Diebstahl, Bruch und Kassenmankos zurückzuführen seien, kann nicht überzeugen, weil sich dann, wie das Finanzamt unwidersprochen berechnete, aus diesen Umständen ein monatlicher Verlust von etwa 165 DM ergeben haben müßte, was bei der Art und dem Umfang des Betriebs des Steuerpflichtigen unwahrscheinlich ist. Bei der Entscheidung darüber, ob die Schätzung des Finanzamts zu einer ins Gewicht fallenden Abweichung vom Ergebnis der formell ordnungsmäßigen Aufzeichnungen führt, kann, wenn aus der Umsatzschätzung auch eine Erhöhung des Gewinns gefolgert wird, das Verhältnis des geschätzten Gewinns zum ausgewiesenen Gewinn nicht außer Betracht bleiben. Das gilt besonders in den Fällen, in denen sich die geschätzte Umsatzerhöhung in vollem Umfang als Gewinnerhöhung auswirkt.

Der Senat schließt sich daher nach Aufhebung der Vorentscheidung der Schätzung des Finanzamts an und weist die Berufung des Steuerpflichtigen als unbegründet zurück.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411199

BStBl III 1964, 381

BFHE 1964, 410

BFHE 79, 410

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