Leitsatz (amtlich)

1. Weist das FG eine nicht erhobene Klage ab, so ist die dadurch begründete Beschwer des "Klägers" bei der Bestimmung des Wertes des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren zu berücksichtigen.

2. Das Halten von "Berlin-Anhängern" mit regelmäßigem Standort im übrigen Bundesgebiet begründete in der Zeit vor dem 1.Januar 1977 auch unter dem Gesichtspunkt des Mißbrauchs von Gestaltungsmöglichkeiten keine Kraftfahrzeugsteuerpflicht (Anschluß an BFHE 144, 176).

 

Orientierungssatz

1. § 6 Abs. 1 und 2 StAnpG versagte nur im Falle des Mißbrauchs von Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts der Umgehung der Steuerpflicht die Wirkung und ließ die Steuer so entstehen, wie sie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entstanden wäre (vgl. BFH-Urteil vom 13.8.1985 VII R 172/83). § 42 AO 1977 dagegen läßt den Steueranspruch bei Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts und des öffentlichen Rechts entstehen.

2. Hat das FG --auch-- eine nicht erhobene Klage abgewiesen, so ist der Kläger allein dadurch --zusätzlich-- beschwert. Obgleich insoweit die Klageabweisung mangels eines Streitgegenstandes ins Leere geht, und für den Fall, daß sie formell rechtskräftig werde würde, Bindungswirkung nicht entfalten könnte, so wirkt sie doch zuungunsten des Klägers und begründet damit eine materielle Beschwer (zum Begriff vgl. BFH-Beschluß vom 15.11.1971 GrS 7/70). Soweit das FG nicht nur über den Streitgegenstand entschieden hat, muß die Vorentscheidung schon deshalb aufgehoben werden, weil sie insoweit entgegen § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO über das Klagebegehren hinaus gegangen ist.

 

Normenkette

FGO § 65 Abs. 1 S. 1, §§ 95, 96 Abs. 1 S. 2, § 110 Abs. 1 S. 1, § 115 Abs. 1; KraftStG 1972 § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 4 Nr. 1 Buchst. a; KraftStGÄndG BE § 1 Nr. 1; StAnpG § 6 Abs. 1-2; StVZO § 27 Abs. 4 S. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 23 Abs. 1 S. 4 Nr. 1; ZPO § 3; AO 1977 § 42

 

Tatbestand

I. Der Kläger erwarb im September 1973 sechs Sattelanhänger, die für ein Unternehmen mit Sitz in Köln in Berlin (West) zum Verkehr zugelassen worden waren. Im März 1974 fertigte die Zulassungsstelle in Berlin neue Fahrzeugpapiere für den Kläger aus, nachdem dieser Berlin als regelmäßigen Standort der Fahrzeuge und als seinen Wohnsitz angegeben hatte. Für das Halten der Fahrzeuge wurde Kraftfahrzeugsteuer aufgrund besonderer Befreiungsvorschriften des Berliner Landesrechts zunächst nicht erhoben. Das Finanzamt --FA-- gelangte 1978 zu der Feststellung, daß die Anhänger von Anfang an ihren Standort nicht in Berlin, sondern im übrigen Bundesgebiet gehabt hätten, und erließ gegen den Kläger Kraftfahrzeugsteuerbescheide, durch die Kraftfahrzeugsteuer in Höhe von insgesamt 35 799,50 DM für das Halten der sechs Anhänger in der Zeit von März 1974 bis zu verschiedenen Zeitpunkten in den Jahren 1974/75, längstens bis 23.Juni 1975, festgesetzt wurde. Gegen die Steuerbescheide legte der Kläger Einspruch ein. Durch Einspruchsentscheidung vom 6.Juli 1979 wies das FA den gegen den Kraftfahrzeugsteuerbescheid vom 17.August 1978 für das Halten des Sattelanhängers mit dem amtlichen Kennzeichen B-... gerichteten Einspruch zurück. Das Finanzgericht (FG) wies die vom Kläger unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung erhobene Klage, die es als gegen alle sechs Kraftfahrzeugsteuerbescheide gerichtet ansah, mit der Begründung ab, die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach Berliner Landesrecht --Begründung eines tatsächlichen Standorts in Berlin-- seien nicht gegeben gewesen; darauf, ob das FA für die Steuererhebung örtlich zuständig sei, komme es nicht an.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, das FG habe, offensichtlich irrtümlich, über fünf nicht mit der Klage angegriffene Steuerbescheide entschieden; insoweit sei auch das Vorverfahren noch nicht abgeschlossen gewesen. Gleichwohl sei die Revision zulässig, weil die unterlegene Prozeßpartei über den Wert des Klagebegehrens hinaus beschwert sei, wenn die Vorinstanz über das Klagebegehren hinausgegangen sei. Auch in sachlicher Hinsicht sei die Vorentscheidung unrichtig.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist zulässig, und zwar als Streitwertrevision nach § 115 Abs.1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. Art.1 Nr.5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs in der bis zum 16.Juli 1985 geltenden Fassung. Ob die Revision zulässig ist, hat der Bundesfinanzhof (BFH) von Amts wegen zu prüfen (§ 124 FGO). Die Prüfung ergibt, daß das FG nicht nur über die Klage entschieden hat, die sich, wie aus der in der Klageschrift enthaltenen Bezugnahme auf die Einspruchsentscheidung folgt, gegen den durch diese bestätigten Kraftfahrzeugsteuerbescheid über 3 123,60 DM für das Halten des Sattelanhängers mit dem amtlichen Kennzeichen B-... in der Zeit vom 18.März 1974 bis 5.Februar 1975 richtet, sondern auch über eine vermeintliche Klage gegen weitere Kraftfahrzeugsteuerbescheide. Diese Bescheide sind in der Klageschrift weder bezeichnet noch sonst hinreichend deutlich angesprochen (vgl. § 65 Abs.1 Satz 1 FGO); auch sind diesbezügliche Einspruchsentscheidungen nicht erwähnt. Der Wert des Streitgegenstandes übersteigt, soweit die gegen den im Streit befindlichen Steuerbescheid erhobene Klage abgewiesen worden ist, nicht den maßgebenden Betrag von 10 000 DM. Der Wert des Streitgegenstandes (Wert der Beschwer) für die Revision kann im allgemeinen nicht höher sein als der ursprüngliche Wert des Streitgegenstandes, d.h. des Klagebegehrens i.S. von § 96 Abs.1 Satz 2 FGO (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, 1977, § 115 Anm.4 A; BFH-Beschluß vom 10.August 1978 IV R 12/78, BFHE 126, 3, BStBl II 1979, 27). Dies gilt indessen nur für den Regelfall, daß "über die Klage" entschieden worden ist (vgl. § 95 FGO). Hat das Gericht --auch-- eine nicht erhobene Klage abgewiesen, so ist der Kläger allein dadurch --zusätzlich-- beschwert. Obgleich insoweit die Klageabweisung mangels eines Streitgegenstandes ins Leere geht, sie --formell rechtskräftig geworden-- Bindungswirkung nicht entfalten könnte (vgl. § 110 Abs.1 Satz 1 FGO), so wirkt sie doch zu Ungunsten des Klägers und begründet damit eine materielle Beschwer (zum Begriff BFH-Beschluß vom 15.November 1971 GrS 7/70, BFHE 103, 456, 459, BStBl II 1972, 120, 122). Diese ist bei der Bestimmung des Wertes des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren zu berücksichtigen, hier mit der Folge, daß der Wert den maßgebenden Betrag übersteigt, wenn --wie geboten (vgl. BFH-Urteil vom 14.Januar 1969 II R 71/67, BFHE 95, 227, 228 f., BStBl II 1969, 408)-- zur Ermittlung der Revisionssumme des einheitlichen Verfahrens die Steuerbeträge der gegen den Kläger erlassenen Kraftfahrzeugsteuerbescheide zusammengerechnet werden.

Die Revision ist auch begründet.

Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und in der Sache, da der Senat in dieser selbst entscheiden kann (§ 126 Abs.3 Nr.1 FGO), zur Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen.

Soweit das FG nicht nur über den Streitgegenstand (§ 65 Abs.1 Satz 1 FGO) --die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Steuerbescheids (vgl. BFH-Beschluß vom 26.November 1979 GrS 1/78, BFHE 129, 117, 123, BStBl II 1980, 99, 102 mit weiterem Rechtsprechungsnachweis; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11.Aufl., § 65 FGO Tz.3; enger Gräber, a.a.O., § 65 Anm.3 A, C *= S.175 f.)-- entschieden hat, muß die Vorentscheidung schon deshalb aufgehoben werden, weil sie insoweit entgegen § 96 Abs.1 Satz 2 FGO über das Klagebegehren hinausgeht. Hinsichtlich der fünf nicht mit der Klage angegriffenen Kraftfahrzeugsteuerbescheide fehlt es an einem Klagebegehren, damit an der Grundvoraussetzung einer Sachentscheidung (vgl. BFHE 129, 117, 124, BStBl II 1980, 99, 102). Über die Rechtmäßigkeit dieser Bescheide war im vorliegenden Verfahren nicht zu befinden. § 45 Abs.1 FGO ist schon deshalb nicht einschlägig, weil die Klage nicht gegen diese Bescheide gerichtet ist.

Die Klage wegen der Besteuerung des Haltens des Anhängers B-... hat das FG zu Unrecht abgewiesen. Der Kläger schuldet die von ihm geforderte Kraftfahrzeugsteuer nicht, weil das Halten des für ihn in Berlin (West) zugelassenen Anhängers --Steuertatbestand nach § 1 Abs.1 Nr.1, § 4 Nr.1 Buchst.a des Kraftfahrzeugsteuergesetzes (KraftStG) 1972--, da es sich auf einen vor dem 1.Januar 1977 liegenden Zeitraum beschränkte, nach den bis zum 30.April 1978 maßgebenden Vorschriften des Berliner Landesrechts von der Kraftfahrzeugsteuer befreit war.

Wie der Senat mit Urteil vom 13.August 1985 VII R 172/83 (BFHE 144, 176, 179, BStBl II 1985, 636, 638) entschieden hat, war nach diesen Vorschriften --§ 1 Nr.1 der Durchführungsbestimmungen vom 16.September 1950 zu dem durch (Landes-)Gesetz vom 3.August 1950 geänderten KraftStG (Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin Sb II 6111 - 2)-- das Halten in Berlin (West) zugelassener Kraftfahrzeuganhänger schlechthin, ohne Rücksicht auf deren tatsächlichen Standort, von der Kraftfahrzeugsteuer befreit. In der unzutreffenden Angabe eines regelmäßigen Standorts in Berlin hat der Senat auch keine für die Besteuerung unerhebliche Scheinhandlung (§ 41 Abs.2 der Abgabenordnung --AO 1977--; früher § 5 Abs.1 des Steueranpassungsgesetzes --StAnpG--) gesehen. Allerdings hat der Senat zugleich entschieden, daß unter der Geltung von § 42 AO 1977 ein Kraftfahrzeugsteueranspruch entstand, wenn die Zulassung der Anhänger in Berlin (West) in Ermangelung eines dortigen regelmäßigen Standorts mißbräuchlich erwirkt worden war; für die Steuerfestsetzung ist dann die Finanzbehörde örtlich zuständig, in deren Bezirk das Fahrzeug zuzulassen gewesen wäre (BFHE 144, 176, 181, 185, BStBl II 1985, 636, 639, 641).

Wären diese Grundsätze im Streitfall anwendbar, so schuldete der Kläger die gegen ihn festgesetzte Kraftfahrzeugsteuer. Denn die vom FG getroffenen Feststellungen rechtfertigen die Folgerung, daß der Kläger im März 1974 als Erwerber des Anhängers im Zusammenhang mit dem an die Zulassungsstelle in Berlin gerichteten Antrag auf Ausstellung neuer Fahrzeugpapiere unrichtige Angaben über den regelmäßigen Standort des Fahrzeugs gemacht und damit gegen § 27 Abs.4 Satz 1, Abs.2 Nr.1, § 23 Abs.1 Satz 4 Nr.1 der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung verstoßen hatte. Der darin liegende Mißbrauch von Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts, der zum Fortbestehen der Zulassung in Berlin, mithin zur Erwirkung einer nicht zustehenden Steuerbefreiung geführt hatte, begründete indessen nach den hier maßgebenden Vorschriften die Kraftfahrzeugsteuerpflicht nicht. Für die Zeit, in der der Anhänger für den Kläger zum Verkehr zugelassen war, war § 6 Abs.1 und 2 StAnpG maßgebend, der nur im Falle des Mißbrauchs vom Formen und Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts der Umgehung der Steuerpflicht die Wirkung versagte und die Steuer so entstehen ließ, wie sie bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entstanden wäre (vgl. auch BFHE 144, 176, 182, BStBl II 1985, 636, 640). Diese Vorschrift war enger gefaßt als die des § 42 AO 1977, die sie mit Wirkung vom 1.Januar 1977 abgelöst hat (Art.96 Nr.5 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung vom 14.Dezember 1976, BGBl I 1976, 3341, BStBl II 1976, 694; § 415 Abs.1 AO 1977) und die den Steueranspruch bei Mißbrauch --auch-- von Gestaltungsmöglichkeiten des öffentlichen Rechts entstehen läßt. Gestaltungsmöglichkeiten des bürgerlichen Rechts hat der Kläger durch seinen mit unzutreffender Standortangabe gestellten Antrag an die Zulassungsstelle in Berlin aber nicht mißbraucht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 61315

BStBl II 1986, 571

BFHE 146, 279

BFHE 1986, 279

DB 1986, 1660-1660 (S)

HFR 1986, 415-416 (ST)

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