Entscheidungsstichwort (Thema)

Billigkeitserlaß; Empfangsvollmacht für Steuerberater

 

Leitsatz (NV)

1. Eine falsche Steuerfestsetzung kann nur dann zu einem Billigkeitserlaß führen, wenn die Fehlerhaftigkeit offensichtlich und eindeutig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Die Voraussetzungen der offensichtlich und eindeutig falschen Steuerfestsetzung sowie der Unmöglichkeit des rechtzeitigen Vorgehens gegen diese Festsetzung müssen kumulativ nebeneinander vorliegen.

2. Zur Frage, ob die Voraussetzungen für den Billigkeitserlaß abgemildert sind, wenn die Verwaltung die Unanfechtbarkeit des jeweiligen Bescheids in zurechenbarer Weise verursacht hat.

3. Entscheidend für die Auslegung einer Empfangsvollmacht für einen Steuerberater sind nicht die Motive des Steuerpflichtigen für deren Erteilung, sondern der in der Urkunde zum Ausdruck gekommene Wille des Vollmachtgebers.

 

Normenkette

AO 1977 § 122 Abs. 1 S. 3, § 227

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist gelernter Schweißer. Er meldete am 2. Mai 1980 den Gewerbebetrieb ... an. Nach Abmeldung dieses Betriebs am 22. November 1981 eröffnete er am 23. November 1981 den Gewerbebetrieb ... Er stellte diesen Betrieb zum 30. Juni 1982 wieder ein. Am 9. Juli 1980 hatte er dem damals zuständigen Finanzamt eine schriftliche Vollmacht für den Steuerberater A eingereicht, in der es wörtlich heißt:

"Folgende Bescheide, die von den Erklärungen und Anträgen abweichen, sind nur dem Berater zuzustellen: Steuer-, Feststellungs- und Steuermeßbescheide. Andere Steuerbescheide, Zahlungen und Anfragen des Finanzamts über Sachverhaltsfragen sind dem Vollmachtgeber zuzustellen" (Unterstreichungen wie im Original).

Der Kläger gab für die Kalenderjahre 1980 bis 1982 keine Einkommensteuer- und Umsatzsteuererklärungen ab. Der damalige Bevollmächtigte, der Steuerberater A, hatte lediglich einen Fristverlängerungsantrag für die Steuern 1980 bis zum 28. Februar 1982 gestellt. Aber auch daraufhin gingen keine Steuererklärungen beim Finanzamt ein.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt -- FA --) schätzte dann die Besteuerungsgrundlagen mit Bescheiden vom 21. Oktober 1982 (Umsatzsteuer 1980), 8. November 1982 (Einkommensteuer 1980), 20. April 1983 (Umsatzsteuer 1981), 13. Juni 1983 (Einkommensteuer 1981), 9. Februar 1984 (Umsatzsteuer 1982) und 13. Februar 1984 (Einkommensteuer 1982). Bei der Schätzung berücksichtigte das FA die Ergebnisse einer bei der B-GmbH durchgeführten Steuerfahndungsprüfung. Nach Auffassung der Steuerfahnder hatte zwischen dem Kläger und der geprüften Firma, für die der Kläger in den Streitjahren überwiegend tätig gewesen war, kein Subunternehmer-, sondern ein Arbeitnehmerverhältnis bestanden. Das FA ging daher bei seinen Schätzungen von Einkünften des Klägers aus nichtselbständiger Arbeit aus. Diese Einkünfte schätzte es auf ... DM (1980), ... DM (1981) und ... DM (1982). Das FA war ferner der Auffassung, daß der Kläger die in seinen Rechnungen ausgewiesene Umsatzsteuer gemäß §14 Abs. 3 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) schulde und setzte diese Umsatzsteuer für die Kalenderjahre 1980 bis 1982 jeweils auf ... DM fest.

Die Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide wurden jeweils an den Kläger persönlich adressiert und gesandt. Gegen den Umsatzsteuerbescheid 1982 (vom 9. Februar 1984) legte der Kläger durch den Steuerberater C rechtzeitig Einspruch ein und reichte die Umsatzsteuererklärung 1982 nach. Die Umsatzsteuer 1982 wurde daraufhin auf 0 DM festgesetzt.

Mit Schreiben vom 5. Januar 1987 beantragte der Kläger den Erlaß seiner übrigen Steuerschulden für die Streitjahre. Er begründete den Antrag damit, daß er für die Streitjahre keine Steuern habe zahlen müssen. Dies habe eine Überprüfung seiner Unterlagen durch einen Steuerberater ergeben. Die Bearbeitung seiner steuerlichen Angelegenheiten sei schon in den Streitjahren einem Steuerberater übertragen gewesen. Er sei deshalb davon ausgegangen, daß von diesem alle steuerlichen Fragen geregelt werden würden.

Die gesamten Steuerschulden beliefen sich im Zeitpunkt des Erlaßantrages auf insgesamt ... DM zuzüglich verwirkter Säumniszuschläge von ... DM. Das FA lehnte den Erlaß dieser Steuerschulden ab. Eine Rechtsbehelfsbelehrung war dem Ablehnungsbescheid nicht beigefügt.

Der Kläger legte dann durch seinen jetzigen Prozeßbevollmächtigten mit Schreiben vom 20. Mai 1987 Beschwerde gegen den Ablehnungsbescheid ein. Zur Begründung führte der Kläger an, die Schätzung anhand der zugrunde gelegten Ergebnisse stelle eine unzulässige Bestrafung dar. Durch Nichtbeachtung der Zustellungsvollmacht für seinen damaligen Bevollmächtigten habe das FA zudem in unkorrekter Weise dazu beigetragen, daß Bescheide unkontrolliert bestandskräftig geworden seien. Die Zustellungsvollmacht habe er -- der Kläger -- gerade wegen der häufigen Abwesenheit infolge seiner Montagetätigkeit erteilt.

Gleichzeitig mit der Beschwerde legte der Kläger Einspruch gegen die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre (1980 bis 1982) und den Umsatzsteuerbescheid 1981 ein und reichte die Einkommensteuererklärungen und die Umsatzsteuererklärungen (diese auch soweit kein Einspruch eingelegt war) nach. Die Einsprüche verwarf das FA als unzulässig.

Die Beschwerde gegen die Ablehnung des Erlaßantrages wies die Oberfinanzdirektion (OFD) als unbegründet zurück. Zur Begründung führte die OFD im wesentlichen aus, daß es dem Kläger möglich und zumutbar gewesen sei, die gegen die Höhe der Schätzungen vorgebrachten Einwendungen im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Steuerbescheide zu verfolgen. Eine offensichtlich und eindeutig falsche Schätzung sei nicht zu erkennen. Wie sich aus dem rechtzeitigen Einspruch gegen den Umsatzsteuerbescheid 1982 ergebe, sei der Kläger durch die Nichtbeachtung der Zustellungsvollmacht für den Steuerberater A nicht gehindert gewesen, Rechtsbehelfe einzulegen.

Die gegen die Ablehnung des Steuererlasses erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob den Ablehnungsbescheid des FA und die Beschwerdeentscheidung der OFD auf. Es vertrat die Auffassung, die Ermessensabwägungen durch das FA und durch die OFD seien nicht ordnungsgemäß. Zwar seien bestandskräftige Steuerfestsetzungen aus sachlichen Billigkeitsgründen nur ausnahmsweise dann aufzuheben oder abzuändern, wenn sie offensichtlich und eindeutig falsch seien und es dem Steuerpflichtigen schlechterdings nicht möglich und zumutbar gewesen sei, sich gegen die Fehlerhaftigkeit mit Rechtsbehelfen zu wehren. Im Streitfall seien die bestandskräftigen Steuerfestsetzungen zwar nicht so offensichtlich und eindeutig fehlerhaft, daß sich allein daraus der Erlaß rechtfertige. Zu beachten sei aber, daß auch ohne Vorliegen dieser Voraussetzung eine fehlerhafte Steuerfestsetzung dann zu einem Erlaß führen müsse, wenn die Verwaltung selbst dazu beigetragen habe, daß die Bescheide unanfechtbar geworden sind. Insoweit könnten Gesichtspunkte von Treu und Glauben für einen Erlaß sprechen. Mit diesem Gesichtspunkt habe sich die OFD in ihrer Beschwerdeentscheidung nicht ausreichend auseinandergesetzt. Denn die OFD habe ebenso wie das FA die Bedeutung der vom Kläger im Jahre 1980 eingereichten Empfangsvollmacht für den Steuerberater A und die dadurch ausgelösten Auswirkungen auf das Verhalten des Klägers verkannt. Die Vollmacht habe die Bekanntgabe von allen Bescheiden, die den Kläger abweichend von seinen Angaben belasteten, an den Steuerberater geboten. Dieser Inhalt der Vollmacht ergebe sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang der darin gebrauchten Formulierungen. Falls das FA Zweifel am Umfang der Vollmacht gehabt hätte, wäre eine Rückfrage beim Vollmachtgeber geboten gewesen. Allein die Bemerkung in der Beschwerdeentscheidung, daß der Kläger die Schätzungsbescheide durch Rechtsbehelf hätte anfechten und so die zu hohe Steuerfestsetzung ausschließen können, stelle keine ausreichende und der Sache angemessene Auseinandersetzung mit dieser Frage dar.

Gegen das Urteil des FG wendet sich das FA mit der vom Senat zugelassenen Revision. Das FA rügt sinngemäß die Verletzung der §§5, 122 und 227 der Abgabenordnung (AO 1977).

Nach Auffassung des FA ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), daß bestandskräftig festgesetzte Steuern nur dann im Billigkeitsverfahren nach §227 AO 1977 erlassen werden können, wenn die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren. Diese Voraussetzungen seien nicht alternativ, sondern kumulativ erforderlich. Dem FG sei darin zuzustimmen, daß die Steuerfestsetzung im Streitfall nicht offensichtlich und eindeutig falsch sei. Damit scheide aber schon ein Erlaß im Streitfall aus. Auf die vom FG dann weiter erörterte Frage, ob es dem Steuerpflichtigen möglich und zumutbar gewesen sei, sich gegen diese Steuerfestsetzung zu wehren, komme es nicht mehr an.

Im übrigen sei im Streitfall das rechtzeitige Vorgehen gegen die Steuerfestsetzungen dem Kläger auch möglich und zumutbar gewesen. Die andere Auffassung des FG könne nicht darauf gestützt werden, daß es -- das FA -- zur Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzungen beigetragen habe. Denn entgegen der Auffassung des FG sei die Bekanntgabe der Schätzungsbescheide an den Kläger selbst statt an seinen damaligen Bevollmächtigten (Steuerberater A) die einzig richtige Ermessensausübung i. S. von §122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 gewesen. Nach dem Inhalt der Vollmacht für den damaligen Bevollmächtigten seien Mahnungen wegen der Nichtabgabe der Steuererklärungen an den Kläger selbst zu richten gewesen. Da der Kläger hierauf niemals in irgendeiner Weise reagiert habe, sei das gleiche für die Bekanntgabe der Schätzungsbescheide geboten gewesen. Da die Bekanntgabe der Schätzungsbescheide an den Kläger selbst also richtig gewesen sei, habe es in der Beschwerdeentscheidung über die Ablehnung des Erlaßantrages auch keiner Ermessensabwägungen bedurft, wie ein Fehlverhalten des FA im Rahmen der Frage der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer rechtzeitigen Anfechtung der Schätzungsbescheide zu bewerten sei.

Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

Nach §227 AO 1977 können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen werden, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Diese Vorschrift dient nicht allgemein dazu, falsche Steuerfestsetzungen, gegen die kein Rechtsbehelf eingelegt worden ist, noch nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist zu korrigieren (vgl. u. a. BFH-Urteile vom 30. April 1981 VI R 169/78, BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611, und vom 26. Februar 1987 IV R 298/84, BFHE 149, 126, BStBl II 1987, 612). Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann eine falsche Steuerfestsetzung vielmehr nur dann zu einem Billigkeitserlaß führen, wenn die Fehlerhaftigkeit offensichtlich und eindeutig ist und wenn es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit rechtzeitig zu wehren (vgl. BFH-Urteile vom 11. August 1987 VII R 121/84, BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512; in BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht gegeben. Entgegen der Auffassung des FG bedurfte es daher auch keiner zusätzlichen Ausführungen in der Beschwerdeentscheidung der OFD über die für die Ablehnung des Erlaßantrags maßgebenden Ermessensgesichtspunkte.

1. Das FG geht zutreffend davon aus, daß im Streitfall die Steuerfestsetzungen durch die Schätzungsbescheide nicht offensichtlich und eindeutig falsch sind. Nach den für den erkennenden Senat bindenden Feststellungen des FG hat der Kläger nur überwiegend für die B-GmbH gearbeitet. Selbst wenn die Einkünfte aus dieser Tätigkeit Einnahmen aus nichtselbständiger Tätigkeit gewesen sein sollten, war es nicht auszuschließen, daß der Kläger aufgrund seines angemeldeten selbständigen Gewerbebetriebs daneben Einkünfte von anderen Auftraggebern hatte. Da der Kläger seinen steuerlichen Erklärungspflichten nicht nachgekommen ist, ist es auch nicht offensichtlich und eindeutig falsch, wenn das FA zu niedrige Werbungskosten (Pauschalen) angesetzt hat. Die vom Kläger zudem aufgeworfene Frage, ob seine Einkünfte von der B-GmbH als Netto- oder Bruttolohn einzuordnen sind, erfordert eine rechtliche Wertung, die genaue Kenntnisse der bestehenden Vereinbarungen voraussetzt. Eine etwaige falsche Lösung dieser Frage ist daher kein offenkundiger Fehler.

2. Da die Steuerfestsetzungen, um die es im Streitfall geht, nicht eindeutig und offensichtlich falsch sind, scheidet schon aus diesem Grund ein Erlaß der festgesetzten Steuern aus. Auf die Frage, ob es dem Kläger nicht möglich und nicht zumutbar war, sich gegen die Fehlerhaftigkeit der Steuerfestsetzungen rechtzeitig zu wehren, kommt es nicht mehr an. Denn das FA beruft sich in der Revision zutreffend darauf, daß nach der ständigen Rechtsprechung des BFH die beiden Voraussetzungen der offensichtlich und eindeutig falschen Steuerfestsetzung sowie der Unmöglichkeit und Unzumutbarkeit des rechtzeitigen Vorgehens gegen diese Festsetzungen kumulativ nebeneinander vorliegen müssen (siehe die Entscheidungen in BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611, und in BFHE 150, 502, BStBl II 1988, 512).

3. Im übrigen hat der BFH im Urteil in BFHE 133, 255, BStBl II 1981, 611 entschieden, daß selbst bei einem kumulativen Vorliegen der genannten beiden Voraussetzungen der Erlaßantrag in der Regel dann scheitern muß, wenn die jeweilige Steuerfestsetzung auf unzureichenden Angaben des Steuerpflichtigen beruht. Dieser Hinderungsgrund ist in einem Fall angenommen worden, in dem die Steuerpflichtigen keine Angaben zu den Werbungskosten gemacht hatten und deshalb die Werbungskosten in Höhe der Pauschbeträge geschätzt worden waren. Der Erlaß muß daher erst recht ausgeschlossen sein, wenn der Steuerpflichtige -- wie im Streitfall -- über mehrere Jahre hinweg auch auf Mahnungen des FA hin überhaupt keine Steuererklärungen abgegeben hat und deshalb die Besteuerungsgrundlagen geschätzt worden sind.

4. Das FG ist allerdings offenbar der Auffassung, daß die genannten Voraussetzungen insgesamt (einschließlich der Voraussetzung der offensichtlich und eindeutig falschen Steuerfestsetzung) abgemildert seien, wenn die Verwaltung die Unanfechtbarkeit des jeweiligen Bescheides in zurechenbarer Weise verursacht hat. Diese Auffassung kann sich möglicherweise auf die Entscheidungen des X. Senats des BFH vom 8. April 1987 X R 14/81 (BFH/NV 1988, 217) und vom 31. August 1992 X B 81/92 (BFH/NV 1993, 4) stützen. Diese Entscheidungen enthalten aber keine eindeutige Aussage dazu, ob es wirklich nicht mehr erforderlich sein soll, daß die Steuerfestsetzung offensichtlich und eindeutig falsch ist, wenn der Steuerpflichtige aufgrund eines Verhaltens der Finanzverwaltung die Anfechtung des Bescheides unterlassen hat. Denn diese Entscheidungen (jedenfalls die letzte) sprechen zwar nicht von einer offensichtlich und eindeutig, sondern nur von einer bloß falschen Steuerfestsetzung als Erlaßgrund. Sie prüfen die dem FA zurechenbare Mitverursachung des Unterlassens der rechtzeitigen Anfechtung des jeweiligen Steuerbescheides aber nur im Zusammenhang mit der Möglichkeit und Zumutbarkeit dieser rechtzeitigen Anfechtung. Diese besonderen Maßstäbe bei der Prüfung der Möglichkeit und Zumutbarkeit der rechtzeitigen Anfechtung der Steuerbescheide bedeuten nach Auffassung des erkennenden Senats jedoch noch nicht, daß damit auch die Voraussetzung der offensichtlich und eindeutig falschen Steuerfestsetzung für den Erlaß aufgegeben worden ist.

5. Selbst wenn aber die Entscheidungen in BFH/NV 1988, 217 und BFH/NV 1993, 4 auf den Streitfall übertragbar wären, könnten die Steuerfestsetzungen im Erlaßwege jedenfalls nur beseitigt werden, wenn der Kläger aufgrund eines fehlerhaften Verhaltens des FA die rechtzeitige Anfechtung der Bescheide unterlassen hätte. Das FG sieht dieses fehlerhafte Verhalten des FA in der Bekanntgabe der umstrittenen Steuerfestsetzungen an den Kläger selbst. Dieser Auffassung des FG vermag der erkennende Senat nicht zu folgen.

Nach §122 Abs. 1 Satz 3 AO 1977 kann ein Verwaltungsakt statt demjenigen Beteiligten, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekanntgegeben werden. Ob das FA im Falle, daß ein Bevollmächtigter bestellt ist, von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, ist grundsätzlich eine Ermessensentscheidung. Die Rechtsprechung hat dieses Ermessen zwar dahin eingeengt, daß nur an den Bevollmächtigten wirksam bekanntgegeben werden kann, wenn dem FA eine schriftliche Empfangsvollmacht auf den Bevollmächtigten vorliegt (vgl. u. a. BFH-Beschluß vom 24. April 1985 I S 1/85, BFH/NV 1986, 320, m. w. N.). Voraussetzung ist dabei aber immer, daß die dem FA vorliegende Vollmacht die Empfangnahme des jeweils streitigen Steuerbescheides durch den Bevollmächtigten umfaßt.

Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht gegeben. Die dem damals zuständigen FA vorgelegte Vollmacht auf den Steuerberater A erstreckt sich entgegen der Auffassung des FG nicht auf die Bekanntgabe von Schätzungsbescheiden, die wegen der Nichtabgabe von Steuererklärungen ergangen sind. Wie durch die Unterstreichung im Text der Vollmachtsurkunde noch besonders hervorgehoben worden ist, waren dem damaligen Bevollmächtigten nur Bescheide bekanntzugeben, "die von den Erklärungen und Anträgen abweichen". Alle anderen Steuerbescheide waren dem Kläger selbst bekanntzugeben. Bei den im Streitfall ergangenen Schätzungsbescheiden handelte es sich nicht um Steuerbescheide, die von Erklärungen und Anträgen des Klägers oder seines Bevollmächtigten abwichen. Denn der Kläger hatte weder durch seinen Bevollmächtigten noch selbst Steuererklärungen abgegeben oder irgendwelche Anträge gestellt, von denen mit den Schätzungsbescheiden hätte abgewichen werden können. Die Bekanntgabe der Schätzungsbescheide an den Kläger selbst stand also mit dem Wortlaut der dem FA vorgelegten Vollmachtsurkunde in Einklang.

Diese sich aus dem Wortlaut der Urkunde ergebende Auslegung entspricht auch der Interessenlage des Klägers, die aus dem Inhalt der Urkunde erkennbar wird. Der Kläger hat in seinem Erlaßantrag vorgetragen, daß er sich damals darauf verlassen habe, daß die Steuererklärungen von dem Steuerberater A eingereicht worden seien und dieser alle steuerlichen Angelegenheiten für ihn erledigen würde. Die angesichts des eingeschränkten Inhalts der Vollmacht gerechtfertigte Bekanntgabe der Schätzungsbescheide an den Kläger selbst konnte und mußte diesem deutlich machen, daß eine solche Annahme nicht richtig war.

Der Vortrag des Klägers im Beschwerdeverfahren, er habe wegen seiner beruflichen Belastungen mit dem schriftlichen Auftrag an den damaligen Steuerberater gerade sicherstellen wollen, daß alle ihn betreffenden Schreiben zuerst durch die Hände eines Fachmanns laufen sollten, findet in der Vollmachtsurkunde dagegen keinen hinreichenden Anhaltspunkt. Dagegen spricht schon, daß sich das FA nach dem Inhalt der Urkunde, z. B. bei Sachverhaltsfragen, unmittelbar an den Kläger selbst und nicht an den Steuerberater wenden sollte.

Nach dem Inhalt der Urkunde war es demnach nicht so, daß das FA nur solche Schreiben an den Kläger selbst richten sollte, die den von ihm oder seinem Bevollmächtigten vorher gemachten Angaben oder gestellten Anträgen entsprachen. Das FA mußte vielmehr den Kläger auch dann unmittelbar anschreiben, wenn es um Sachverhalte ging, zu denen der Kläger oder sein Bevollmächtigter überhaupt keine oder keine ausreichenden Angaben gemacht hatte. Das galt auch für die Bekanntgabe von Schätzungsbescheiden, die darauf beruhten, daß der Kläger keine Steuererklärungen abgegeben hatte. Denn es handelte sich dabei nicht um Bescheide, die von Erklärungen und Anträgen des Klägers abwichen. Entscheidend für die Auslegung der Vollmacht sind nicht die Motive des Steuerpflichtigen für deren Erteilung, sondern der in der Urkunde zum Ausdruck gekommene Wille des Vollmachtgebers (vgl. BFH-Urteil vom 10. August 1976 VII R 95/75, BFHE 119, 391, BStBl II 1976, 689).

Da daher die Zustellung der Schätzungsbescheide an den Kläger selbst ermessensgerecht war, brauchte die OFD in der Beschwerdeentscheidung keine Ermessenserwägungen darüber anzustellen, wie ein etwaiges Fehlverhalten des FA bei der Bekanntgabe der Schätzungsbescheide gegenüber dem Unterlassen der Anfechtung dieser Bescheide durch den Kläger abzuwägen war. Die Bescheide sind mit der Bekanntgabe an den Kläger wirksam geworden, und dem Kläger war es möglich und zumutbar, sich rechtzeitig durch Anfechtung gegen diese Bescheide zu wehren.

 

Fundstellen

Haufe-Index 67049

BFH/NV 1998, 935

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