Entscheidungsstichwort (Thema)

Mangelnde Sachaufklärung in Schätzungsfällen

 

Leitsatz (NV)

Beruht eine Schätzung auf vom Betriebsprüfer ermittelten Kassenfehlbeträgen, so hat das FG dem Kläger Gelegenheit zu geben, in die zur Ermittlung der Fehlbeträge erforderlichen Unterlagen und Belege Einsicht zu nehmen. Wird diese Pflicht verletzt, liegt ein Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 76 Abs. 1 FGO vor.

 

Normenkette

FGO § 76 Abs. 1

 

Verfahrensgang

FG Berlin

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb in den Streitjahren zwei Einzelhandelsgeschäfte. Diese gab der Kläger mit dem . . . auf.

Nach einer Betriebsprüfung schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) die Besteuerungsgrundlagen in den Umsatzsteuer- und Gewerbesteuersachen der Streitjahre. Das FA erhöhte die Umsätze gegenüber den festgesetzten bzw. erklärten Beträgen um 170 000 DM für 1977, um 150 000 DM für 1978 und um 180 000 DM für 1979; abweichend von den vorangemeldeten Umsätzen 1980 in Höhe von rd. 284 000 DM - eine Umsatzsteuererklärung für 1980 hatte der Kläger nicht abgegeben - schätzte das FA für 1980 einen Umsatz von 400 000 DM. Auf dieser Grundlage erließ es geänderte bzw. erstmalige Umsatzsteuer- und Gewerbesteuerbescheide für die Streitjahre. Das FA begründete die Zuschätzungen im wesentlichen damit, daß die Aufzeichnungen des Klägers mangelhaft gewesen seien; es hätten sich für die Streitjahre erhebliche Kassenfehlbeträge ergeben, nämlich für das Jahr 1977 rd. 195 000 DM, für das Jahr 1978 rd. 176 000 DM und für das Jahr 1979 rd. 202 000 DM. Außerdem hätte eine Nachkalkulation aufgrund eines inneren Betriebsvergleichs, der auf den Ergebnissen des Jahres 1976 basiere, zu Differenzen in Höhe von 218 675 DM für 1977, in Höhe von 157 100 DM für 1978 und in Höhe von 303 000 DM für 1979 geführt. Die hiergegen erhobenen Einsprüche wies das FA zurück.

Mit der Klage machte der Kläger im wesentlichen geltend, daß die aus der Buchführung nicht zu ersehenden Geldzuflüsse nicht aus Betriebseinnahmen, sondern aus Schenkungen und Darlehen von Verwandten, Freunden und Bekannten stammten. Zu den vom Prüfer festgestellten Kassenfehlbeträgen könne er nicht Stellung nehmen, da sich die dazu notwendigen Unterlagen und Belege bei der Steuerfahndungsstelle befänden.

Die Klage hatte zum großen Teil Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte unter anderem aus:

Das FA sei zwar dem Grunde nach berechtigt gewesen, Schätzungen vorzunehmen, da für die Jahre 1977 bis 1979 erhebliche Buchführungsmängel (insbesondere keine täglichen Kassenaufzeichnungen, Nichterfassung von Einlagen und betrieblichen Darlehensaufnahmen) bestanden hätten und für 1980 keine Steuererklärungen abgegeben worden seien. Die Zuschätzungen seien jedoch überhöht. Der Kläger habe mit geringen Gewinnchancen gearbeitet und 1980 wegen einer sich ständig verschlechternden Geschäftsentwicklung den Betrieb aufgegeben. Wegen der Verringerung der Gewinnaussichten könne dem auf den Ergebnissen des Jahres 1976 basierenden inneren Betriebsvergleich keine entscheidende Bedeutung zugemessen werden. Die Kassenfehlbeträge seien geringer gewesen als vom FA angenommen, da dem Kläger nach der Überzeugung des Gerichts in den Jahren 1977 bis 1979 Schenkungs- und Darlehensbeträge in Höhe von 297 500 DM zugeflossen seien. Demgemäß ergäben sich für diese Jahre geringere Zuschätzungen zu den Umsätzen und Gewerbeerträgen. Für das Jahr 1980 sei eine Zuschätzung auf die vorangemeldeten Umsätze in demselben Verhältnis wie für das Jahr 1979 vorzunehmen.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß die Zuschätzungen zu Unrecht erfolgt seien und daß das FG seine Amtsermittlungspflicht und die Grundsätze des rechtlichen Gehörs verletzt habe. Die Berechnung der Kassenfehlbeträge sei erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem FG erläutert worden. Dazu habe er nicht Stellung nehmen können, da sich sämtliche Unterlagen und Belege bei der Staatsanwaltschaft in A befunden hätten. Die Berücksichtigung dieser Unterlagen ergäbe, daß für 1977 keine Kassenfehlbeträge bestanden hätten und sie für 1978 und 1979 nur 33 185 DM bzw. 27 405 DM betragen hätten. Durch die Nichtbeiziehung der erwähnten Unterlagen und Belege habe das FG seine Aufklärungspflichten verletzt. Es habe ihm - dem Kläger - auch durch Ablehnung des Vertagungsantrages das rechtliche Gehör versagt, weil ihm eine Stellungnahme zur Errechnung der Kassenfehlbeträge nur nach Überprüfung der Unterlagen möglich gewesen sei.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, die Einspruchsentscheidungen hinsichtlich der Umsatzsteuer 1977 bis 1980 und hinsichtlich der Gewerbesteuer 1979 sowie den Gewerbesteuerbescheid 1979 aufzuheben und ferner, die Umsatzsteuer in Abänderung der Steuerbescheide wie folgt festzusetzen: . . .

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG.

Das FG hat die auf § 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beruhende Verpflichtung, den Sachverhalt unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Beweismittel zu erforschen, nicht beachtet. Mangelnde Sachaufklärung durch das FG liegt vor, wenn es Tatsachen oder Beweismittel außer acht läßt, die sich ihm nach Lage der Akten aufdrängen müssen (vgl. z. B. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 3. November 1976 II R 43/67, BFHE 120, 549, BStBl II 1977, 159). Die Notwendigkeit, Behauptungen und Beweismitteln nachzugehen, drängt sich dem Gericht um so mehr auf, als diese von den Beteiligten in die Verhandlung eingeführt worden sind (Tipke/Kruse, Abgabenordnung - Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 76 FGO, Tz. 7). Im Streitfall hat der Kläger geltend gemacht, daß er zu der vom Betriebsprüfer durchgeführten Ermittlung der Kassenfehlbeträge erst nach Einsichtnahme in die bei der Steuerfahndungsstelle bzw. bei der Staatsanwaltschaft befindlichen Unterlagen und Belege Stellung nehmen könne. Die Überprüfung dieses Materials war erforderlich, um festzustellen, ob die Kassenfehlbeträge zutreffend errechnet worden sind. Das FG durfte sich angesichts der vom Kläger erhobenen Einwände und des von ihm gestellten Vertagungsantrags nicht mit der Feststellung begnügen, es sei überzeugt, daß die Ermittlung der Kassenfehlbeträge durch den Betriebsprüfer nicht zu beanstanden sei; es hätte vielmehr entweder die genannten Unterlagen beiziehen oder aber dem Kläger zunächst Gelegenheit zu deren Überprüfung und zur Stellungnahme geben müssen, um dann selbst entscheiden zu können, ob noch eine Einsichtnahme durch das FG geboten war. Zu dieser Sachverhaltsaufklärung war das FG nach den Grundsätzen des § 76 Abs. 1 FGO unabhängig davon verpflichtet, ob dem Kläger - wie er unbestritten behauptet - die detaillierte Kassenfehlbetragsrechnung des Betriebsprüfers erst in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt worden ist oder nicht.

Auf dem Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 76 Abs. 1 FGO beruht auch das FG-Urteil (§ 118 Abs. 1 FGO). Denn das FG hat die Höhe der Zuschätzungen auf der Grundlage der - wenn auch von ihm korrigierten - Kassenfehlbeträge ermittelt.

Da die Rüge der Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes Erfolg hat, braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob auch die vom Kläger erhobene Rüge der Versagung des rechtlichen Gehörs begründet war.

Der Senat kann die zur Entscheidung des Rechtsstreits erforderlichen Tatsachen nicht selbst treffen (§ 118 Abs. 2 FGO). Es war daher die Zurückverweisung der Sache an das FG geboten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413980

BFH/NV 1986, 34

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