Entscheidungsstichwort (Thema)

Die Möglichkeit der Überprüfung tatsächlicher Feststellungen des FG durch den BFH im Revisionsverfahren ohne Revisionsrüge

 

Leitsatz (NV)

1. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist nicht verletzt, wenn die Beteiligten Gelegenheit zur Erörterung der gesamten Streitsache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hatten.

2. Ein FG handelt nicht ermessensfehlerhaft, wenn es einen nach Schluß der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz, der neues tatsächliches Vorbringen enthält, nicht durch Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung berücksichtigt, es sei denn, daß die vorgetragenen Tatsachen schon nach dem bisherigen Vorbringen den Vorwurf mangelnder Sachaufklärung rechtfertigen würden.

3. Ist die Prüfung der im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegenden Würdigung des FG anhand der getroffenen Feststellungen nicht möglich, so liegt ein ohne Rüge nachprüfbarer materieller Fehler vor, der zur Aufhebung der Vorentscheidung führt.

 

Normenkette

FGO §§ 76, 93 Abs. 3 S. 2, § 96

 

Verfahrensgang

FG Köln

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob ein auf den Namen der Gesellschafter der Klägerin bei der inzwischen untergegangenen X-Bank angelegtes Festgeldkonto zum Betriebsvermögen der Klägerin, einer GmbH, gehörte. Das FG hat die Zugehörigkeit verneint und deshalb die geltend gemachte Teilwertabschreibung auf das Festgeldkonto nicht zugelassen.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 4, 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) und § 6 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) in der bis zum 31. Dezember 1976 geltenden Fassung. Außerdem erhebt sie folgende Verfahrensrügen hilfsweise;

1. Soweit das FG den Übergang des Kontos bei der X-Bank ins Betriebsvermögen der Klägerin wegen angeblich fehlender rechtzeitiger buchmäßiger Behandlung der Vorgänge verneint habe, sei der Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt worden, obwohl eine weitere Sachverhaltsaufklärung für die Entscheidung des Rechtsstreits notwendig gewesen wäre (Verstoß gegen § 76 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

2. Soweit das FG den Betriebsausgabencharakter des Forderungsverlustes mit der Begründung verneint habe, das Guthaben bei der X-Bank sei ausschließlich für persönliche Zwecke der Gesellschafter der Klägerin gehalten worden, sei der Sachverhalt ebenfalls nicht vollständig und in dem für die Entscheidung notwendigen Umfang aufgeklärt worden (weiterer Verstoß gegen § 76 FGO).

3. Dem FG sei die weitere Aufklärungsbedürftigkeit des Sachverhalts spätestens mit Eingang des Schreibens vom 28. Januar 1982 erkennbar geworden. Es hätte den damals gestellten Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nicht zurückweisen dürfen (Verstoß gegen § 93 Abs. 3 Satz 2 FGO).

4. Durch die nicht wiedereröffnete mündliche Verhandlung sei der Klägerin das rechtliche Gehör versagt worden (Verstoß gegen § 96 Abs. 2 FGO).

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision hob der BFH die Vorentscheidung auf und verwies die Sache an das FG zurück. Die vom FG in tatsächlicher Hinsicht getroffenen Feststellungen trügen dessen Entscheidung nicht:

Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist im FG-Verfahren nicht verletzt worden. Der Anspruch besteht im wesentlichen darin, daß der Klägerin als einer am Verfahren beteiligten Person Gelegenheit gegeben werden mußte, sich zu den Tatsachen und Beweisergebnissen zu äußern, die der gerichtlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden sollten (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 11. Oktober 1966 2 BvR 252/66, BVerfGE 20, 280, 282, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK - Finanzgerichtsordnung, § 119 Nr. 3, Rechtsspruch 2, und vom 14. Januar 1969 2 BvR 314/68, BVerfGE 25, 40, 43, StRK, Grundgesetz, Art. 103 Abs. 1, Rechtsspruch 100; Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 26. Oktober 1970 III R 122/66, BFHE 101, 49, BStBl II 1971, 201, 203, und vom 22. Dezember 1981 VII R 104/80, BFHE 135, 149, BStBl II 1982, 356). Dieser Anspruch ist schon nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin nicht verletzt. Nach § 90 Abs. 1 Satz 1 FGO entscheidet das FG vorbehaltlich der hier nicht eingreifenden Absätze 2 und 3 aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine solche hat im Streitfall am 27. Januar 1982 stattgefunden. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung war die Klägerin in derselben durch den Gesellschafter B und ihren damaligen Steuerberater vertreten. Sie erhielt ,,Gelegenheit zur Erörterung der Streitsache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht". Die Klägerin hat nichts vorgetragen, was im Widerspruch zu der in der Niederschrift getroffenen Feststellung stünde. Damit erbringt die Niederschrift gemäß §§ 155 FGO, 415 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) Beweis dafür, daß der Klägerin rechtliches Gehör gewährt wurde.

Eine andere Frage ist es, ob das FG die mündliche Verhandlung wiedereröffnen mußte. Die Nichtberücksichtigung einer entsprechenden Verpflichtung durch das FG würde zwar nicht ohne weiteres eine Verletzung des rechtlichen Gehörs sein. Sie wäre jedoch ein Verfahrensmangel, der zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führen müßte, wenn das FG-Urteil auf dem Mangel beruhen würde. Jedoch bestand im Streitfall keine Verpflichtung des FG, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen. Nach § 93 Abs. 3 FGO kann das FG die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beschließen. Damit ist die Wiedereröffnung in das Ermessen des Gerichts gestellt. Wie der IV. Senat des BFH in seinem Urteil vom 29. November 1973 IV R 221/69 (BFHE 111, 21, BStBl II 1974, 115) ausgeführt hat, handelt ein FG nicht ermessensfehlerhaft, wenn es einen nach Schluß der mündlichen Verhandlung eingereichten Schriftsatz, der neues tatsächliches Vorbringen enthält, nicht durch Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung berücksichtigt, es sei denn, daß die vorgetragenen Tatsachen schon nach dem bisherigen Vorbringen den Vorwurf mangelnder Sachaufklärung rechtfertigen würden. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an. Die mit dem Schriftsatz vom 28. Januar 1982 von der Klägerin vorgetragenen Tatsachen rechtfertigen nicht den Vorwurf mangelnder Sachaufklärung. Ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 27. Januar 1982 ließ die Klägerin in derselben darauf hinweisen, daß ,,sich nicht nur die Gesellschafter persönlich, sondern auch die Klägerin selbst verbürgt habe". Damit waren die mit Schriftsatz vom 28. Januar 1982 vorgetragenen Tatsachen in ihrem Kern schon in der mündlichen Verhandlung bekannt. Es ist nicht zu erkennen und wird auch in der Revisionsbegründung von der Klägerin nicht näher dargelegt, in welcher Weise das FG den Sachverhalt hätte weiter aufklären sollen. Schon deshalb fehlt es an den Voraussetzungen für eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Das FG mußte den Sachvortrag der Klägerin lediglich beweismäßig würdigen. Wenn es dabei zu einem für die Klägerin ungünstigen Ergebnis kam, so berührt dies allein die nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO gebotene Überzeugungsbildung. Nach ständiger Rechtsprechung kann der BFH als Revisionsgericht die Überzeugungsbildung des FG nur daraufhin überprüfen, ob sie möglich war. Es ist nicht erforderlich, daß das FG zu einer bestimmten Überzeugung kommen mußte (vgl. BFH-Urteil vom 23. September 1977 III R 18/77, BFHE 124, 73, BStBl II 1978, 188; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 118 FGO Tz. 55).

Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, daß ein von der Klägerin im Wirtschaftsjahr 1974/75 erzielter Verlust in den Veranlagungszeitraum 1976 vorzutragen ist. Zwar sind Verluste, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrages der Einkünfte nicht ausgeglichen werden, bis zu einem Betrag von insgesamt 5 Mio DM in erster Linie wie Sonderausgaben vom Gesamtbetrag der Einkünfte des vorangegangenen Veranlagungszeitraums abzuziehen. Dies folgt aus § 6 KStG in der Fassung vom 18. Juli 1975 - KStG 1975 - (BGBl I 1975, 1934, BStBl I 1975, 770) in Verbindung mit § 10 d Satz 1 EStG in der Fassung des Einkommensteuer-Änderungsgesetzes vom 20. April 1976 - EStÄndG 1976 - (BGBl I 1976, 1054, BStBl I 1976, 282). § 10 d Satz 1 EStÄndG 1976 ist erstmalig auf Verluste des Veranlagungszeitraums 1975 anzuwenden (vgl. § 52 Abs. 16 EStÄndG 1976). Zu den Verlusten des Veranlagungszeitraums 1975 gehören auch solche, die auf das Ergebnis eines abweichenden Wirtschaftsjahres zurückgehen, das im Kalenderjahr 1975 endet. Die entsprechende Zurechnung des Ergebnisses des Wirtschaftsjahres 1974/75 zum Kalenderjahr 1975 folgt aus § 4 a Abs. 2 EStG. Der Verlustrücktrag in den Veranlagungszeitraum 1974 war jedoch im Streitfall nicht möglich. Dazu ergibt sich aus dem angefochtenen Körperschaftsteuerbescheid 1976 vom 28. September 1978, auf den das FG in seinen Entscheidungsgründen Bezug genommen hat, daß aus dem Veranlagungszeitraum 1974 ein Verlust in den Veranlagungszeitraum 1976 vorgetragen wurde. Wurde aber auch im Veranlagungszeitraum 1974 ein Verlust erzielt, so sieht § 10 d Satz 4 EStÄndG 1976 zwingend vor, daß der nicht ausgeglichene Verlust 1975 in die folgenden fünf Veranlagungszeiträume vorzutragen ist. Der Veranlagungszeitraum 1976 ist im Streitfall der dem Verlustjahr folgende. Über die Höhe des vorzutragenden Verlustes ist erst in dem Steuerbescheid für den Veranlagungszeitraum zu entscheiden, in dem sich der Verlust steuerlich auswirkt (vgl. BFH-Urteil vom 22. April 1971 I R 16/71, BFHE 102, 214, BStBl II 1971, 586).

Die Frage, ob die Klägerin im Veranlagungszeitraum 1975 einen Verlust erlitten hat, der bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen wurde, hängt im wesentlichen davon ab, ob der von der Klägerin im Wirtschaftsjahr 1974/75 erzielte Gewinn unter Einbeziehung einer Teilwertabschreibung auf eine Forderung aus einem Festgeldsparvertrag mit der Bank ermittelt werden kann oder nicht. § 6 Abs. 1 Nr. 2 EStG schreibt die Einbeziehung des Forderungsverlustes in die Gewinnermittlung der Klägerin zwingend vor, wenn die Forderung im Zeitpunkt ihres Wertverlustes zum Betriebsvermögen der Klägerin gehörte. Da die Klägerin eine GmbH ist, war diese Voraussetzung schon dann erfüllt, wenn sie im Zeitpunkt der Schließung der X-Bank am 26. Juni 1974 entweder bürgerlich-rechtlicher Inhaber der Forderung gegenüber der X-Bank war oder als deren ,,wirtschaftlicher Eigentümer" angesehen werden konnte.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG kam die Forderung gegenüber der X-Bank ursprünglich durch den Festgeld-Sparvertrag zustande, den die Gesellschafter der Klägerin mit der X-Bank abschlossen. Deshalb sind die Gesellschafter der Klägerin als ursprüngliche Forderungsinhaber anzusehen. Die Forderung kann nur dann in das Vermögen der Klägerin übergegangen sein, wenn die Gesellschafter sie an die Klägerin abgetreten haben sollten.

Das FG hat als mögliche Abtretung der Forderung an die Klägerin nur den Darlehensvertrag in Betracht gezogen, den die Gesellschafter unter dem Datum des 23. Oktober 1973 mit der Klägerin abschlossen. Dies ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, weil sowohl nach dem Sachvortrag der Klägerin als auch nach der Aktenlage keine Anhaltspunkte für weitere Vereinbarungen zu erkennen sind, die eine Abtretung enthalten könnten.

Das FG ist zu dem Ergebnis gekommen, der Vertrag vom 23. Oktober 1973 enthalte keine Abtretung der Festgeldforderung an die Klägerin, weil er nicht zur Durchführung gelangt sei. Der erkennende Senat kann diese im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegende Würdigung nicht überprüfen, weil es an den sie tragenden Feststellungen fehlt. So vertritt das FG die Auffassung, die Klägerin habe an dem Guthaben keine Verfügungsmacht erlangt, ohne sich mit dem Wortlaut und dem wirtschaftlichen Ziel des Darlehensvertrages vom 23. Oktober 1973 in den Entscheidungsgründen auseinanderzusetzen. Das FG stützt zwar seine Auffassung auf eine angenommene Würdigung der Interessenlage der Vertragspartner. Die angenommene Interessenlage wird aber nicht auf ihre Übereinstimmung mit dem obkjektiven Wortlaut des Vertrages hin überprüft. Außerdem hat das FG in seine Überlegungen nicht die Möglichkeit einbezogen, daß die Gesellschafter der Klägerin und die Klägerin parallellaufende Interessen verfolgt haben könnten. Der Würdigung der Interessenlage liegt schließlich die Bestätigung der X-Bank vom 17. Oktober 1973 zugrunde. Es ist jedoch zu beachten, daß der Darlehensvertrag zeitlich später abgeschlossen wurde. Die Bestätigung vom 17. Oktober 1973 schließt es nicht aus, daß die Festgeldforderung am 23. Oktober 1973 an die Klägerin abgetreten wurde.

Ist die Überprüfung der im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegenden Würdigung des FG anhand der getroffenen Feststellungen nicht möglich, so liegt ein ohne Rüge nachprüfbarer materieller Fehler vor, der zur Aufhebung der Vorentscheidung führt (vgl. BFH-Urteil vom 17. April 1975 II R 144/74, BFHE 116, 1, BStBl II 1975, 671). Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Das FG wird ermitteln müssen, ob der Darlehensvertrag vom 23. Oktober 1973 tatsächlich an diesem Tag abgeschlossen wurde. Es wird ferner die in Betracht kommenden Auslegungsmöglichkeiten des Vertrages vom 23. Oktober 1973 gegeneinander abwägen müssen. Sollten danach Zweifel bezüglich der Auslegung verbleiben, so wird das FG den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Ggf. wird auch zu prüfen sein, ob nach der Geschäftsgrundlage des Vertrages die Klägerin den nominellen oder aber nur den ihr tatsächlich zugeflossenen Festgeldbetrag zurückzuzahlen hatte.

 

Fundstellen

Haufe-Index 413916

BFH/NV 1986, 409

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