Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensfehler; Prozeß- statt Sachurteil; maßgebender Zeitpunkt für Nachreichen der Prozeßvollmacht; Nachweis der Vertretungsmacht bei abgeleiteter Vollmacht

 

Leitsatz (NV)

1. Entscheidet das FG objektiv fehlerhaft durch Prozeß- statt durch Sachurteil, liegt ein Verfahrensmangel vor. Das Vorliegen eines Verfahrensmangels richtet sich nach der objektiven Rechtslage im Zeitpunkt des Ergehens der angefochtenen Entscheidung.

2. Wird eine schriftliche Prozeßvollmacht nicht beim FG eingereicht, ist die Klage wegen Fehlens einer Sachentscheidungsvoraussetzung unzulässig, und zwar unabhängig davon, ob die Vorlage unterblieben ist, obwohl eine Vollmacht vorhanden war, oder ob die Vollmacht nicht vorgelegt worden ist, weil sie gar nicht erteilt worden war.

3. Hat das Gericht für das Nachreichen der Vollmacht keine Ausschlußfrist gesetzt, kann das Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzung noch mit der Revision geltend gemacht werden, wenn die schriftliche Vollmacht zwar erst nach Erlaß eines Prozeßurteils eingereicht wird, diese jedoch bereits vor dessen Erlaß ausgestellt und dem Bevollmächtigten erteilt war.

4. Die Prozeßvollmacht muß auf den vertretenen Verfahrensbeteiligten zurückzuführen sein. Das Gericht muß zurückverfolgen können, ob der Prozeßvertreter seine Bevollmächtigung auch tatsächlich vom Verfahrensbeteiligten ableiten kann. Dieser Nachweis muß nicht nach den strengen verfahrensrechtlichen Regeln erfolgen, wenn eine sachlich-rechtliche Vertretungsbefugnis besteht.

 

Normenkette

FGO § 62 Abs. 3 Sätze 1-3, § 118 Abs. 3 S. 1; VGFGEntlG Art. 3 § 1

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist Gesamtrechtsnachfolgerin des an der Firma W-KG beteiligt gewesenen Erblassers E.

Namens der Klägerin erhob die Steuerberatungsgesellschaft mbH gegen die gesonderten und einheitlichen Feststellungen der gewerblichen Einkünfte der KG für die Jahre 1973 bis 1979 unter dem 21. März 1990 Klage mit der Zusage, Begründung und Prozeßvollmacht nachzureichen. Mit Verfügung vom 23. Dezember 1991 forderte der Vorsitzende Richter unter gleichzeitiger Ladung die Prozeßvertreter auf, die Prozeßvollmacht spätestens bis zum anberaumten Termin zur mündlichen Verhandlung am 29. Januar 1992 einzureichen. Die Ladung wurde den Prozeßvertretern mit Postzustellungsurkunde am 7. Januar 1992 zugestellt. Für die Klägerin erschien im Termin zur mündlichen Verhandlung am 29. Januar 1992 niemand. Die Prozeßvollmacht ging dem Finanzgericht (FG) erst nach Verkündung eines Prozeßurteils nach Schluß der Sitzung am 30. Januar 1992 zu. Zur Begründung führte das FG aus, gemäß § 91 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) habe es trotz Ausbleibens der Klägerin entscheiden dürfen. Auf die Folgen sei in der Ladung ausdrücklich hingewiesen worden. Die Klage sei unzulässig, da die Vollmacht nicht bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung schriftlich nachgereicht worden sei.

Mit der Revision macht die Klägerin Verletzung formellen Rechts geltend.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Das FG hat objektiv fehlerhaft durch Prozeß- statt durch Sachurteil entschieden. Darin liegt ein Verfahrensmangel (vgl. Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 15. Januar 1992 IV B 168/90, BFH/NV 1992, 613; Urteil vom 24. September 1985 IX R 47/83, BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268). Ein Verfahrensmangel setzt einen Verstoß des FG gegen Vorschriften des Prozeßrechts voraus (vgl. BFH-Beschluß vom 22. Januar 1991 V B 119/89, BFH/NV 1992, 667). Die Vorschriften der FGO, die die Frage regeln, unter welchen Voraussetzungen das Gericht in einem anhängig gemachten Prozeß zur Sache entscheidet, gehören zu den Vorschriften des gerichtlichen Verfahrens, deren fehlerhafte Handhabung mit Verfahrensrügen geltend gemacht werden kann (vgl. BFH-Urteil in BFHE 145, 299, BStBl II 1986, 268; Beschluß vom 6. Juli 1988 II B 183/87, BFHE 153, 509, BStBl II 1988, 897).

Das Vorliegen eines Verfahrensmangels richtet sich nach der objektiven Rechtslage im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung (vgl. BVerwG-Beschluß in NJW 1985, 757). Im Zeitpunkt des Ergehens des angefochtenen Prozeßurteils war der Prozeßbevollmächtigte jedoch tatsächlich bevollmächtigt.

a) Läßt sich ein Beteiligter vor dem FG vertreten, ist die Vollmacht schriftlich zu erteilen (vgl. § 62 Abs. 3 Satz 1 FGO) und dem Gericht vorzulegen (§ 62 Abs. 3 Satz 2 FGO). Die ordnungsgemäße schriftliche Vollmacht ist Sachentscheidungsvoraussetzung (vgl. BFH-Urteil vom 30. November 1988 I R 168/84, BFHE 156, 1, BStBl II 1989, 514, 515) und Prozeßhandlungsvoraussetzung (vgl. Koch/Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 62 Tz. 2, 48, 78). Schriftform und Nachweis der Vollmacht sind konstitutiv (BFH-Urteil vom 19. Januar 1989 IV R 21-23/87, BFHE 156, 350, BStBl II 1989, 567).

Die von dem Bevollmächtigten erhobene Klage ist wegen Fehlens einer Prozeßvoraussetzung unzulässig, wenn die schriftliche Vollmacht nicht vorgelegt wird, und zwar unabhängig davon, ob die Vollmachtsvorlage unterblieben ist, obwohl eine Vollmacht vorhanden war, oder ob die Vollmacht nicht vorgelegt worden ist, weil sie gar nicht erteilt worden war (vgl. BFH-Urteile vom 13. November 1991 I R 58/89, BFHE 166, 518, BStBl II 1992, 496; vom 11. Januar 1980 VI R 11/79, BFHE 129, 305, BStBl II 1980, 229, 230).

b) Ist die Vollmacht nachzureichen (§ 62 Abs. 3 Satz 2 FGO), so hat eine dafür vom FG - hier durch den Vorsitzenden Richter - gesetzte Frist keine ausschließende Wirkung, sofern das Gericht nicht nach Art. 3 § 1 VGFGEntlG verfährt, jetzt § 62 Abs. 3 Satz 3 FGO i.d.F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992, BGBl I, 2109 (vgl. Urteil vom 26. August 1987 I R 135/84, BFHE 151, 1, BStBl II 1988, 280).

Das Vorliegen dieser Sachurteilsvoraussetzung kann noch mit der Revision geltend gemacht werden, wenn die schriftliche Vollmacht zwar erst nach Erlaß eines Prozeßurteils eingereicht wird, diese hingegen bereits vor Erlaß ausgestellt und dem Bevollmächtigten erteilt war (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes - GmS-OGB - 2/83 vom 17. April 1984, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1984, 389; BFH-Urteil vom 4. Juli 1984 II R 188/82, BFHE 142, 3, BStBl II 1984, 831 mit Anmerkung in HFR 1985, 23; Urteil des BVerwG vom 22. Januar 1985 9 C 105/84, NJW 1985, 2963; Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 62 FGO Anm. 13 und 14; Koch/Gräber, a.a.O., § 62 Tz. 61).

c) Im Streitfall ist eine bereits am 23. Januar 1992 vom Generalbevollmächtigten der Klägerin, Rechtsanwalt I, unterzeichnete, inhaltlich ordnungsgemäße Prozeßvollmacht am 24. Januar 1992 dem Bevollmächtigten zugegangen.

Die Vollmacht läßt erkennen, wer bevollmächtigt hat, wer bevollmächtigt worden ist und wozu bevollmächtigt worden ist (vgl. BFH-Urteil vom 20. September 1991 III R 36/90, BFHE 166, 103, BStBl II 1992, 300 m.w.N.).

Zusätzlich muß die wirksame Erteilung der Untervollmacht nachgewiesen werden. Die Prozeßvollmacht muß auf den vertretenen Verfahrensbeteiligten zurückzuführen sein. Dazu muß das Gericht zurückverfolgen können, ob der Prozeßvertreter seine Bevollmächtigung auch tatsächlich vom Verfahrensbeteiligten ableiten kann (vgl. BFH-Urteil vom 16. Februar 1990 III R 81/87, BFHE 160, 387, BStBl II 1990, 746). Dieser Nachweis muß freilich nicht nach den strengen verfahrensrechtlichen Regeln erfolgen, wenn eine sachlich-rechtliche Vertretungsbefugnis vorliegt, wie sie z.B. bei einer Generalvollmacht gegeben ist. Dann genügt jeglicher Nachweis (vgl. BFH-Beschluß vom 9. Januar 1989 VII B 147/88, BFH/NV 1989, 594; Urteile in BFHE 160, 387, BStBl II 1990, 746; vom 10. Mai 1989 II R 173/87, BFHE 156, 399, BStBl II 1989, 624; Koch/Gräber, a.a.O., § 62 Tz. 34 und 36; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 62 FGO Tz. 9 a.F.).

Im Streitfall hat der Prozeßvertreter mit der Prozeßvollmacht ebenfalls in Fotokopie die beglaubigte Abschrift einer notariellen Nachlaßvollmacht vom 7. Juni 1977 eingereicht. Ausweislich dieser Urkunde hatte die Klägerin den Unterbevollmächtigten, Rechtsanwalt I, zu ihrer unbeschränkten Vertretung in der Nachlaßsache E bevollmächtigt, u.a. auch zur Einlegung von Rechtsmitteln. An der sachlich-rechtlichen Vertretungsbefugnis des Unterbevollmächtigten bestehen danach keine Zweifel.

d) Zu Unrecht beruft sich das FA auf das Urteil in BFHE 151, 1, BStBl II 1988, 280. In jenem Fall war die Prozeßvollmacht von der Klägerin unmittelbar dem Gericht übersandt worden. Die Prozeßvollmacht kann grundsätzlich durch einseitige schriftliche Erklärung gegenüber dem Prozeßbevollmächtigten, dem Prozeßgegner oder dem Gericht erteilt werden (vgl. BFH-Urteil vom 10. März 1988 IV R 218/85, BFHE 153, 195, BStBl II 1988, 731, 732). In jenem Fall war die Vollmacht unmittelbar dem FG erst einen Tag nach Verkündung des Prozeßurteils zugegangen. Erst in diesem Zeitpunkt wurde die Vollmacht wirksam. Wegen dieser Besonderheit hatte der I.Senat die Revision als unbegründet zurückgewiesen, jedoch im übrigen ausdrücklich offengelassen, ob eine andere Beurteilung geboten gewesen wäre, wenn die Prozeßvollmacht zwar vor Erlaß des Prozeßurteils dem Bevollmächtigten übergeben, aber von diesem erst nach Ergehen des angefochtenen Urteils vorgelegt worden wäre.

e) Der Verfahrensmangel ist für die Entscheidung des FG auch rechtserheblich; denn das Urteil kann auf ihm beruhen (vgl. dazu BFH-Beschluß vom 1. August 1990 II B 36/90, BFHE 161, 418, BStBl II 1990, 987). Hierzu muß lediglich die Möglichkeit einer anderen Entscheidung bestehen, nicht hingegen für ein sachlich günstigeres Ergebnis. Hätte das Gericht Kenntnis von der bereits vor Ergehen des Urteils erteilten Prozeßvollmacht gehabt, so hätte es kein Prozeßurteil mehr erlassen können. Andere Zulässigkeitsmängel liegen nicht vor. Das FG hätte mithin durch Sachurteil entscheiden müssen.

2. Nach ständiger Rechtsprechung ist der BFH als Revisionsgericht auf die Prüfung des Verfahrensfehlers beschränkt, wenn ein solcher geltend gemacht wird und durchgreift. In diesem Fall muß die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen werden, ohne daß dem BFH eine Entscheidung in der materiellen Streitfrage gestattet wäre (vgl. BFH-Urteil vom 17. Oktober 1990 I R 118/88, BFHE 162, 534, BStBl II 1991, 242, 244, Ziff.5 der Gründe).

 

Fundstellen

Haufe-Index 419604

BFH/NV 1994, 891

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