Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtberücksichtigung von Aktenbestandteilen als Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO

 

Leitsatz (NV)

§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO, wonach das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet, verpflichtet das FG, nicht nur das Ergebnis der mündlichen Verhandlung, sondern auch den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen.

 

Normenkette

FGO § 96 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

FG Rheinland-Pfalz

 

Tatbestand

Der Vater der Klägerin, A, der am . . . verstorben ist, war Inhaber einer Fabrik für . . . artikel. Er hatte in seinem Testament vom . . . seinen Sohn B zu 4/6 und seine Kinder C und D (die Klägerin) zu je 1/6 als Miterben eingesetzt. Der Sohn C hat seinen Anteil auf seine Geschwister dergestalt übertragen, daß der Klägerin eine Erbquote von 1/5 und ihrem Bruder eine Erbquote von 4/5 zustand. Die Auseinandersetzung hatte der Erblasser ausgeschlossen und Testamentsvollstreckung als Verwaltungsvollstreckung auf die Dauer von 30 Jahren nach dem Erbfall und darüber hinaus bis zum Tod der als Erben eingesetzten Kinder angeordnet. Für die Verwaltung des Nachlasses - die Führung des Unternehmens - hatte der Erblasser verbindliche Anordnungen getroffen. Ein Direktorium von drei Personen war für die Betriebsführung verantwortlich. Es bestand ein Weisungs- und Widerspruchsrecht des Testamentsvollstreckers. Nach näherer Maßgabe des Testaments war der Fall der Betriebsübernahme durch den Sohn B bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen vorgesehen, u. a. einer mindestens einjährigen Tätigkeit in dem Unternehmen in leitender Funktion und der Entscheidung des Testamentsvollstreckers über die Eignung zur Betriebsübernahme.

Der für diesen Fall bestimmte Übernahmepreis für die Geschwister sollte dem Unternehmen als Darlehen verbleiben; der Gewinnanteil sollte vom Testamentsvollstrecker nach billigem Ermessen nach Anhörung des Direktoriums bestimmt werden und den Zinssatz nicht übersteigen, den die öffentlichen Sparkassen für Gelder bei halbjähriger Kündigung bezahlten. Für den Fall, daß der Testamentsvollstrecker die Eignung des Sohnes B nicht feststellen sollte, war u. a. bestimmt, daß der Betrieb als Stiftung in die Verwaltung der Stadt . . . übergehen sollte.

Ausweislich der Niederschrift über die Verhandlung des ,,Schiedsgerichts A" am 26. März 1971 (Vorsitzender Rechtsanwalt K) begehrten die Klägerin und ihr Bruder, die Eignung des Bruders zur Betriebsübernahme festzustellen, während der damalige Testamentsvollstrecker dahin entschieden hatte, die Eignung könne derzeit noch nicht festgestellt werden. Der Schiedsspruch wurde dahingehend verkündet, daß über die Eignung schon jetzt entschieden werden könne und diese auch festgestellt werde. Aus der Niederschrift ergibt sich auch, daß die Klägerin erklärt hatte, Beschränkungen, die sich hinsichtlich des Auseinandersetzungsanspruchs aus dem Testament ergäben, nicht hinzunehmen; sie sei jedoch zur Beteiligung am Unternehmen auf Dauer als Kommanditistin einer GmbH & Co. KG bereit. Nach Amtsniederlegung durch den damaligen Testamentsvollstrecker und Bestimmung des Ehemannes der Klägerin zum neuen Testamentsvollstrecker durch Rechtsanwalt K setzten sich die Miterben mit Zustimmung des Testamentsvollstreckers dahingehend auseinander, das aus der Testamentsvollstreckung freigegebene Unternehmen in der Rechtsform einer KG weiterzuführen. Der Gesellschaftsvertrag wurde am 5. November 1971 errichtet.

In unmittelbarem Zusammenhang mit der Gründung der KG trafen die Klägerin und ihr Bruder am 5. November 1971 intern eine notariell beglaubigte Sondervereinbarung. Darin heißt es, daß die Geschwister nunmehr durch den Gesellschaftsvertrag ihre Beziehungen neu geordnet haben bzw. dies künftig noch tun werden. Der Bruder der Klägerin räumte dieser an seiner Beteiligung eine Unterbeteiligung dergestalt ein, daß beide Geschwister am Vermögen, Gewinn und Verlust im Innenverhältnis an der neu gegründeten GmbH sowie an der KG je hälftig beteiligt sind.

Anläßlich einer Betriebsprüfung bei der GmbH & Co. KG im Jahre 1978 für die Veranlagungszeiträume 1972 bis 1977 wurde die Sondervereinbarung, die bislang nicht offengelegt war, in der Bilanz für das Geschäftsjahr 1976 durch Ausgleich der Kapital-Sonderkonten nach dem Stande vom 1. Januar 1972 nachvollzogen. Der zu Buchwerten vollzogene Vermögensausgleich führte - entsprechend einem Gesellschafterbeschluß vom 12. Mai 1977 - zu einer Kapitalumbuchung zugunsten der Klägerin in Höhe von . . . DM.

Das Finanzamt (FA) hat aufgrund der Sondervereinbarung vom 5. November 1971 eine schenkungsteuerpflichtige Vermögensübertragung gesehen und mit Bescheid vom 20. Januar 1982 gegenüber der Klägerin Schenkungsteuer in Höhe von . . . DM festgesetzt.

Nach erfolgloser Durchführung des Einspruchsverfahrens begehrt die Klägerin die ersatzlose Aufhebung der Steuerfestsetzung. Unter Bezugnahme auf schriftliche Stellungnahmen des Rechtsanwalts K vom 13. Juni 1979 und vom 3. November 1980 macht die Klägerin geltend, die zwischen ihr und ihrem Bruder getroffenen Vereinbarungen hätten der Beilegung eines Rechtsstreits im Wege eines Vergleichs gedient.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Weder aus dem Gesellschaftsvertrag vom 5. November 1971 noch aus der Sondervereinbarung vom gleichen Tage oder aus den Vorgängen des Schiedsverfahrens gehe hervor, daß der Bruder der Klägerin diese als Gegenleistung für eine Unterstützung seiner Interessen etwa aufgrund einer vor der Schiedsgerichtsverhandlung getroffenen Abrede in der KG intern gleichstellen wollte. In der Neuordnung der Beziehung der Beteiligten im Hinblick auf das Unternehmen liege eine Vereinbarung mit erbrechtlichem Einschlag vor; es spreche angesichts der den Beteiligten bekannten objektiven Bereicherung der Klägerin gegenüber der ihr zustehenden Erbquote eine tatsächliche Vermutung dafür, daß der Bruder nach dem Erreichen des von ihm und der Klägerin angestrebten Ziels (u. a., sich des Testamentsvollstreckers zu entledigen) eine unentgeltliche Bereicherung seiner Schwester, der Klägerin, wollte. Aus den Schiedsvorgängen sei nicht zu ersehen, daß die Klägerin die Fortführung des Unternehmens durch ihren Bruder und ihre weitere Beteiligung daran oder etwa die Entlassung des Unternehmens aus der Testamentsvollstreckung im Sinn einer Gegenleistung von einer hälftigen Beteiligung am Gewinn und am Verlust sowie am Vermögen abhängig gemacht habe.

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Sie rügt in erster Linie im Ergebnis, das FG habe bei der Beweiswürdigung die von ihm zitierte Stellungnahme des Rechtsanwalts K nicht berücksichtigt, aus der sich ergebe, daß die Geschwister sich zeitlich vor dem Schiedsverfahren über eine hälftige Beteiligung der Klägerin für den Fall ihrer Unterstützung der Belange ihres Bruders geeinigt hätten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung der Sache an das FG zu anderweitiger Verhandlung und Entscheidung.

Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Diese Vorschrift verpflichtet das FG, nicht nur das Ergebnis der mündlichen Verhandlung, sondern auch den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 6. Dezember 1978 I R 131/75, BFHE 126, 379, BStBl II 1979, 162).

Das angefochtene Urteil läßt nicht erkennen, daß das FG die von der Klägerin mehrfach erwähnte und im Tatbestand des Urteils genannte Stellungnahme des Rechtsanwalts K vom 13. Juni 1979 in seine Betrachtung einbezogen hat. Denn das FG hat sich bei der Prüfung der von ihm für wesentlich erachteten Frage, ob vor Einleitung des Schiedsverfahrens eine Abrede unter den Geschwistern erfolgt sei, nach deren Inhalt die Klägerin sich nur gegen die Zusage hälftiger Beteiligung zur Verfolgung der Interessen ihres Bruders bereit erklärt habe, lediglich auf den Inhalt der im Schiedsverfahren angefallenen Schriftstücke sowie der vertraglichen Vereinbarungen vom 5. November 1971 gestützt. In dieser Stellungnahme wird aber - wenn auch ohne konkreten Vortrag über den Verlauf und den Inhalt von Vorverhandlungen - ausgeführt, der Weg zur Feststellung der Eignung des Bruders und zu dessen Betriebsübernahme sei erst frei gewesen, nachdem die Klägerin und ihr Bruder sich über eine hälftige Beteiligung der Klägerin im Ergebnis einig gewesen seien. Hätte das FG die genannte Stellungnahme in seine Betrachtung einbezogen, so hätte es sich mit ihr auseinandergesetzt, weil sie nach ihrem Inhalt den von der Klägerin behaupteten Geschehensablauf in zeitlicher Hinsicht bestätigt. Hat das FG dieser Stellungnahme kein Gewicht beigemessen, so hätte es die dafür maßgebenden Gründe darstellen, ggf. die Klägerin zur Konkretisierung ihres Vortrages anhalten müssen. Zur Einbeziehung der genannten Stellungnahme in seine Würdigung hatte das FG um so mehr Anlaß, weil es im Hinblick auf den objektiven Geschehensablauf von der Feststellungslast der Klägerin ausging.

Da die angefochtene Entscheidung auf dem aufgezeigten Verfahrensmangel beruhen kann, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415515

BFH/NV 1989, 230

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