Entscheidungsstichwort (Thema)

Reichweite der in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 vorgesehenen Bescheinigung

 

Leitsatz (amtlich)

Die in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 vorgesehene Bescheinigung wirkt nicht auf Zeiträume vor ihrer Ausstellung zurück.

 

Orientierungssatz

Soweit die Bescheinigung ihrem Inhalt nach auch rückwirkend gelten soll, ist sie umsatzsteuerrechtlich unbeachtlich, da dieser Teil der Bescheinigung nicht mehr von der der zuständigen Landesbehörde nach § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 übertragenen Kompetenz gedeckt und insoweit nicht bindend ist (vgl. BFH-Rechtsprechung).

 

Normenkette

UStG 1980 § 4 Nr. 20 Buchst. a S. 2, Nr. 20a S. 2

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) produziert Theaterstücke und führt diese auf Tourneen auf. In den Fällen, in denen dritte Unternehmer als Veranstalter auftraten, hat die Klägerin die Aufführungen als umsatzsteuerpflichtige Leistungen behandelt und in den Rechnungen Umsatzsteuer gesondert in Rechnung gestellt. Entsprechend setzte sie in den Jahren 1985 und 1986, den Streitjahren, in Rechnung gestellte Vorsteuern ab. Unter dem 3. Februar 1987 bescheinigte der Senator für kulturelle Angelegenheiten der Klägerin rückwirkend für alle bisher aufgeführten Eigenproduktionen, daß sie mit ihren Ballettproduktionen die gleichen kulturellen Aufgaben erfülle wie die in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1980 genannten Theater.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) vertrat die Auffassung, daß auch in den Streitjahren sämtliche Umsätze der Klägerin gemäß § 4 Nr. 20 Buchst. a UStG 1980 umsatzsteuerfrei seien und der Vorsteuerabzug daher zu versagen sei. Die geänderten Umsatzsteuerbescheide führten zu einer Nachforderung von rd. 49 000 DM. Die Klägerin berichtigte die Rechnungen nicht, da ein Veranstalter in Konkurs gegangen sei und die übrigen eine Berichtigung ablehnten. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) führte aus:

Das FA habe zu Recht die von der Klägerin in ihren Rechnungen an verschiedene Veranstalter gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer festgesetzt; denn gemäß § 14 Abs. 2 UStG 1980 schulde ein Unternehmer, der in einer Rechnung für eine sonstige Leistung einen höheren Steuerbetrag gesondert ausgewiesen habe, als er nach dem Gesetz für den Umsatz schulde, auch den Mehrbetrag. Er habe allerdings die Möglichkeit der Rechnungsberichtigung entsprechend § 17 Abs. 1 UStG 1980. Würde man dem klaren Wortlaut des § 14 Abs. 2 UStG 1980 zuwider von der Erhebung der in Rechnung gestellten und empfangenen Umsatzsteuer absehen, müßte folgerichtig auch der Vorsteuerabzug bei den Veranstaltern rückgängig gemacht werden. Für eine Abwälzung des Risikos auf die Veranstalter gebe es aber keinen hinreichenden Grund. Schließlich könne der Klägerin aus Rechtsgründen auch kein Abzug der Vorsteuer zuerkannt werden, weil die eindeutige Regelung des § 15 Abs. 2 UStG 1980 diese Möglichkeit ausschließe. Die Regelung des § 14 Abs. 2 UStG 1980 und die Versagung des Vorsteuerabzugs bei steuerfreien Umsätzen seien mit der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) vereinbar. Ob und inwieweit Billigkeitsmaßnahmen in Betracht kommen könnten, sei nicht Gegenstand des Klageverfahrens.

Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung materiellen Rechts. Das FG habe seine Entscheidung auf § 14 Abs. 2 UStG 1980 gestützt. Es habe dabei verkannt, daß diese Vorschrift im Falle einer rückwirkenden Steuerbefreiung nicht anwendbar sei.

Die Klägerin hat die geänderten Bescheide vom 4. September 1992 zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Sie beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Umsatzsteuer auf 0 DM herabzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Klägerin schulde die ausgewiesene Umsatzsteuer. Die Tatsache, daß die Steuerbefreiung rückwirkend durch die Erteilung der Bescheinigung des Senators für kulturelle Angelegenheiten eingetreten sei, könne keinen Einfluß auf die Anwendung des § 14 Abs. 2 UStG 1980 haben.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

1. Entgegen der Auffassung von FA und FG hat die Klägerin in den Streitjahren noch keine nach § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 steuerfreien Umsätze ausgeführt. Gemäß § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 1 UStG 1980 sind die Umsätze öffentlicher Theater steuerfrei. Nach Satz 2 gilt das gleiche für die Umsätze gleichartiger Einrichtungen anderer Unternehmer, wenn die zuständige Landesbehörde bescheinigt, daß sie die gleichen kulturellen Aufgaben wie die in Satz 1 bezeichneten Einrichtungen erfüllen. Die Bescheinigung wirkt nicht zurück auf Zeiträume vor ihrer Ausstellung. Nach dem Wortlaut der Regelung in § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 bezieht sich die Bescheinigung nur darauf, daß die "anderen Unternehmer" --im Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung-- die gleichen kulturellen Aufgaben erfüllen. Die Bescheinigung ist dagegen unverbindlich, soweit sie erklärt, daß die Unternehmer die gleichen Aufgaben in der Vergangenheit erfüllt haben. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat in mehreren Entscheidungen zur sachlichen Reichweite der Bescheinigung als materiell-rechtliche Voraussetzung hervorgehoben, daß eine Bescheinigung nur insoweit bindet, als die Entscheidungskompetenz der zuständigen Landesbehörde übertragen ist (vgl. BFH-Urteile vom 20. April 1988 X R 20/82, BFHE 153, 454, BStBl II 1988, 796; vom 3. Mai 1989 V R 83/84, BFHE 157, 458, BStBl II 1989, 815, und vom 19. Mai 1993 V R 110/88, BFHE 172, 163, BStBl II 1993, 779).

Diese Auslegung des § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 entspricht der materiell-rechtlichen (konstitutiven) Bedeutung der Bescheinigung, die mehr ist, als ein "bloßer" (deklaratorischer) Nachweis, und trägt dem Umstand Rechnung, daß der Steuerpflichtige und auch das FA berechtigt, nicht aber verpflichtet sind, die Erteilung der Bescheinigung zu beantragen (vgl. Urteil des FG München vom 20. September 1993 14 K 3507/89, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 1994, 358). Insbesondere wird mit dieser Auslegung vermieden, daß dem FA faktisch ein Wahlrecht eingeräumt wird, das es ihm ermöglicht, noch Jahre später einseitig für die Vergangenheit auf die Besteuerung einzuwirken; diese Möglichkeit ist mit dem Grundsatz der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung unvereinbar, da die Besteuerung nicht von dem --freien-- Ermessen des FA abhängig sein darf (vgl. Tipke/Lang, Steuerrecht, 13. Aufl. 1993, S.27, 30). Andererseits kann das FA durch einen rechtzeitigen Antrag bei der zuständigen Landesbehörde ohne weiteres die zutreffende Besteuerung gleichartiger Einrichtungen herbeiführen und auf diese Weise verhindern, daß dem Steuerpflichtigen infolge der Möglichkeit, den Antrag bei der zuständigen Landesbehörde zu stellen, seinerseits ein faktisches Wahlrecht über die Besteuerung zusteht.

Im Streitfall ist die Bescheinigung des Senators für kulturelle Angelegenheiten erst im Februar 1987 ausgestellt worden. Soweit die Bescheinigung rückwirkend für alle bisher aufgeführten Eigenproduktionen gelten soll, ist sie umsatzsteuerrechtlich unbeachtlich, da sie insoweit nur bescheinigt, daß die Klägerin in der Vergangenheit die gleichen Aufgaben erfüllt hat. Dieser Teil der Bescheinigung ist nicht mehr von der dem Senator für kulturelle Angelegenheiten nach § 4 Nr. 20 Buchst. a Satz 2 UStG 1980 übertragenen Kompetenz gedeckt. Der Senat folgt damit nicht der vom FG des Saarlandes in dem Urteil vom 12. November 1992 1 K 195/92 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1993, 477) vertretenen Auffassung, nach der ausschließlich der Inhalt der Bescheinigung maßgeblich sein soll.

2. Da die Klägerin in den Streitjahren (noch) keine steuerfreien Leistungen erbracht hat, war sie zum Abzug der in Rechnung gestellten Steuer gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1980 berechtigt. Das FG, das von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen ist, hat zur Höhe der abziehbaren Vorsteuer keine Feststellungen getroffen. Die Sache war daher an das FG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 65267

BFH/NV 1995, 22

BStBl II 1995, 912

BFHE 176, 146

BFHE 1995, 146

BB 1995, 138 (L)

DB 1995, 308 (L)

DStR 1995, 96 (KT)

HFR 1995, 152-153 (KT)

StE 1995, 38 (K)

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