Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Rechtsstreit ist in der Hauptsache erledigt, wenn in einem Verfahren wegen Ablehnung einer Stundung der Steuerbetrag, dessen Stundung begehrt worden war, inzwischen erstattet worden und der Steueranspruch erloschen ist.

Einwendungen gegen die Verfassungsmäßigkeit einer Rechtsnorm können auch in einem Verfahren wegen Ablehnung einer Stundung von Bedeutung sein, wenn die Steuern des Veranlagungszeitraumes, für den Stundung begehrt wird, nur vorläufig veranlagt sind und nach der Sachlage der Stundungsantrag einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gleichkommt.

 

Normenkette

AO § 94 Abs. 2 S. 2, §§ 127, 251, 242

 

Tatbestand

Streitig ist, ob in der Ablehnung eines Antrags auf Stundung eines Betrages von rd. 460.000,00 DM vorläufig festgesetzter Herstellerzusatzumsatzsteuer ein Verstoß gegen Recht und Billigkeit liegt.

Die Bfin. ist am 8. März 1955 vorläufig zur Umsatzsteuer 1952 veranlagt worden. In dem vorläufigen Bescheid ist neben der allgemeinen Umsatzsteuer eine Herstellerzusatzumsatzsteuer von rd. 690.000,00 DM festgesetzt worden. Am 6. April 1955 beantragte die Bfin., den noch nicht gezahlten Zusatzumsatzsteuerbetrag von rd. 614.000,00 DM zu stunden mit der Begründung, daß über das für 1951 schwebende Rechtsmittel, mit dem sie die Verfassungswidrigkeit der Zusatzumsatzsteuer geltend gemacht habe, noch nicht entschieden sei. Das Finanzamt setzte durch Verfügung vom 1. Juni 1955 für einen Teilbetrag von 150.000 DM die Vollziehung des Bescheides für 1952 aus, weil insoweit auch Streit über die Höhe der geschätzten Zusatzumsatzsteuerbeträge bestand. Die Stundung der restlichen Zusatzumsatzsteuer in Höhe von rd. 460.000,00 DM lehnte das Finanzamt ab.

Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Stundung wurde vom Bundesminister der Finanzen als unbegründet zurückgewiesen. Der Bundesminister der Finanzen bezog sich u. a. auf das Urteil des Finanzgerichts, da inzwischen die Berufung der Bfin. gegen den Umsatzsteuerbescheid 1951 zurückgewiesen und die Verfassungsmäßigkeit der Zusatzumsatzsteuer bejaht hatte.

Auch die Berufung blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht bemängelt, daß die angefochtene Beschwerdeentscheidung den Stundungsantrag der Bfin. allein unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Aussetzung der Vollziehung nach § 251 AO behandelt habe; der Bundesminister der Finanzen sei von dem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen, daß auch die Veranlagung für 1952 angefochten worden sei. Aus der Beschwerdeschrift vom 2. Juli 1955 ergebe sich eindeutig, daß die Bfin. Stundung und nicht Aussetzung der Vollziehung begehre. Für eine Aussetzung der Vollziehung sei kein Raum, da diese verfahrensrechtliche Regelung ein anhängiges Rechtsmittel gegen den Bescheid voraussetze.

Die Vorinstanz hat sodann den Stundungsantrag zunächst unter dem Gesichtspunkt der zweifelhaften Rechtsgültigkeit der Zusatzumsatzsteuer geprüft. Sie kommt zu der Auffassung, daß im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung die Rechtsgültigkeit der einschlägigen Vorschriften zweifelhaft gewesen sein mag und die Bfin. auch gewichtige Gründe für ihre Auffassung habe ins Feld führen können, aber die erkennende Kammer und auch ein anderes Finanzgericht hätten die Rechtsgültigkeit der Herstellerzusatzumsatzsteuer bestätigt. Die Verfassungswidrigkeit der Vorschriften über die Herstellerzusatzumsatzsteuer sei nicht so offensichtlich gewesen, um eine etwaige Steuererstattung mit einer an Gewißheit grenzenden Wahrscheinlichkeit darzutun. Im Rahmen eines Stundungsverfahrens wären, wie das Finanzgericht unter Berufung auf das Urteil des Bundesfinanzhofs III 125/57 S vom 28. Februar 1958 (BStBl 1958 III S. 191, 194, Slg. Bd. 66 S. 497) ausführt, die Finanzämter überfordert, wenn man von ihnen verlangte, im Rahmen einer Stundungsprüfung der behaupteten Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm nachzugehen.

Die von der Bfin. geltend gemachte ungünstige wirtschaftliche Lage hält die Vorinstanz nicht für gegeben; sie sei auch erstmals im Berufungsverfahren geltend gemacht worden.

Da die Bfin. inzwischen auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts 2 BvL 18/56 vom 5. März 1958 (Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE- Bd. 7 S. 282, BStBl 1958 I S. 83) durch endgültigen Umsatzsteuerbescheid für 1952 vom 10. Juni 1958 von der Zusatzumsatzsteuer freigestellt worden ist, hat das Finanzgericht die Hauptsache für erledigt angesehen und nach den oben dargestellten Erwägungen der Bfin. die Kosten des Verfahrens auferlegt.

 

Entscheidungsgründe

Hiergegen richtet sich die Rb.; sie hat Erfolg.

Insoweit die Vorinstanz die Hauptsache für erledigt erklärt hat, ist ihr zuzustimmen. Das Urteil des Bundesfinanzhofs III 306/61 U vom 22. März 1963 (BStBl 1963 III S. 332) steht damit nicht im Widerspruch. In dem dort entschiedenen Falle hatte sich das Finanzamt im Laufe des Rechtsmittelverfahrens hinsichtlich der zu stundenden Abgabenforderung befriedigt. Bei Zahlung oder zwangsweiser Beitreibung der Steuerforderung ist allerdings nicht, wie in dem in der AO angeführten Falle des § 94 Abs. 2 Satz 2 AO, dem Rechtsmittelantrag entsprochen. Im Streitfall ist aber die Steuer im Laufe des Rechtsmittelverfahrens erstattet worden. Es ist also über das Begehren der Bfin., die klaglos gestellt worden ist, hinausgegangen worden. Solchenfalls können die vom Bundesfinanzhof in dem oben angeführten Urteil III 306/61 U geäußerten Bedenken, die Verwaltung könne im Falle der Ermessenswidrigkeit nicht mehr zu einer dem Steuerpflichtigen günstigen Entscheidung veranlaßt werden, gar nicht zum Tragen kommen. Die ursprünglich streitige Steuerforderung ist erloschen.

Ein Stundungsantrag wird in der Regel nicht damit begründet werden können, daß die Verfassungsmäßigkeit der der Steuerfestsetzung durch endgültigen Steuerbescheid zugrunde liegenden Rechtsnorm zweifelhaft sei (vgl. Tipke-Kruse, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 127 Anm. 6 und die dort angeführte Rechtsprechung: Entscheidung des Finanzgerichts Düsseldorf IV 8-11/58 A vom 28. Februar 1958, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1958 Nr. 483 S. 387, und Entscheidung des Finanzgerichts Hamburg II 207/58 (V) vom 6. November 1958, EFG 1959 Nr. 219 S. 175); denn Einwendungen gegen die materielle Richtigkeit des Steueranspruches gehören grundsätzlich in das ordentliche Rechtsmittelverfahren; andernfalls würde, wenn die Verfahren wegen abgelehnter Stundung (ß 127 AO) oder abgelehnten Erlasses (ß 131 AO) mit derartigen Prüfungen belastet wären, das Institut der Rechtskraft ausgehöhlt werden (vgl. auch Urteile des Bundesfinanzhofs I 218/55 U vom 17. April 1956, BStBl 1956 III S. 190, Slg. Bd. 62 S. 510, und VI 187/57 U vom 30. August 1957, BStBl 1957 III S. 408, Slg. Bd. 65 S. 457).

Der Streitfall liegt jedoch anders. Einmal ist die Veranlagung für 1952 nur vorläufig vorgenommen worden, so daß eine Aushöhlung der Rechtskraft in dem von den angeführten Urteilen der Finanzgerichte befürchteten Sinne nicht zu besorgen ist. Zum anderen hatte die Steuerpflichtige, die die Veranlagung für 1951 mit der gleichen Begründung, mit der sie die Stundung begehrte, angefochten hatte, keinen Anlaß, auch die Veranlagung für 1952 anzufechten, solange diese nur vorläufig war; sie konnte ihre Einwendungen gegen die Steuerschuld immer noch gegen den endgültigen Steuerbescheid uneingeschränkt erheben, auch wenn die vorläufige Veranlagung 1952 formell rechtskräftig geworden war. Hinzu kommt folgendes.

Als sachlicher Billigkeitsgrund wird es auch anzuerkennen sein, wenn der Steuerpflichtige dartut, daß mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die zu zahlende Steuer demnächst zu erstatten sein wird. Solchenfalls wird eine Stundung begehrt, die sich nicht nur in ihrer Wirkung, sondern auch in ihren Voraussetzungen einer Aussetzung der Vollziehung nähert (vgl. Becker-Riewald-Koch, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 9. Aufl., § 127 Anm. 3 Abs. 4). Gleichwohl könnte von einem Ermessensmißbrauch nicht die Rede sein, wenn der Bundesfinanzhof als zuständiges oberes Bundesgericht die Vereinbarung der strittigen Norm mit dem Grundgesetz (GG), wie die Vorinstanz annimmt, bejaht hätte (vgl. Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1 BvR 314/60 vom 21. Februar 1961, BVerfGE Bd. 12 S. 180, BStBl 1961 I S. 63). Dies ist jedoch nicht der Fall. In dem von der Vorentscheidung angeführten, amtlich nicht veröffentlichten Urteil V 233/56 vom 12. Dezember 1956 hat der Senat die Vorentscheidung, die den auf Verfassungswidrigkeit der Herstellerzusatzumsatzsteuer gestützten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hatte, nicht bestätigt, sondern aufgehoben. Die Vorentscheidung kann durch ihre irrige gegenteilige Annahme von Rechtsirrtum beeinflußt sein. Der Bundesfinanzhof hat dem Bundesverfassungsgericht gegenüber, nachdem ein Finanzgericht das Verfahren betreffend Herstellerzusatzumsatzsteuer gemäß Art. 100 GG ausgesetzt hatte, lediglich summarisch zum Ausdruck gebracht, daß er die Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Normen für zweifelhaft halte und sie nur "unter Zurückstellung gewichtiger Bedenken" als im Einklang mit Art. 80 GG stehend ansehen könnte. Eine Spruchentscheidung des zuständigen V. Senats liegt jedoch - wie ausgeführt - nicht vor. Die Auffassung der Finanzgerichte war geteilt. Bei dieser Sachlage konnte, auch unter Berücksichtigung der im Schrifttum von namhaften Autoren erhobenen Bedenken, mit einer Nichtigkeitserklärung der streitigen Normen schon im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung durchaus gerechnet werden.

Die von der Verwaltung im Rahmen ihres pflichtmäßigen Ermessens getroffene Maßnahme kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs von den Steuergerichten nur daraufhin nachgeprüft werden, ob die Grenzen dieses Ermessens eingehalten worden sind. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs III 187/52 S vom 10. September 1954 (BStBl 1954 III S. 328, Slg. Bd. 59 S. 307) ist die Vollziehung eines Steuerbescheides bereits dann auszusetzen, wenn die Möglichkeit zu seiner Aufhebung in dem Sinne besteht, daß die Rechtslage auf Grund gewichtiger Darlegungen des Steuerpflichtigen zweifelhaft ist. Gerade im Rahmen eines Stundungsverfahrens, das allerdings unter den Umständen des Streitfalles einem Aussetzungsverfahren stark angenähert ist, sind für die Ausübung des Ermessens nicht allein die Erfolgsaussichten des - im Streitfalle nur für 1951 eingelegten - Rechtsmittels maßgebend. Es sind vielmehr auch die besonderen und persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen zu würdigen. Auch hier ist der Vorinstanz ein Irrtum insofern unterlaufen, als sie meint, die Bfin. habe auf ihre ungünstige wirtschaftliche Lage erstmals im Berufungsverfahren hingewiesen. Auch diese irrtümliche Feststellung kann die Vorentscheidung beeinflußt haben. Die Bfin. hat vielmehr bereits in ihrem Stundungsantrage vom 26. Juli 1956 darauf hingewiesen, daß ihr die Aufbringung der geforderten Beträge nur aus Kreditmitteln möglich gewesen sei und daß ihr die Kosten der Kreditbeschaffung auch im Falle des Obsiegens nicht ersetzt würden. Sie hat außerdem ausgeführt - und diese Darstellung hat das Finanzamt in einem Bericht an die Oberfinanzdirektion ausdrücklich bestätigt, ebenso, wie es die Knappheit des Eigenkapitals der Bfin. nicht angezweifelt hat -, daß sie bis zum 30. Juni 1956 - also bis zu einem Zeitpunkt vor Ergehen der Beschwerdeentscheidung des Bundesministers der Finanzen vom 30. August 1956 - bereits rd. 5.890.000,00 DM Herstellerzusatzumsatzsteuer entrichtet hatte. Es steht also fest, daß die Bfin. in großem Ausmaß die von dem Streit betroffenen Zusatzumsatzsteuern gezahlt hatte. Sie hat mit ihren Darlegungen auch glaubhaft gemacht, daß selbst bei der Größe und wirtschaftlichen Lage ihres Unternehmens der weitere Entzug erheblicher Mittel eine nicht wiedergutzumachende Härte für den Fall ihres Obsiegens im Rechtsmittelverfahren 1951 bedeuten würde.

Unter diesen besonderen Umständen des Streitfalles, wozu auch gehört, daß von einer Gefährdung des Anspruches auf die gestundeten Beträge nicht die Rede sein konnte, ist somit die Vorentscheidung von einer anderen rechtlichen Beurteilung ausgegangen als nach den vorstehenden Ausführungen geboten gewesen wäre. Die Auffassung der Vorinstanz über die Ausübung des Ermessens ist rechtsirrtümlich.

Unter Aufhebung der Vorentscheidung sind die Hauptsache für erledigt zu erklären und die Kosten des gesamten Verfahrens gemäß § 309 AO dem Bund aufzuerlegen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410910

BStBl III 1963, 445

BFHE 1964, 344

BFHE 77, 344

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