Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Veranlaßt das Finanzamt einen rechtsunkundigen Steuerpflichtigen durch eine nach den Erkenntnissen der Zeit ihrer Erteilung unrichtige Belehrung, ein bei ihm schwebendes Rechtsmittel wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung zurückzunehmen, so ist die Rechtsmittelzurücknahme unwirksam. Der Senat tritt der Entscheidung des III. Senats III 35/58 U vom 19. Dezember 1958 (BStBl 1959 III S. 116) bei.

 

Normenkette

AO §§ 253, 243

 

Tatbestand

Der Beschwerdeführer (Bf.) ist im Jahr 1952 mit Einkünften aus Landwirtschaft und aus Gastwirtschaft zur Einkommensteuer für 1950 veranlagt worden. Die Einkünfte wurden geschätzt, da der Bf. keine Steuererklärung abgab. Im Jahre 1956 wurde die Veranlagung gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) berichtigt, da dem Finanzamt bekanntgeworden war, daß der Bf. von einer AG für die überlassung von Tonerde im Dezember 1950 einen Betrag von 5.000 DM und im Dezember 1951 einen Betrag von 6.850 DM, insgesamt also 11.850 DM, erhalten hatte. Das Finanzamt behandelte den gesamten Betrag von 11.850 DM als landwirtschaftliche Einkünfte des Jahres 1950 und berichtigte den Einkommensteuerbescheid für dieses Jahr auf dieser Grundlage, wodurch sich an Einkommensteuer ein Mehr in Höhe von 8.765 DM - 3.255 DM = 5.510 DM ergab. In seinem rechtzeitigen Einspruch wandte sich der Bf. gegen den Berichtigungsbescheid mit dem Hinweis, daß er aus dem Erlös der Tonerde seinen Viehbestand ergänzt habe. Unter Hinweis auf seine schwierige wirtschaftliche Lage - er habe einen ganzen Stall mit tbc-kranken Rindern räumen müssen - bat er um änderung der Steuerfestsetzung auf eine "noch tragbare Summe". Mit Schreiben vom 20. Juli 1956 teilte ihm der zuständige Sachgebietsleiter des Finanzamts mit, daß sein Einspruch nach Prüfung seiner Einwendungen und "unter Berücksichtigung der Feststellungen des Finanzamts" keine Aussicht auf Erfolg habe. Gleichzeitig wurde der Bf. um Mitteilung innerhalb acht Tagen gebeten, ob er seinen Einspruch aufrechterhalte oder zurücknehme. Am 30. Juli 1956 erklärte der zum Finanzamt vorgeladene Bf. zur Niederschrift, daß er seinen Einspruch gegen den Berichtigungsbescheid "nach Aufklärung" zurückziehe. Mit Schreiben vom 20. Oktober 1956 und weiteren Schreiben machte er geltend, daß der Hinweis des Sachgebietsleiters im Schreiben vom 20. Juli 1956 über die Aussichtslosigkeit des Einspruchs unrichtig gewesen sei. Seine Einspruchsrücknahme sei daher unwirksam. Im Laufe des Verfahrens trug er vor, daß der Erlös aus der überlassenen Tonerde für das Jahr 1950 nur mit einem Betrage von 5.000 DM zur Einkommensteuer hätte herangezogen werden dürfen, während der Restbetrag von 6.850 DM bei der Veranlagung für dieses Jahr ausscheide, da er ihm erst im Jahre 1951 zugeflossen und daher gemäß § 11 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erst für dieses Jahr als Einnahme anzusehen sei. Da es sich bei der überlassung der Tonerde um eine Veräußerung von Bodenschätzen im Sinne des § 36 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) 1950 handle, seien die im Jahre 1950 zugeflossenen 5.000 DM "Einkünfte aus Gewerbebetrieb", auf die nach Abs. 4 der Bestimmung die Steuersätze bei außerordentlichen Einkünften (§ 34 Abs. 1 EStG) anzuwenden seien.

Die Vorinstanzen haben die Zurücknahme des Einspruchs als rechtswirksam angesehen und demgemäß ein Eingehen auf die Sache abgelehnt.

 

Entscheidungsgründe

Die Rechtsbeschwerde (Rb.) führt dazu, daß ein Verlust des Einspruchs im Sinne des § 253 Satz 3 AO nicht anzuerkennen ist, daß daher in der Sache zu entscheiden und dahin zu erkennen ist, daß dem Bf. im Jahre 1950 Pachteinkünfte, und zwar nur in Höhe von 5.000 DM, zugeflossen sind. Im übrigen ist die Rb. unbegründet.

Nach der Sachlage - der Akteninhalt ist in dieser Hinsicht durchaus eindeutig - besteht kein Zweifel daran, daß der Bf. zur Rücknahme seines Einspruchs durch die Initiative des Finanzamts veranlaßt worden ist. Er ist vom Sachgebietsleiter im Schreiben vom 20. Juli 1950 unter Hinweis auf die Aussichtslosigkeit seines Einspruchs befristet um Mitteilung gebeten worden, ob er ihn zurücknehmen oder aufrechterhalten wolle. Bereits in diesem Schreiben ist auf "Feststellungen des Finanzamts" Bezug genommen, was offenbar auch im Sinne rechtlicher Feststellungen verstanden werden sollte. In der Verhandlung vom 30. Juli 1956, zu der der Bf. vom Finanzamt vorgeladen worden war, ist die Rechtslage eingehend mit ihm erörtert und dabei ganz offensichtlich der Standpunkt des Finanzamts aufrechterhalten worden, daß sich für den Bf. in Anbetracht der eindeutigen Rechtslage die Rücknahme des Einspruchs empfehle. Das wird vom Finanzamt auch nicht ernsthaft in Abrede gestellt. Jedenfalls sind in der Verhandlung vom 30. Juli 1956 nicht nur die wirtschaftlichen Verhältnisse des Bf. Gegenstand der Erörterung gewesen.

Nach § 259 Abs. 2 Satz 1 AO hat das Finanzamt auf den Einspruch hin "die Sache erneut zu prüfen", wobei ihm das Gesetz - wie § 204 Abs. 1 AO als allgemeiner Grundsatz zu entnehmen ist - zur Pflicht macht, die tatsächlichen und die rechtlichen Verhältnisse auch zugunsten des Steuerpflichtigen zu prüfen. Es kann hier dahingestellt bleiben, ob und inwieweit sich das Finanzamt im Hinblick auf den von ihm zu bewältigenden Arbeitsanfall hinsichtlich Art und Umfang seiner Prüfung von der Erwägung leiten lassen könne, daß dem Steuerpflichtigen gegen eine ungünstige Einspruchsentscheidung der Rechtsweg offensteht. Anders ist die Sachlage schon dann, wenn der Steuerpflichtige vom Finanzamt zur Zustimmung nach § 94 Abs. 2 AO veranlaßt wird, obwohl ihm nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs I 186/54 U vom 2. August 1955 (BStBl 1955 III S. 331, Slg. Bd. 61 S. 345) auch in diesem Falle noch der Rechtsweg gegen den Abhilfebescheid offenbleibt, sofern er nicht ausdrücklich darauf verzichtet hat (vgl. hierzu auch: Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis, S. 57 Anm. 2). Wenn jedoch der Steuerpflichtige vom Finanzamt veranlaßt wird, von der Einlegung eines Rechtsmittels abzusehen, auf die Einlegung eines Rechtsmittels zu verzichten oder - wie hier - ein bereits eingelegtes Rechtsmittel zurückzunehmen, so steht die erhöhte Verantwortung und die sich daraus ergebende erhöhte Sorgfaltspflicht des Finanzamts in jedem Falle außer Frage, insbesondere dann, wenn ihm - wie im vorliegenden Falle - ein rechtsunkundiger Steuerpflichtiger gegenübersteht. Der Steuerpflichtige kann seine Rücknahmeerklärung nach den für das öffentliche Recht geltenden Grundsätzen nur bedingungslos abgeben. Er darf deshalb auch voraussetzen, daß die Steuerbehörde nach den Gegebenheiten zur Zeit der Erklärung alle Mittel zur Klärung der Rechtslage angewendet und ihn rechtlich zutreffend belehrt hat, bevor sie ihn mit ihrem durch keinerlei Vorbehalt eingeschränkten Hinweis auf die Aussichtslosigkeit seines Rechtsmittels zu dessen Rücknahme veranlaßt. Dieses sein Vertrauen muß geschützt werden. Mit seiner Initiative und mit seiner aus eigenem Antrieb erfolgten Einflußnahme auf den Steuerpflichtigen übernimmt das Finanzamt auch die volle Verantwortung für sein Handeln und das sich daraus ergebende Risiko. In übereinstimmung mit der Entscheidung des III. Senats III 35/58 U vom 19. Dezember 1958 (BStBl 1959 III S. 116), der der Senat beipflichtet, muß deshalb die Zurücknahme des Einspruchs als unwirksam angesehen werden, wenn sich nachträglich ergibt, daß das Finanzamt auf Grund einer unzutreffenden Beurteilung der Rechtslage den Steuerpflichtigen zu seiner Erklärung veranlaßt hat, obwohl von ihm eine zutreffende rechtliche Beurteilung nach der Gesetzeslage und dem Stande der Rechtsprechung erwartet werden konnte. Es ist dann über den Einspruch zu entscheiden, als ob er niemals zurückgenommen worden wäre (vgl. auch Berger, a. a. O., S. 36). Diese Folgerung wird auch durch die überlegung gestützt, daß andernfalls der Steuerpflichtige genötigt würde, sein Recht auf dem Umwege über die Fehlerberichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO zu suchen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift wären dann gegeben. Es würde auch unter den besonderen Umständen der Sachlage nach Recht und Billigkeit Pflicht der Aufsichtsbehörde sein, das Finanzamt entsprechend anzuweisen. Es wäre ein Sachverhalt gegeben, der demjenigen mindestens entsprechen würde, der der Entscheidung des Bundesfinanzhofs VI 137/57 U vom 8. August 1958 (BStBl 1958 III S. 409, Slg. Bd. 67 S. 353) zugrunde lag.

Der III. Senat hat in seiner Entscheidung III 35/58 U vom 19. Dezember 1958 (a. a. O.) als unschädlich angesehen, daß der Steuerpflichtige sich auf die Unwirksamkeit seiner Einspruchsrücknahme erst etwa ein halbes Jahr nach ihrer Erklärung berufen hat. Im vorliegenden Falle handelt es sich um einen Zeitraum von etwa einem Vierteljahr. In seiner Entscheidung IV 192/52 U vom 3. Juli 1952 (BStBl 1952 III S. 241, Slg. Bd. 56 S. 627) hat der erkennende Senat im Interesse der Rechtssicherheit gefordert, daß die Unwirksamkeit der Zurücknahmeerklärung eines Rechtsmittels unter Berücksichtigung der Verhältnisse des einzelnen Falles innerhalb eines angemessenen Zeitraums geltend zu machen sei (vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs IV 154/54 U vom 13. Mai 1954, BStBl 1954 III S. 219, Slg. Bd. 59 S. 28). In den beiden vom Senat entschiedenen Fällen lag zwischen Erklärung und Widerruf ein Zeitraum von 1 1/2 Jahren. Der Bf. hat seine Rücknahmeerklärung unverzüglich widerrufen, sobald er von anderer Seite darauf hingewiesen worden war, daß die Berichtigungsveranlagung für 1950 unrichtig sei. Der Senat sieht insoweit keine Bedenken.

Für die steuerrechtliche Beurteilung der Sache selbst sind die im Vertrage vom November 1950 zwischen der AG und dem Bf. sowie seiner Ehefrau getroffenen Vereinbarungen von Bedeutung. Der Vertrag stellt zunächst unter Hinweis auf einen früheren Vertrag, den die Rechtsvorgängerin der AG bereits im April 1930 mit dem Bf. abgeschlossen hat, das dinglich gesicherte Recht der AG klar, auf Grundstücken des Bf. mit bestimmten Plannummern Tonerde auszubeuten. Auf Grund erneuter Bohrungen sei ein Tonvorkommen von einer bestimmten Tagwerksgröße festgestellt worden, von dem für eine Teilfläche Bezahlung schon früher erfolgt sei. Für die nunmehr käuflich zu erwerbende Restfläche werde ein Kaufpreis von 11.850 DM gezahlt, von denen 5.000 DM nach Eintragung einer entsprechenden Dienstbarkeit, der Restbetrag am 1. Dezember 1951 zu zahlen sei. Zur Sicherung der Rechte aus diesem von den Vertragspartnern als "Tonausbeutevertrag" bezeichneten Vertrag räumten der Bf. und seine Ehefrau der AG durch notariellen Vertrag vom Dezember 1950 eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit nach Maßgabe dieses Vertrages ein.

Das Finanzamt ist bei seiner ursprünglichen - inzwischen aufgegebenen - steuerrechtlichen Beurteilung der bei den Einkommensteuerakten befindlichen Beurteilung des für die AG zuständigen Finanzamts gefolgt. Darin heißt es:

"Der Kaufpreis stellt bei einem Landwirt Teil des landwirtschaftlichen Gewinnes dar und ist bei einem buchführenden Landwirt im Zeitpunkt des Kaufabschlusses in voller Höhe, ohne Rücksicht auf die Fälligkeit, zu berücksichtigen."

Diese Beurteilung ist unrichtig. Tonausbeuteverträge der Art, wie sie im vorliegenden Falle zwischen den Vertragsparteien abgeschlossen worden sind, sind grundsätzlich Pachtverträge im Sinne des § 581 BGB. Die Einkünfte des verpachtenden Landwirts auf Grund eines derartigen Vertrages sind grundsätzlich Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung und nicht landwirtschaftliche Einkünfte, wobei es für die rechtliche Beurteilung unerheblich ist, ob das Abbaurecht lediglich durch Abschluß eines schuldrechtlichen Vertrages begründet ist oder ob es außerdem noch dinglich gesichert ist. In besonderen Ausnahmefällen können Ausbeuteverträge als Kaufverträge angesehen werden, durch die im Boden befindliche Mineralien oder sonstige Bodenschätze veräußert werden (vgl. hierzu Urteil des Bundesfinanzhofs I 199/57 U vom 7. Oktober 1958, BStBl 1959 III S. 5, und die dort angeführte Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs). Nach der Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs wurden derartige Veräußerungsgewinne eines Landwirts als Gewinne im Rahmen der Einkunftsart "Land- und Forstwirtschaft" behandelt. Diese Rechtsprechung ist überholt. Durch § 36 EStDV 1950, dessen Rechtswirksamkeit der Senat in seiner Entscheidung IV 186/56 U vom 9. Mai 1957 (BStBl 1957 III S. 246, Slg. Bd. 65 S. 32) unter eingehender Darstellung der Rechtsentwicklung bejaht hat, ist klargestellt, daß Gewinne aus einer etwaigen Veräußerung der Tonerde, die - wie im vorliegenden Fall - nicht zum landwirtschaftlichen Betriebsvermögen des Bf. gehört, zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb zu rechnen sind. Die von dem Bf. für die überlassung der Tonerde erzielten Einkünfte sind daher entweder Pachteinkünfte oder gewerbliche Einkünfte. Das letztere kann - wie bereits dargelegt - nur ausnahmsweise anerkannt werden. Ein derartiger Ausnahmefall ist unter den hier obwaltenden Umständen nicht gegeben. Eine Veräußerung von Bodenschätzen im Sinne des § 36 EStDV 1950 liegt zweifelsfrei dann vor, wenn - wie im Falle der Entscheidung IV 186/56 U (a. a. O. - das abzubauende Vorkommen zusammen mit der Ackerfläche selbst veräußert wird. Bei selbständiger überlassung des Vorkommens ist eine Veräußerung nur dann anzunehmen, wenn es sich dabei um einen einmaligen Lieferungsvorgang handelt, der sich auf eine bestimmte und festabgegrenzte Liefermenge bezieht. Im vorliegenden Falle handelt es sich jedoch - wie insbesondere der Vertrag vom April 1930 zeigt - um einen Dauerabbauvertrag, aus dem die AG berechtigt ist, nach ihrem Ermessen nach und nach je nach ihren betriebswirtschaftlichen Bedürfnissen eine Reihe von Plannummern auszubeuten. Daß dabei das Entgelt jeweils von Fall zu Fall nach dem Ergebnis der durch Bohrung ermittelten Fündigkeit, d. h. nach der Mächtigkeit des Vorkommens der zum Abbau in Angriff genommenen Einzelfläche, berechnet und vertraglich festgelegt wird, steht der Annahme eines Pachtverhältnisses ebensowenig entgegen, wie der Umstand, daß das vereinbarte Entgelt als "Kaufpreis" bezeichnet wird.

Hiernach handelt es sich bei den vom Bf. aus der überlassung der Tonerde erzielten Einkünften um Pachteinkünfte, so daß eine steuerliche Begünstigung nach § 36 Abs. 4 EStDV 1950 ausscheidet. Die vereinnahmten Beträge sind gemäß § 11 EStG steuerlich nach Maßgabe ihres Zuflusses zu erfassen. Im Jahre 1950 sind dem Bf. nur 5.000 DM zugeflossen.

Da die vom Finanzamt erteilte Belehrung über die Aussichtslosigkeit des Einspruchs unrichtig war, ist die Einspruchszurücknahme des Bf. aus den bereits dargelegten Erwägungen unwirksam. Das vom Finanzamt in dem angegriffenen Berichtigungsbescheid ermittelte Einkommen mindert sich um 6.850 DM.

 

Fundstellen

Haufe-Index 409383

BStBl III 1959, 294

BFHE 1960, 88

BFHE 69, 88

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