Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Steuerliche Förderungsgesetze

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Veranlagung oder Entscheidung kann nicht deswegen zum Nachteil der Stpfl. ausgesetzt oder für vorläufig erklärt werden, weil die Möglichkeit besteht, daß die geltenden gesetzlichen Bestimmungen in einer dem Stpfl. ungünstigen Weise mit rückwirkender Kraft geändert werden.

AO § 100; Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung von Forderungen für den

 

Normenkette

AO § 100; LAG § 141/3

 

Tatbestand

Es handelt sich um die Gewährung der der Beschwerdeführerin (Bfin.) als Schuldnerin von Umstellungsgrundschulden wegen Unwirtschaftlichkeit des Grundstücks nach § 5 Abs. 4 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Sicherung von Forderungen für den Lastenausgleich vom 7. September 1948 (Gesetz- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrats des Vereinigten Wirtschaftsgebietes - WiGBl. - S. 88) zu gewährenden Vergünstigungen. Das Finanzgericht hat über den von den Verwaltungsbehörden für zulässig gehaltenen Umfang hinaus Zinsbeträge erlassen und die Einziehung von Tilgungsraten ausgesetzt. Es hat seine Entscheidung gemäß § 100 der Reichsabgabenordnung (AO) für "vorläufig" erklärt. Die Bfin. hat die Erklärung als vorläufig mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) angegriffen. In der Sache selbst besteht zwischen den Parteien kein Streit mehr.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist begründet.

Die angegriffene Entscheidung entspricht in der Sache der Rechtsprechung des Senats. Das Finanzgericht hat jedoch den § 100 AO rechtsirrtümlich angewandt.

Der Tatbestand, der dem § 100 AO zugrunde liegt, ist nicht gegeben. Das Finanzgericht stützt seine Entscheidung - unter Berufung auf Riewald, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, Anm. 3 zu § 100 - auf § 141 Ziff. 3 des Lastenausgleichsgesetzes (LAG), der eine dem Schuldner ungünstige, mit rückwirkender Kraft auszustattende Regelung durch Rechtsverordnung vorsieht. Die Rechtsverordnung ist bisher nicht ergangen.

Schon Becker als Schöpfer der Reichsabgabenordnung hat darauf hingewiesen, daß die sich auf Grund der geltenden Bestimmungen ergebende Lage des Steuerpflichtigen - Stpfl. - (bzw. des Schuldners), wo ihm ein Rechtsanspruch zusteht, wegen einer künftigen gesetzlichen Regelung durch Erklärung einer Veranlagung als vorläufig nicht verschlechtert werden darf (Becker, AO, Anm. 6 zu § 82 a. F.). Der Reichsfinanzhof hat sich dieser Auffassung in der Entscheidung VI A 942/29 vom 12. Juni 1929 (Steuer und Wirtschaft - StuW - 1929 Nr. 954) angeschlossen. Er hat ausgeführt:

"Es ist der obersten Verwaltungsbehörde unbenommen, gegenüber einer ihr ungünstigen Entscheidung des obersten Steuergerichts die von ihr vertretene Gesetzesauslegung im Wege der Gesetzesänderung durchzusetzen. Solange das Gesetz aber nicht geändert ist, hat der Pflichtige einen Anspruch darauf, nach dem bestehenden Gesetz behandelt und im vorliegenden Fall nicht veranlagt zu werden. Dieses Recht würde ihm verweigert, wenn die Steuerbehörde das Einspruchsverfahren entsprechend der Anordnung des Reichsministers der Finanzen einfach bis auf weiteres aussetzen könnte. Der Pflichtige wäre wehrlos gegenüber einer Verwaltungsmaßnahme, die, wie das Finanzgericht zutreffend ausführt, in der ausgesprochenen Absicht ergangen ist, dem Steuerpflichtigen Vorteile zu entziehen, die ihm nach den zur Zeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen nach der Auslegung des höchsten Steuergerichts zufallen müssen."

Die Bemerkung bei Riewald läßt nicht klar erkennen, unter welchen Umständen der Verfasser wegen einer kommenden gesetzlichen Regelung die Anwendung des § 100 AO für gerechtfertigt hält. Hier liegt der Fall so, daß dem Schuldner in § 5 Abs. 4 Satz 1 Vordersatz ein Rechtsanspruch eingeräumt ist. Sind die dort normierten Voraussetzungen gegeben, so hat der Schuldner ein Recht darauf, daß dem Antrag ohne Einschränkung stattgegeben wird. Der Senat schließt sich der Auffassung des Reichsfinanzhofs in vollem Umfange an. Die Anwendung des § 100 AO bei klarer Rechtslage zum Nachteil der Stpfl. (Schuldner) ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen gegenwärtig so wenig wie zur Zeit des Ergehens der Entscheidung vom 12. Juni 1929 vertretbar.

Daß über einen von der Bfin. gestellten Antrag, auf Umstellungsgrundschulden gemäß § 3 a des Gesetzes zur Sicherung von Forderungen für den Lastenausgleich in der Fassung vom 10. August 1949 zu verzichten, der also zum Ziele hat, durch Verminderung der Umstellungsgrundschulden einen über die Vergünstigung des § 5 Abs. 4 Satz 1 der Ersten Durchführungsverordnung hinausgehenden Vorteil zu erhalten, noch nicht entschieden ist, vermag die Anwendung des § 100 AO ebenfalls nicht zu rechtfertigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 309 AO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 407587

BStBl III 1953, 83

BFHE 1954, 212

BFHE 57, 212

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