Entscheidungsstichwort (Thema)

Festsetzungsverjährung bei Haftungsbescheiden: Anwendung der §§ 169 ff. AO, Änderung eines Haftungsbescheids nach Ablauf der Festsetzungsfrist - Änderungen der Erstschuld nach Ergehen der Einspruchsentscheidung bezüglich des Haftungsbescheids

 

Leitsatz (amtlich)

Die Vorschriften über die Festsetzungsverjährung sind nur auf den "Erlaß" von Haftungsbescheiden entsprechend anzuwenden. Haftungsbescheide können auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist zugunsten des Haftungsschuldners korrigiert werden.

 

Orientierungssatz

1. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist unter dem "Erlaß" eines Bescheides in der Regel das (erstmalige) Ergehen einer behördlichen Entscheidung in der Form der Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes zu verstehen. Nicht erfaßt wird vom engeren Wortsinn des Begriffs "Erlaß" die Korrektur einer behördlichen Entscheidung durch deren Änderung oder Aufhebung (Ausführungen zu Sinn und Zweck des § 191 Abs.3 S.1 AO 1977, insbesondere zur insoweit unzulässigen Rechtsfortbildung durch Auslegung der Norm gegen ihren Wortlaut).

2. Zahlungen, die nach der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung bezüglich eines Haftungsbescheids auf die Steuerschuld geleistet werden, haben keinen Einfluß auf die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids. Es kann aber durch eine nach diesem Zeitpunkt erfolgte Minderung der Steuerschuld ein Widerruf des Haftungsbescheides nach § 131 Abs. 1 AO 1977 veranlaßt sein.

3. NV: Der BFH-Rechtsprechung kann nicht entnommen werden, daß ein Haftungsbescheid nur bis zum Abschluß des Einspruchsverfahrens aufgehoben oder geändert werden müsse, wenn die Erstschuld nach Erlaß des Haftungsbescheids und vor Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erloschen sei oder sich geändert habe. Der Erlaß der Einspruchsentscheidung bildet nur insoweit eine Zäsur, als Zahlungen auf die Erstschuld oder Zahlungen anderer Haftungsschuldner nach Bekanntgabe der letzten Verwaltungsentscheidung keinen Einfluß mehr auf die rechtmäßig festgesetzte Haftungssumme haben und daher im Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid nicht erfolgreich geltend gemacht werden können.

4. NV: Entfallen die dem Haftungsbescheid zugrundeliegenden Steueransprüche durch nachträgliche Änderungen in der Festsetzung der Erstschuld oder erlöschen sie durch Zahlungen des Steuerschuldners, kann nach der BFH-Rechtsprechung in beiden Fällen eine Rücknahme des Haftungsbescheides gegenüber dem Haftungsschuldner in Betracht kommen (vgl. BFH-Urteil vom 18.5.1983 I R 193/79).

 

Normenkette

AO 1977 §§ 130-131, 169 Abs. 1 S. 1, § 191 Abs. 3 S. 1, § 348

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG (Entscheidung vom 10.08.1995; Aktenzeichen XI 436/90)

 

Tatbestand

Als alleinige Geschäftsführerin einer inzwischen aufgelösten GmbH wurde die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) vom Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) mit Haftungsbescheid wegen nicht entrichteter Umsatzsteuer als Haftungsschuldnerin nach § 34 und § 69 der Abgabenordnung (AO 1977) in Anspruch genommen. Vertreten durch ihren zum Liquidator der GmbH bestellten Ehemann legte die Klägerin gegen den Haftungsbescheid Einspruch ein und forderte das FA in zwei Schriftsätzen auf, den Haftungsbetrag wegen uneinbringlicher Forderungen der GmbH um die in diesem Betrag enthaltene Umsatzsteuer herabzusetzen. Das FA änderte daraufhin den Haftungsbescheid und setzte die Haftungssumme zur Umsatzsteuer antragsgemäß herab. Gleichzeitig teilte es der Klägerin mit, daß sich damit ihr Einspruch erledigt habe. Da die Klägerin die restlichen Haftungsschulden nicht beglich, leitete das FA 1990 Vollstreckungsmaßnahmen ein. Darauf teilte die Klägerin dem FA mit, daß sie das Einspruchsverfahren als noch nicht erledigt ansehe, legte hilfsweise erneut Einspruch ein und stellte einen Antrag auf Rücknahme des Haftungsbescheides, den das FA jedoch ablehnte. Sowohl der hilfsweise eingelegte als auch der gegen den Ablehnungsbescheid eingelegte Einspruch hatten keinen Erfolg.

Das Finanzgericht (FG) hat die zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Klagen auf Aufhebung und Rücknahme des Haftungsbescheides abgewiesen. Es urteilte, ein Anspruch auf Aufhebung des Haftungsbescheides bestünde deshalb nicht, weil die Klägerin gegen den Änderungsbescheid vom 26. Juli 1982 nicht fristgerecht Einspruch eingelegt habe. Das FA habe deutlich zum Ausdruck gebracht, daß es das Rechtsbehelfsverfahren abschließen wolle. Auch sei dem vom Ehemann der Klägerin gestellten Antrag auf Herabsetzung der Umsatzsteuer, den sich die Klägerin zurechnen lassen müsse, in vollem Umfang entsprochen worden. Für das FA sei ein über den Umfang des Änderungsbescheides hinausgehendes Rechtsschutzbegehren der Klägerin nicht erkennbar gewesen. Es läge damit ein Abhilfebescheid gemäß § 367 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 vor, der das Einspruchsverfahren beendet habe. Um ihre Rechte zu wahren, hätte die Klägerin erneut Einspruch einlegen müssen. ++/ Im übrigen sei der Haftungsbescheid nicht wegen schwerwiegender Mängel unwirksam oder nichtig, auch wenn die Ausübung des Auswahlermessens durch das FA unvollständig gewesen sei. /++

Da die Umsatzsteuer-Jahresbescheide 1980 und 1981 erst nach dem geänderten Haftungsbescheid vom 26. Juli 1982 ergangen seien, könne die Abweisung der Klage auf Rücknahme des Haftungsbescheides zwar nicht darauf gestützt werden, daß die Klägerin den Haftungs- oder Änderungsbescheid rechtzeitig hätte anfechten können. Ein Anspruch auf Rücknahme des Haftungsbescheides bestehe dennoch nicht, weil der Haftungsbescheid gemäß § 191 Abs. 3 i.V.m. § 169 Abs. 1 AO 1977 nur innerhalb der --im Streitfall bereits abgelaufenen-- Festsetzungsfrist von vier Jahren hätte geändert werden können. Diese Auslegung von § 191 Abs. 3 AO 1977 werde durch die Gesetzesbegründung zum Entwurf der Abgabenordnung gestützt. Danach sollten die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf Haftungsbescheide generell entsprechend für anwendbar erklärt werden. ++/ Von einer Differenzierung zwischen Erlaß, Aufhebung oder Änderung werde indes nicht gesprochen. Vielmehr seien die Argumente für eine entsprechende Differenzierung erst nach Inkrafttreten der Vorschrift entwickelt worden. Auch sei davon auszugehen, daß sie nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprechen würden. /++

Mit der vom Senat hinsichtlich der Klage auf Rücknahme des Haftungsbescheides zugelassenen Revision wendet sich die Klägerin gegen die ihrer Ansicht nach unzutreffende Auslegung von § 191 Abs. 3 AO 1977. Sie trägt vor, der Hinweis des FG auf die Gesetzesbegründung zu § 172 des Entwurfs zur Abgabenordnung gehe fehl, da die Korrekturvorschrift nur Steuerbescheide betreffe. Demgegenüber richte sich die Rücknahme eines Haftungsbescheides nach § 130 Abs. 1 AO 1977. Zu berücksichtigen sei ferner, daß der Erlaß und die Änderung eines Haftungsbescheides im Ermessen der Finanzbehörde liege. ++/ Bei der Auslegung von § 191 Abs.3 AO 1977 sei zu beachten, daß die Steuerfestsetzung in der Regel aufgrund einer Steuererklärung des Steuerpflichtigen erfolge. Der Erlaß eines Haftungsbescheides beruhe dagegen auf einer behördlichen Ermessensentscheidung, in deren Rahmen das FA das Vorliegen der in den Einzelsteuergesetzen oder zivilrechtlichen Vorschriften normierten haftungsrechtlichen Tatbestandsmerkmale zu beweisen habe. /++ Würde die Rechtsmeinung des FG zutreffen, könnte ein Haftungsbescheid nach Ablauf der Festsetzungsfrist selbst dann nicht mehr geändert werden, wenn die Steuerfestsetzung zugunsten des Steuerschuldners geändert worden oder der Haftungsbescheid aufgrund fehlender Ermessenserwägungen grob fehlerhaft sei. ++/ Darüber hinaus verstoße die Inanspruchnahme der Klägerin gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Das FA habe keine Tatsachen ermittelt, die die Geltendmachung eines Haftungsanspruchs dem Grunde und der Höhe nach allein gegenüber der Klägerin rechtfertigen würden. Aufgrund der Rechtswidrigkeit des Haftungsbescheides hätte das FA bei seiner Entscheidung über den Antrag auf dessen Rücknahme Ermessenserwägungen anstellen müssen.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG sowie die Verwaltungsentscheidungen (Ablehnungsbescheid und dazu ergangene Einspruchsentscheidung) aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Haftungsbescheid vom 16. April 1982 in der Fassung des Bescheides vom 26. Juli 1982 zurückzunehmen; hilfsweise die Sache an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Es ist der Ansicht, der in § 191 Abs.3 AO 1977 verwendete Begriff "Erlaß" sei weit auszulegen und erfasse auch die Änderung oder Aufhebung eines Verwaltungsaktes. Da der Gesetzgeber eine Differenzierung zwischen Erlaß, Aufhebung und Änderung bei der Frage der Anwendung der Festsetzungsfrist auf Haftungsbescheide nicht vornehmen wollte, sei von einer planwidrigen Gesetzeslücke auszugehen. Dies ergebe sich auch aus der amtlichen Begründung zu § 172 des Entwurfs zur Abgabenordnung. Der Sinn und Zweck der Festsetzungsfrist, die der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden diene, gebiete eine Gleichbehandlung von Haftungs- und Steuerbescheiden. Ebenso wie bei Steuerbescheiden bildeten auch bei Haftungsbescheiden die aus dem Gedächtnis der Beteiligten schwindenden Tatsachen sowie die nicht unbegrenzt zur Verfügung stehenden Belege und Bücher die Grundlagen für die Inanspruchnahme. Demgegenüber könnten die für die anderen von § 130 AO 1977 erfaßten Steuerverwaltungsakte maßgeblichen Grundlagen aus dem Inhalt der Akten entnommen werden. Selbst bei Annahme einer fortbestehenden Rücknahmemöglichkeit komme im Streitfall eine Rücknahme des Haftungsbescheides nach § 130 Abs.1 AO 1977 nicht in Betracht. Die bei Antragstellung bezüglich der Rücknahme und im anschließenden Einspruchsverfahren geltend gemachten Rügen --insbesondere die Verletzung des Untersuchungs- und Beratungsgrundsatzes-- hätten auch in einem Einspruchsverfahren gegen den Haftungsbescheid geltend gemacht werden können. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei eine Ablehnung der Rücknahme eines Haftungsbescheides nicht zu beanstanden, wenn der Betroffene zur Begründung seines Antrages nur solche Umstände vorgetragen habe, die er bei fristgerechter Einlegung des statthaften Rechtsmittels im Rechtsbehelfsverfahren vorzubringen in der Lage gewesen wäre. Infolgedessen sei das Argument, der ursprüngliche Einspruch sei noch nicht beschieden worden, nicht durchgreifend. Ferner begründe die Herabsetzung der Umsatzsteuer, die im geänderten Haftungsbescheid vom 26. Juli 1982 noch nicht berücksichtigt worden sei, keinen Rücknahmegrund, da ein Haftungsbescheid nur bis zum Abschluß des Einspruchsverfahrens aufgehoben oder geändert werden müsse, wenn die Erstschuld erloschen sei oder sich geändert habe. /++

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision ist begründet. Sie führt hinsichtlich der Klage auf Rücknahme des Haftungsbescheides zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

Das FG hat die Klage auf Rücknahme des Haftungsbescheides zu Unrecht mit der Begründung abgewiesen, der Haftungsbescheid hätte nur innerhalb der im Streitfall bereits abgelaufenen vierjährigen Festsetzungsfrist (§ 191 Abs. 3 Satz 1 und 2 i.V.m. § 169 Abs. 1 AO 1977) geändert werden können. Entgegen der Rechtsauffassung der Vorinstanz können Haftungsbescheide auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist zugunsten des Haftungsschuldners geändert werden.

1. Gemäß § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 sind die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf den Erlaß von Haftungsbescheiden entsprechend anzuwenden. Da der Wille des Gesetzgebers im allgemeinen im Wortlaut einer Bestimmung zum Ausdruck kommt, ist für die Deutung einer Vorschrift in erster Linie deren eigentlicher Wortlaut maßgebend. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist unter dem "Erlaß" eines Bescheides in der Regel das (erstmalige) Ergehen einer behördlichen Entscheidung in der Form der Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes zu verstehen. Nicht erfaßt wird vom engeren Wortsinn des Begriffs "Erlaß" die Korrektur einer behördlichen Entscheidung durch deren Änderung oder Aufhebung. In diese Richtung deutet auch die vom Gesetzgeber selbst vorgenommene Abgrenzung des Erlasses eines Steuerbescheides von dessen Änderung oder Aufhebung in § 172 Abs. 2, § 174 Abs. 4 Satz 1 und 2 sowie in § 175 Abs. 1 Satz 1 AO 1977. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber im Gegensatz zu der wortlautgemäßen Differenzierung zwischen der Steuerfestsetzung und ihrer Aufhebung, Änderung oder Berichtigung in § 169 Abs. 1 AO 1977 eine solche Unterscheidung in § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 nicht vorgenommen. Dieser Befund liefert ein weiteres Indiz für die Annahme, daß der Begriff "Erlaß" nach seinem eigentlichen Wortsinn und dem Sprachgebrauch der AO 1977 weder die Änderung noch die Aufhebung eines Verwaltungsaktes erfaßt. Dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Verweisungsvorschrift des § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 läßt sich somit eine zeitliche Einschränkung der für Haftungsbescheide vorgesehenen Änderungsmöglichkeiten durch die in § 169 Abs. 1 AO 1977 festgelegten Verjährungsfristen nicht entnehmen. Dieses Ergebnis wird von der überwiegenden Meinung im Schrifttum geteilt. Danach können Haftungsbescheide auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist aufgehoben oder geändert werden (vgl. Kühn/Hofmann, Abgabenordnung, 17. Aufl., § 191 Anm. 3 d; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 16. Aufl., § 191 AO 1977 Tz. 25; Dumke in Schwarz, Kommentar zur Abgabenordnung, § 191 Rdnr. 30; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zum Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 191 AO 1977 Rdnr. 97, und App, Aufhebung und Änderung von Haftungsbescheiden nach Eintritt der Festsetzungsverjährung, Deutsche Steuerzeitung --DStZ-- 1985, S. 124; a.A. Halaczinsky, Die Haftung im Steuerrecht, 2. Aufl., Rdnr. 533 und ders. in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 191 Rdnr. 20).

2. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz ergeben sich auch aus der Gesetzesbegründung zu § 172 des Entwurfs der Abgabenordnung (vgl. BTDrucks VI/1982, S. 160) keine ausreichenden Anhaltspunkte, die für die Richtigkeit des vom FG zu § 191 Abs. 3 AO 1977 gefundenen Auslegungsergebnisses sprächen. Die zur Begründung der Verweisungsvorschrift gemachten Ausführungen geben nämlich keine erläuternden Hinweise, sondern erschöpfen sich in der Aussage, daß § 172 Abs. 2 des Entwurfs der Abgabenordnung die Vorschriften über die Festsetzungsfrist auf den Erlaß von Haftungsbescheiden für entsprechend anwendbar erklärt. Der Umstand, daß der Gesetzgeber eine nähere Spezifizierung des Begriffes "Erlaß" nicht vorgenommen hat, liefert keinen Beweis für die Annahme der Vorinstanz, daß die Vorschriften über die Festsetzungsfrist --einschließlich der Regelungen über die Aufhebung und Änderung-- auf Haftungsbescheide generell Anwendung finden sollten. Vielmehr ließe gerade das Absehen von einer Differenzierung eine gegenteilige Deutung des gesetzgeberischen Willens zu.

3. Nach Auffassung des Senats würde eine Ausdehnung des Begriffes "Erlaß" auch auf die Fälle der Aufhebung oder Änderung eines Haftungsbescheides die Grenze überschreiten, die der eigentliche Wortsinn einer Auslegung zieht. Eine Auslegung von § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 gegen seinen insoweit eindeutigen Wortlaut kommt nicht in Betracht. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist eine solche Rechtsfortbildung nur dann möglich, wenn die wortgetreue Auslegung zu einem offenbar unrichtigen bzw. zu einem jeder wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Ergebnis führen würde, das dem Sinn und Zweck der Vorschrift und dem Willen des Gesetzgebers zuwiderliefe (vgl. BFH-Urteil vom 1. August 1974 IV R 120/70, BFHE 113, 357, BStBl II 1975, 12, m.w.N., und Barth, Richterliche Rechtsfortbildung im Steuerrecht, S. 139 f.). Ein solches Ergebnis läge bei einer am eigentlichen Wortlaut ausgerichteten Interpretation von § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 jedoch nicht vor.

a) Bei der Begutachtung der Auswirkungen einer wortgetreuen Auslegung von § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 ist zu berücksichtigen, daß der Gesetzgeber Haftungsbescheide Steuerbescheiden nicht gleichgestellt hat. Im Gegensatz zur früheren Regelung in § 97 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung finden für die Aufhebung und Änderung von Haftungsbescheiden nicht die für Steuerbescheide geltenden Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO 1977, sondern die allgemeinen Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten (§ 129 bis § 132 AO 1977) Anwendung (vgl. hierzu Senatsurteil vom 22. Januar 1985 VII R 112/81, BFHE 143, 203, BStBl II 1985, 562, m.w.N.). Die gegenüber Steuerbescheiden teilweise erweiterten Korrekturmöglichkeiten, die auch den Widerruf eines rechtmäßigen Haftungsbescheides zulassen, tragen dem Umstand Rechnung, daß der Behörde beim Erlaß eines Haftungsbescheides ein Auswahl- und Entschließungsermessen zusteht (vgl. Dumke in Schwarz, a.a.O., § 191 Rdnr. 30, und Halaczinsky in Koch/Scholtz, § 191 Rdnr. 11). Demgegenüber erfassen die Korrekturvorschriften der §§ 172 ff. AO 1977 Verwaltungsakte, zu deren Erlaß die Behörde verpflichtet ist. Die unterschiedliche Ausgestaltung der Verfahren, die einerseits zur Festsetzung einer Steuer gegenüber dem Steuerpflichtigen und andererseits zum Erlaß eines Haftungsbescheides gegenüber einem Haftungsschuldner führen, und die unterschiedlichen Voraussetzungen, unter denen Steuer- und Haftungsbescheide geändert oder aufgehoben werden können, lassen eine Differenzierung in der Anwendung der Ausschlußfrist des § 169 Abs. 1 AO 1977 durchaus vertretbar und sinnvoll erscheinen.

b) Zwar haben Zahlungen, die nach der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung auf die Steuerschuld geleistet werden, keinen Einfluß auf die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides (BFH-Urteil vom 17. Oktober 1980 VI R 136/77, BFHE 131, 449, BStBl II 1981, 138), doch kann durch eine nach diesem Zeitpunkt erfolgte Minderung der Steuerschuld ein Widerruf des Haftungsbescheides nach § 131 Abs. 1 AO 1977 veranlaßt sein. Erfolgt die Tilgung der Erstschuld erst nach Ablauf der in § 169 Abs. 1 AO 1977 normierten Festsetzungsfrist, ist nach dem Haftungssystem der AO 1977 kein Grund ersichtlich, der den Ausschluß der Möglichkeit einer Korrektur des Haftungsbescheides erzwingen würde. Aufgrund der Interessenlage, die sich für den Haftungsschuldner aus der subsidiären Inanspruchnahme für die Steuerschuld eines Dritten ergibt, erscheint es vielmehr geboten, dem Haftungsschuldner auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist die Möglichkeit zu eröffnen, gegenüber der Finanzbehörde geltend zu machen, der Erstschuldner habe seine Steuerschuld beglichen oder sei wieder zu Geld gekommen, so daß sich die Steuerschuld nunmehr bei ihm --dem Erstschuldner-- realisieren lasse (vgl. hierzu App, a.a.O., S. 125). Entgegen einer im Schrifttum geäußerten Ansicht (vgl. Mößbauer, Die Rechtswirksamkeit von Steuerhaftungsbescheiden, DStZ 1984, 371, 376) ließen sich durchaus Gründe finden --z.B. die Begleichung der Erstschuld durch den Steuerschuldner--, die die Finanzbehörde auch nach Ablauf der Festsetzungsfrist dazu veranlassen könnten, auf die Geltendmachung des festgesetzten Haftungsanspruchs zu verzichten und den Haftungsbescheid ganz oder teilweise zu widerrufen.

c) Auch der Sinn und Zweck der in § 169 AO 1977 festgelegten Verjährungsfristen zwingt nicht zu einer Interpretation gegen den Wortlaut von § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977. Die Festsetzungsverjährung soll dem Rechtsfrieden dienen unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Erweisbarkeit von Ansprüchen oder auch ihre Abweisung um so schwieriger wird, je älter sie werden. Nach einer bestimmten Zeit, eben der normalen Festsetzungsfrist, soll daher der Steuerpflichtige darauf vertrauen dürfen, daß er nicht mehr in Anspruch genommen wird (Senatsurteil vom 31. Januar 1989 VII R 77/86, BFHE 156, 30, BStBl II 1989, 442). Diesem Vertrauensschutzgedanken wird bei Haftungsbescheiden dadurch Rechnung getragen, daß der Erlaß eines Haftungsbescheides nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr möglich ist. Dies gilt auch für den Fall des Neuerlasses eines Haftungsbescheides nach dessen Rücknahme gemäß § 130 Abs. 1 AO 1977, der zudem nur unter den engen Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 AO 1977 erfolgen kann (vgl. Hein, Zum Neuerlaß eines Haftungsbescheids nach "ersatzloser" Aufhebung eines inhaltsgleichen vorangegangenen Bescheids, Deutsches Steuerrecht 1987, S. 175). Eine mit dem Erlaß eines Steuer- oder Haftungsbescheides vergleichbare Interessenlage stellt sich bei der Aufhebung eines Haftungsbescheides durch Rücknahme nach § 130 AO 1977 oder durch Widerruf nach § 131 AO 1977 jedoch nicht. Denn die damit verbundene Entlassung aus der Haftung erfolgt zugunsten des Haftungsschuldners. Da in diesen Fällen mit Rechtsbehelfen gegen die Haftungsentlassung wohl kaum gerechnet werden kann, wird auch der Befriedungszweck der in § 169 AO 1977 normierten Verjährungsfristen nicht beeinträchtigt (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., § 191 AO 1977 Tz. 25). Eine wortgetreue Interpretation von § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 würde somit nicht zu offensichtlich unrichtigen oder der wirtschaftlichen Vernunft widersprechenden Ergebnissen führen, so daß im Streitfall die Voraussetzungen nicht vorliegen, unter denen nach der Rechtsprechung des BFH eine Auslegung gegen den eigentlichen Wortlaut einer Vorschrift in Betracht gezogen werden kann.

Da die Vorentscheidung hinsichtlich der Anwendung und Auslegung von § 191 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 mit der Rechtsauffassung des erkennenden Senats nicht in Einklang steht, war sie aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif, denn das FG hat die Abweisung der Klage auf Rücknahme des Haftungsbescheides lediglich mit dem Ablauf der Festsetzungsfrist begründet und sich daher nicht veranlaßt gesehen, in eine Prüfung der Rücknahmevoraussetzungen des § 130 AO 1977 einzutreten. Die Sache war daher an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO), um diesem Gelegenheit zu geben, die nunmehr erforderliche Überprüfung und gegebenenfalls auch weitere Tatsachenfeststellungen nachzuholen.

++/ II. Im Hinblick auf die erneute Verhandlung und Entscheidung durch das FG gibt der Senat zu bedenken, daß der Umstand, daß die Herabsetzung der Umsatzsteuer für 1980 und 1981 erst nach Erlaß des geänderten Haftungsbescheides vom 26. Juli 1982 erfolgt ist, einer nachträglichen Rücknahme des Haftungsbescheides nicht von vornherein entgegensteht. Entgegen der Auffassung des FA kann der Rechtsprechung des BFH nicht entnommen werden, daß ein Haftungsbescheid "nur" bis zum Abschluß des Einspruchsverfahrens aufgehoben oder geändert werden müsse, wenn die Erstschuld nach Erlaß des Haftungsbescheides und vor Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung erloschen sei oder sich geändert habe. Wie der BFH mehrfach entschieden hat (vgl. Urteile vom 6. Dezember 1979 V R 125/76, BFHE 129, 126, BStBl II 1980, 103, und in BFHE 131, 449, BStBl II 1981, 138), bildet der Erlaß der Einspruchsentscheidung nur insoweit eine Zäsur, als Zahlungen auf die Erstschuld oder Zahlungen anderer Haftungsschuldner nach Bekanntgabe der letzten Verwaltungsentscheidung keinen Einfluß mehr auf die rechtmäßig festgesetzte Haftungssumme haben und daher im Klageverfahren gegen den Haftungsbescheid nicht erfolgreich geltend gemacht werden können. Im Streitfall handelt es sich dagegen nicht um ein Erlöschen der Steuerschuld durch Zahlungen nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung, sondern um eine nachträgliche Änderung in der Festsetzung der Erstschuld, die jedenfalls bis zum Ende der gerichtlichen Tatsacheninstanz uneingeschränkt zu berücksichtigen ist, da sich die festgesetzte Haftungsschuld rückwirkend von Beginn an als unrichtig erweist. Entfallen die dem Haftungsbescheid zugrundeliegenden Steueransprüche oder erlöschen sie durch Zahlungen des Steuerschuldners, kann nach der Rechtsprechung des BFH in beiden Fällen eine Rücknahme des Haftungsbescheides gegenüber dem Haftungsschuldner in Betracht kommen (BFH-Urteil vom 18. Mai 1983 I R 193/79, BFHE 138, 335, BStBl II 1983, 544).

Auch die Tatsache, daß die Herabsetzung der Erstschuld bereits im Anfechtungsprozeß gegen den Haftungsbescheid geltend gemacht werden konnte und von der Klägerin auch geltend gemacht worden ist, muß im Streitfall nicht dazu führen, daß die nachträgliche Änderung der Umsatzsteuerfestsetzung im Prozeß um die Rücknahme des Haftungsbescheides von vornherein nicht berücksichtigt werden dürfte. Zur Zurückverweisung sah sich der Senat im Streitfall deshalb veranlaßt, weil Gegenstand des erstinstanzlichen Erkenntnisses der Ausschluß jeglicher Rücknahmemöglichkeit infolge Fristablaufs bildete und das FG aufgrund der rechtsfehlerhaften Anwendung von § 191 Abs.3 AO 1977 andere Überlegungen nicht angestellt hat.

Das FG wird nunmehr über den Rücknahmetatbestand des § 130 Abs.1 AO 1977 insgesamt erneut zu entscheiden haben. Dazu gehört auch die Prüfung, ob die Möglichkeit zur Geltendmachung der späteren Herabsetzung der Umsatzsteuerschuld im Anfechtungsprozeß gegen den Haftungsbescheid die (Teil)-Rücknahme des Haftungsbescheides nach § 130 AO 1977 auch dann ausschließt, wenn das FG --wie im Streitfall-- im Anfechtungsrechtsstreit auf diesen Gesichtspunkt nicht eingegangen ist, weil es die Klage gegen den Haftungsbescheid bereits aus formellen Gründen abgewiesen hat. /++

 

Fundstellen

Haufe-Index 66264

BFH/NV 1998, 371

BFH/NV 1998, 371-373 (Leitsatz und Gründe)

BStBl II 1998, 131

BFHE 184, 198

BFHE 1998, 198

BB 1998, 92 (Leitsatz)

DStRE 1998, 66

DStRE 1998, 66-68 (Leitsatz und Gründe)

DStZ 1998, 302 (Leitsatz und Gründe)

HFR 1998, 165

StE 1998, 21

StRK, R.113 (Leitsatz und Gründe)

Information StW 1998, 123-124 (Leitsatz und Gründe)

LEXinform-Nr. 0144811

Inf 1998, 123

SteuerBriefe 1998, 10

SteuerBriefe 1998, 627

GStB 1998, Beilage zu Nr 3 (Leitsatz)

GmbH-Rdsch 1998, 153-155 (Leitsatz und Gründe)

NWB 1998, 2783

NWB, Fach 2 7023-7024 (35/1998) (Gründe)

GmbH-StB 1998, 64-65 (Kurzwiedergabe)

NVwZ-RR 1998, 482

NVwZ-RR 1998, 482-483 (Leitsatz und Gründe)

ZfZ 1998, 131-132 (Leitsatz und Gründe)

GmbHR 1998, 153

NWB-DokSt 1998, 1368

stak 1998

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