Leitsatz (amtlich)

Ein Einkommensteuerbescheid ist nach § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 zu ändern, wenn erst nach Eintritt der Bestandskraft sowohl die Zustimmung zur Anwendung des Realsplitting erteilt als auch der Antrag nach § 10 Abs.1 Nr.1 Satz 1 EStG gestellt wurde.

 

Orientierungssatz

Das Gesetz enthält keine Definition der nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 erforderlichen Änderungsvoraussetzungen. Aus dem Wortsinn und Zweck der Korrekturvorschrift ergibt sich folgendes: Das Ereignis muß nachträglich --d.h. für den Fall einer beantragten Aufhebung oder Änderung nach Erlaß des Steuerbescheids-- eingetreten sein; es muß den Sachverhalt verändern und dabei steuerlich derart in die Vergangenheit zurückwirken, daß ein Bedürfnis besteht, eine schon endgültig (bestandskräftig) getroffene Regelung i.S. der §§ 118, 157 AO 1977 an die Sachverhaltsänderung anzupassen (vgl. BFH-Rechtsprechung). Ob ein Ereignis ausnahmsweise in die Vergangenheit zurückwirken darf, richtet sich nach den Normen des materiellen Steuerrechts (Literatur).

 

Normenkette

AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EStG § 10 Abs. 1 Nr. 1 S. 1; AO 1977 § 175 Abs. 1 Nr. 2

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind als Erben Rechtsnachfolger des am 26.September 1982 verstorbenen Rechtsanwalts und Steuerberaters A.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) hatte den Erblasser aufgrund seiner Steuererklärung vom 29.Dezember 1980 durch Bescheid vom 16.Februar 1981 für das Streitjahr 1979 zur Einkommensteuer veranlagt. Der Bescheid war bestandskräftig geworden.

Erstmals mit Schreiben vom 25.Mai 1981 beantragte der Erblasser unter Berufung auf § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 der Abgabenordnung (AO 1977) beim FA, für den Veranlagungszeitraum 1979 gemäß § 10 Abs.1 Nr.1 des Einkommensteuergesetzes 1979 (EStG) Unterhaltsleistungen an seine geschiedene Ehefrau in Höhe von 9 000 DM zu berücksichtigen. Zur Begründung legte er das von ihm selbst und seiner geschiedenen Ehefrau am 20.Mai 1981 unterzeichnete Formular "Anlage U" vor.

Das FA lehnte das Änderungsbegehren unter Hinweis auf die Unanfechtbarkeit des Einkommensteuerbescheides 1979 mit Bescheid vom 13.Juli 1981 ab.

Einspruch und Verpflichtungsklage blieben erfolglos.

Mit der Revision rügen die Kläger Verletzung materiellen Rechts. Sie berufen sich weiterhin auf § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977.

Die Kläger beantragen sinngemäß, das FA unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und der entgegenstehenden Verwaltungsentscheidungen zu verpflichten, den Einkommensteuerbescheid 1979 vom 16.Februar 1981 zu ändern und die Einkommensteuerschuld unter Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen in Höhe von 9 000 DM als Sonderausgaben neu festzusetzen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht --FG-- (§ 126 Abs.3 Nr.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

1. Zu Unrecht haben FA und FG die Voraussetzungen für eine Änderung des Einkommensteuerbescheides vom 16.Februar 1981 allein deshalb verneint, weil der Rechtsvorgänger der Kläger den Änderungsantrag erst nach Eintritt der Bestandskraft gestellt hat. Dieser Umstand steht im Streitfall einer Änderung nach § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 nicht entgegen.

Nach dieser Vorschrift ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Ein solches rückwirkendes Ereignis kann auch ein Antrag nach § 10 Abs.1 Nr.1 Satz 1 EStG sein. Er ist es jedenfalls dann, wenn er deshalb nach Eintritt der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides gestellt wurde, weil auch die erforderliche Zustimmung des Leistungsempfängers erst nach diesem Zeitpunkt erteilt wurde.

a) Das Gesetz enthält keine Definition der nach § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 erforderlichen Änderungsvoraussetzungen. Aus dem Wortsinn und dem Zweck der Korrekturvorschrift ergibt sich folgendes: Das Ereignis muß nachträglich --d.h. für den Fall einer beantragten Aufhebung oder Änderung nach Erlaß des Steuerbescheids (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26.Oktober 1988 II R 55/86, BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75)-- eingetreten sein; es muß den Sachverhalt verändern (BFHE 154, 493, BStBl II 1989, 75) und dabei steuerrechtlich derart in die Vergangenheit zurückwirken, daß ein Bedürfnis besteht, eine schon endgültig (bestandskräftig) getroffene Regelung i.S. der §§ 118, 157 AO 1977 an die Sachverhaltsänderung anzupassen (BFH-Urteil vom 27.September 1988 VIII R 432/83, BFHE 155, 83, 89, BStBl II 1989, 225, 228, m.w.N.).

Ob ein Ereignis ausnahmsweise --entgegen dem grundsätzlich im Steuerrecht geltenden Rückwirkungsverbot-- in die Vergangenheit zurückwirken darf, richtet sich nach den Normen des materiellen Steuerrechts (vgl. amtliche Begründung zu § 175 AO 1977 --im Entwurf § 156-- BTDrucks VI/1982, S.155; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13.Aufl., § 175 AO 1977 Tz.10).

b) Der vom Rechtsvorgänger der Kläger gestellte Antrag nach § 10 Abs.1 Nr.1 Satz 1 EStG erfüllt diese Voraussetzungen.

Gemäß dieser Vorschrift gehören zu den Sonderausgaben Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder dauernd getrennt lebenden unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Ehegatten, wenn der Geber dies mit Zustimmung des Empfängers beantragt.

aa) Ein solcher Antrag ist nicht nur Verfahrenshandlung oder rein formelle Voraussetzung für die Berücksichtigung eines steuerlich relevanten Sachverhalts (so BFH-Urteil vom 21.April 1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863 für den Antrag nach § 2 Abs.1 Satz 1 des Auslandsinvestitionsgesetzes). Er ist vielmehr --in sachlich untrennbarem Zusammenhang mit der Zustimmung des Unterhaltsempfängers (unten cc)-- selbst Merkmal des gesetzlichen Tatbestands. In dieser Eigenschaft wirkt er unmittelbar rechtsgestaltend und nachträglich auf die Steuerschuld ein: rechtsgestaltend, weil er die einkommensteuerrechtliche Qualifikation der Unterhaltsleistungen an den geschiedenen oder getrennt lebenden Ehegatten verändert; nachträglich, weil er der objektiven Tatbestandsverwirklichung --der Leistungsbewirkung-- zeitlich notwendigerweise nachfolgt.

Ohne Antragstellung sind diese Unterhaltsleistungen nach § 12 Nr.2 EStG ertragsteuerrechtlich grundsätzlich, d.h. vom Ausnahmefall des § 33a EStG abgesehen, unbeachtlich. Durch die Antragstellung werden sie zu Sonderausgaben, die vom Gesamtbetrag der Einkünfte (bis zu der in § 10 Abs.1 Nr.1 Satz 4 EStG bestimmten Höchstgrenze) abgezogen werden müssen. Der Antrag ändert also den Rechtscharakter des Aufwands.

Die dem Steuerschuldner somit übertragene Zuordnungsentscheidung bezieht sich jeweils auf einen in objektiver Hinsicht abgeschlossenen Sachverhalt. Sie wirkt auf den schon entstandenen Steueranspruch zurück (§ 38 AO 1977 i.V.m. § 36 Abs.1 EStG; vgl. Fischer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 9.Aufl. § 38 AO 1977 Tz.5 und Tz.27; Tipke/Kruse, a.a.O., § 38 AO 1977 Tz.2).

bb) Die Rückwirkung des rechtsgestaltenden Antrags nach § 10 Abs.1 Nr.1 Satz 1 EStG in die Vergangenheit ergibt sich aus der Erwägung, daß die in dieser Bestimmung geforderte Zustimmung des Leistungsempfängers in typischen Fällen wie dem vorliegenden erst nachträglich erteilt wird.

Für die Einführung des Zustimmungserfordernisses durch das Steueränderungsgesetz 1979 vom 30.November 1978 (BGBl I 1978, 1849) war bestimmend, daß der Gesetzgeber im Rahmen der zu regelnden Leistungsbeziehungen den Unterhaltsberechtigten als den regelmäßig sozial schwächeren Teil ansah. Er sollte die Möglichkeit erhalten, sich vor steuerlichen und außersteuerlichen Nachteilen zu schützen, und in diesem Zusammenhang seine Zustimmung vor allem davon abhängig machen dürfen, daß der Unterhaltsverpflichtete etwaige durch die Unterhaltsleistung beim Empfänger anfallende Steuern übernehme (vgl. amtliche Begründung, BTDrucks 9/1772, S.3 zu Buchst.C III 2 - und S.5 f.; Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19.Aufl., § 10 EStG Tz.27 l; Borggreve, Die Information über Steuer und Wirtschaft --Inf-- 1982, 638, und Uelner, Deutsche Steuer-Zeitung/Ausgabe A --DStZ/A-- 1979, 12). Die Ausübung dieser Befugnis durch den Leistungsempfänger setzt Überlegungen voraus, die typischerweise erst nach Ablauf des Veranlagungszeitraums angestellt werden können, weil die hierzu erforderlichen Daten erst danach zugänglich und in ihren Auswirkungen abzusehen sind. Die erforderliche Einigung ist in der Regel schwierig und langwierig, unter Umständen nur im Klagewege erzwingbar (vgl. Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., Tz.27 p mit weiteren Nachweisen, sowie den vom BFH im Urteil vom 25.Oktober 1988 IX R 53/84, BFHE 155, 99, BStBl II 1989, 192 zu beurteilenden Sachverhalt). Es stand für den Gesetzgeber also von Anfang an fest, daß die Zustimmung, wenn überhaupt, erst geraume Zeit nach Entstehung der Steuerschuld (Ablauf des Veranlagungszeitraums) zu erhalten sein werde. Durch die Anknüpfung an das Zustimmungserfordernis mit der Folge der Umqualifizierung der Unterhaltsleistungen zu Sonderausgaben wurde insoweit dem Steuerpflichtigen im Zusammenwirken mit seinem geschiedenen oder getrennt lebenden Ehegatten die Möglichkeit nachträglicher Umgestaltung des steuerlich relevanten Sachverhalts eingeräumt.

cc) Weil die Gestaltungswirkung an den "mit Zustimmung des Empfängers" gestellten Antrag des Gebers geknüpft ist, dürfen Antrag und Zustimmung nicht voneinander losgelöst beurteilt werden; d.h. man kann nicht die Zustimmung als Ereignis i.S. des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 ansehen, den Antrag aber nicht. Rechtlich relevant nach § 10 Abs.1 Nr.1 EStG ist allein der durch die Zustimmungserklärung des Empfängers qualifizierte Antrag des Steuerschuldners. Dieser Antrag ist als einheitliches Sachverhaltselement das Ereignis, das auf seine Tatbestandsmäßigkeit i.S. des § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 zu prüfen ist.

dd) Der durch die Zustimmungserklärung seiner geschiedenen Ehefrau qualifizierte Antrag des Rechtsvorgängers der Kläger vom 20.Mai 1981 ist auch in tatsächlicher Hinsicht in der zuvor umschriebenen Weise vergangenheitsbezogen, d.h. auf nachträgliche einkommensteuerliche Umqualifizierung der Unterhaltsleistungen gerichtet: Erstrebt wird die nachträgliche Berücksichtigung der bis dahin für die Festsetzung der Einkommensteuerschuld 1979 unbeachtlichen Unterhaltsleistungen.

ee) Die Vorschrift des § 10 Abs.1 Nr.1 EStG gestattet die begehrte Rückwirkung. Der Antrag ist nicht verspätet gestellt worden. Eine Frist hierfür sieht das Gesetz nicht vor. Sie ergibt sich auch nicht aus allgemeinen Grundsätzen. Es kann dahingestellt bleiben, ob nichtfristgebundene Anträge generell vor Eintritt der Bestandskraft eines Steuerbescheids gestellt werden müssen (und ob Entsprechendes für die Ausübung nichtfristgebundener Wahlrechte gilt; vgl. z.B. Herrmann/Heuer/Raupach, a.a.O., § 2 EStG Tz.102 und § 10 EStG Tz.27i). Selbst wenn es einen solchen Grundsatz gäbe, müßte für den qualifizierten Antrag nach § 10 Abs.1 Nr.1 EStG etwas anderes gelten. Das ergibt sich zwar --im Gegensatz etwa zu § 19 Abs.2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG)-- nicht unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut, wohl aber aus der Wirkungsweise und dem Sinn der Regelung: Wie zuvor schon ausgeführt, löst nur der durch Zustimmung qualifizierte Antrag die in § 10 Abs.1 Nr.1 EStG vorgesehene Gestaltungswirkung aus. Insofern ist die Tatbestandsverwirklichung an besonders schwierige, umständliche und zeitraubende Voraussetzungen geknüpft. Der Unterhaltsleistende ist notfalls darauf angewiesen, die Zustimmung im Prozeßwege zu erstreiten. Diese Schwierigkeiten hat der Gesetzgeber gesehen und im Interesse des Leistungsempfängers bewußt in Kauf genommen (BTDrucks 9/1772, S.3 und S.5). Es würde eine unnötige und unzumutbare weitere Schwächung der Rechtsposition des Leistenden bedeuten, wenn man --worauf die Meinung des FG hinausliefe-- von ihm zur Wahrung der Abzugsmöglichkeit verlangen wollte, einen nicht rücknehmbaren (§ 10 Abs.1 Nr.1 Satz 2 EStG) Antrag beim FA zu stellen, ohne daß die Zustimmung des Empfängers vorläge.

Nach Auffassung des Senats reicht es nicht aus, den Steuerpflichtigen zur Wahrung seiner Rechte darauf zu verweisen, eine --teilweise-- vorläufige Steuerfestsetzung (§ 165 AO 1977) zu beantragen. Es erweist sich als die einzig angemessene Lösung des Problems, dem Steuerschuldner zur Wahrung seines ihm in § 10 Abs.1 Nr.1 EStG zugebilligten materiellen Anspruchs auf Sonderausgabenabzug verfahrensrechtlich einen Korrekturanspruch für den Fall zu sichern, daß er erst nach Bestandskraft der Veranlagung durch einen qualifizierten Antrag den Tatbestand vollständig verwirklichen kann. Den systemgerechten Weg hierzu eröffnet § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 (ebenso Diebold, Deutsches Steuerrecht 1979, 344, 346 und auch Woerner/Grube, Die Aufhebung und Änderung von Steuerverwaltungsakten, 8.Aufl., 1988, S.131).

2. Das angefochtene Urteil ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen und war daher aufzuheben.

Ob sich ein Änderungsanspruch der Kläger außerdem aus § 173 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 ergibt, konnte ebenso unerörtert bleiben wie die Vorfrage hierzu, ob diese Korrekturvorschrift und § 175 Abs.1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 nebeneinander anwendbar sind oder sich gegenseitig ausschließen (vgl. BFH in BFHE 153, 485, BStBl II 1988, 863; zur Frage der Konkurrenz s. Grube, Jahrbuch der Fachanwälte für Steuerrecht 1983/1984, 37).

3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Der Senat kann nicht beurteilen, ob sich der Antrag vom 20.Mai 1981 tatsächlich sachverhaltsändernd hat auswirken können, weil nicht feststeht, ob die objektiven Voraussetzungen des § 10 Abs.1 Nr.1 EStG erfüllt sind. Das FG hat hierzu --von seinem Standpunkt aus zu Recht-- keine Feststellungen getroffen (§ 118 Abs.2 FGO) und wird dies nunmehr im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 62866

BFH/NV 1989, 45

BStBl II 1989, 957

BFHE 157, 484

BFHE 1990, 484

BB 1989, 2243-2245 (LT)

DB 1989, 2259-2260 (LT)

DStR 1989, 743 (K)

HFR 1990, 9 (LT)

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