Entscheidungsstichwort (Thema)

(Erkennbarkeit des Beklagten vor Ablauf der Klagefrist - Sinn und Zweck des § 65 Abs. 1 FGO - Zurückverweisung an Finanzgericht bei Verfahrensfehler)

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Klageschrift kann den Mindestanforderungen des § 65 Abs.1 FGO auch dann entsprechen, wenn in ihr zwar die Person des Beklagten nicht ausdrücklich bezeichnet ist, diese sich jedoch aufgrund anderer Angaben in der Klageschrift (hier: Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsaktes und der Einspruchsentscheidung) alsbald leicht und eindeutig bestimmen läßt.

 

Orientierungssatz

1. Der Sinn und Zweck der in § 65 Abs. 1 FGO bestimmten Bezeichnungspflichten besteht darin, das Prozeßverhältnis eindeutig zu fixieren. Es muß mit der Klageschrift klargestellt sein, wer gegen wen aus welchen Grund Rechtsschutz begehrt, denn eine nachträgliche Auswechslung des Beklagten ist bei fristgebundenen Klagen unzulässig (vgl. Literatur). Ausführungen zur Auslegung einer beim FG eingereichten Klageschrift sowie zur Ergänzung der Klageschrift nach § 65 Abs. 2 FGO.

2. Der BFH als Revisionsgericht auf die Prüfung des Verfahrensfehlers beschränkt ist, wenn ein solcher geltend gemacht wird und durchgreift. In diesem Fall muß die Vorentscheidung aufgehoben und ohne Entscheidung in der Sache an das FG zurückverwiesen werden (vgl. BFH-Urteil vom 17.10.1990 I R 118/88).

 

Normenkette

FGO § 65 Abs. 1-2, § 118 Abs. 3, § 126 Abs. 3 Nr. 2; BGB § 133

 

Tatbestand

I. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) nahm den Kläger und Revisionskläger (Kläger) im Anschluß an eine Lohnsteueraußenprüfung durch Lohnsteuerhaftungs- und als Nachforderungsbescheid bezeichneten Pauschalierungsbescheid in Anspruch.

Am letzten Tag der Klagefrist (4.November 1985) reichte der Prozeßbevollmächtigte des Klägers eine Klageschrift beim Finanzgericht (FG) ein, die eingangs lautet: "In der Lohnsteuersache 1982-1984 des B e.V. lege ich hiermit gegen den Haftungs- und Nachforderungsbescheid vom 1.Oktober 1985 form- und fristgerecht Klage ein". Das beklagte FA war nicht ausdrücklich benannt worden.

Nachdem der Vorsitzende des FG letzteres bemerkt hatte, stellte er durch einen Anruf beim Prozeßbevollmächtigten des Klägers fest, daß sich die Klage gegen das FA F-W-Straße richtete (Aktenvermerk vom 7.November 1985 und Schriftsatz des Bevollmächtigten vom 8.November 1985).

Das FG wies die Klage als unzulässig ab. Zur Begründung führte es aus: Die Klageschrift erfülle nicht die Mindestvoraussetzungen des § 65 der Finanzgerichtsordnung (FGO), weil sie keinen Hinweis auf die Person des Beklagten enthalte. Dieser Mangel sei auch nicht dadurch geheilt worden, daß der Vorsitzende nach Ablauf der Klagefrist vom Klägervertreter telefonisch erfahren habe, welches FA verklagt werden sollte. Denn § 65 Abs.2 FGO sei in den Fällen der Verletzung von Muß-Anforderungen i.S. des § 65 Abs.1 FGO nicht anwendbar. Der Wortlaut des § 65 FGO sei allerdings so verschwommen, daß in der Literatur (Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 65 FGO Anm.43; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 65 FGO Anm.7) wie auch vom Bundesverwaltungsgericht --BVerwG-- (Beschluß vom 5.Mai 1982 7 B 201/81, Deutsches Verwaltungsblatt --DVBl-- 1982, 331) eine Klageergänzung für möglich gehalten werde. Dies widerspreche jedoch der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH-- (Urteile vom 26.Februar 1980 VII R 60/78, BFHE 130, 12, BStBl II 1980, 331, und vom 28.Mai 1986 I R 75/83, BFHE 146, 573, BStBl II 1986, 753). Die Unterscheidung in § 65 FGO zwischen Soll- und Muß-Anforderungen ergäbe keinen Sinn, wenn beide Anforderungen gleichzubehandeln wären. Im übrigen sei der Nachforderungsbescheid rechtswidrig, weil sich der Kläger nicht mit der pauschalen Nachforderung der Lohnsteuer einverstanden erklärt habe.

Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision. Das FG habe die Klage zu Unrecht als unzulässig angesehen. Die Klageschrift sei der Auslegung zugänglich. Aus der in der Klageschrift angegebenen Anschrift des klagenden Vereins in der Mitte einer Großstadt habe das FG auf das zuständige FA schließen können. Im übrigen sei eine Ergänzung der Klageschrift gemäß § 65 Abs.2 FGO zulässig gewesen, denn entgegen der Rechtsauffassung des FG finde § 65 Abs.2 FGO auch bei Muß-Voraussetzungen Anwendung. Der Wortlaut des § 65 FGO unterscheide nicht zwischen Muß- und Soll- Vorschriften. Gegenteiliges lasse sich auch der Rechtsprechung des BFH nicht entnehmen.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung durch das FG (§ 126 Abs.3 Nr.2 FGO).

1. a) Gemäß § 65 Abs.1 FGO muß die Klage den Kläger, den Beklagten und den Streitgegenstand, bei Anfechtungsklagen auch den angefochtenen Verwaltungsakt bezeichnen und soll einen bestimmten Antrag enthalten. Diesen Erfordernissen wird die vom Prozeßbevollmächtigten des Klägers erstellte Klageschrift jedenfalls unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Streitfalles gerecht. Zwar ist das beklagte FA weder in der Klageschrift selbst noch in der Klagebegründung ausdrücklich genannt. Die Klageschrift als prozessuale Willenserklärung ist jedoch in gleicher Weise wie Willenserklärungen im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) analog § 133 BGB --ohne Bindung an die Vorinstanz-- auszulegen. Hierbei gilt für das finanzgerichtliche Verfahren die Besonderheit, daß bei der Auslegung einer beim FG eingereichten Klageschrift auch die im Zeitpunkt des Klageeingangs dem FA bekannten oder vernünftigerweise erkennbaren Umstände mitzuberücksichtigen sind. Denn da im finanzgerichtlichen Verfahren die Klage sowohl beim FG als auch beim FA eingereicht werden kann (§ 47 Abs.2 FGO), darf die Auslegung der Klageschrift nicht davon abhängen, wann die zu ihrer Auslegung heranzuziehenden Umstände dem FG als zweitem der beiden möglichen Adressaten der Klageschrift bekanntgeworden sind (BFH-Urteil vom 12.Mai 1989 III R 132/85, BFHE 157, 296, BStBl II 1989, 846). Da der Kläger in der Klageschrift den angefochtenen Bescheid sowie die Einspruchsentscheidung genau bezeichnet hat, war vorliegend ohne weiteres erkennbar, daß sich die Klage gegen diejenige Behörde richten sollte, welche diesen Bescheid erlassen hat. Diese weniger formstrenge Auslegung trägt dem aus Art.19 Abs.4 des Grundgesetzes (GG) abzuleitenden Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung (vgl. Urteil des BFH vom 8.Januar 1991 VII R 61/88, BFH/NV 1991, 795 m.w.N.) besser Rechnung, demzufolge der Zugang zum Gericht nicht unnötig erschwert werden darf und insbesondere eine Prozeßerklärung so auszulegen ist, daß sie --wenn irgend vertretbar-- im Ergebnis dem Willen eines verständigen Klägers entspricht.

b) Diese Betrachtungsweise stimmt auch mit Sinn und Zweck der in § 65 Abs.1 FGO bestimmten Bezeichnungspflichten überein. Dieser besteht darin, das Prozeßrechtsverhältnis eindeutig zu fixieren. Es muß mit der Klageschrift klargestellt sein, wer gegen wen aus welchem Grund Rechtsschutz begehrt, denn eine nachträgliche Auswechslung des Beklagten ist bei fristgebundenen Klagen unzulässig (Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, § 63 Anm.5). Im Streitfall war eine nachträgliche Auswechslung des Beklagten aber nicht möglich, denn in der vorliegenden Klageschrift war durch die darin enthaltenen Angaben --nämlich die Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsaktes und der angefochtenen Einspruchsentscheidung-- die beklagte Behörde eindeutig und leicht bestimmbar. Dieser Umstand hat sich durch den alsbaldigen Anruf des Vorsitzenden des FG erwiesen.

2. Die Zulässigkeit der vorliegenden Klage ergibt sich weiterhin auch daraus, daß der Kläger die zunächst fehlende Beklagtenbezeichnung nach Ablauf der Klagefrist auf Aufforderung des Vorsitzenden in zulässiger Weise gemäß § 65 Abs.2 FGO ergänzt hat. Nach dieser Vorschrift hat der Vorsitzende den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern, wenn die Klage den Anforderungen des § 65 Abs.1 FGO "nicht in vollem Umfang" entspricht. Der Gesetzgeber geht somit erkennbar davon aus, daß das Fehlen von Bestandteilen einer ordnungsmäßigen Klageschrift noch nicht die Unzulässigkeit der Klage zur Folge hat, wenn bis zum Ende der Klagefrist lediglich die Mindesterfordernisse beachtet wurden, von denen es abhängt, ob ein Schriftstück überhaupt als ergänzungsfähiges Minimum einer Klageschrift anzusehen ist (Beschluß des Großen Senats vom 23.Oktober 1989 GrS 2/87, BFHE 159, 4, BStBl II 1990, 327 unter C III 2 a). Diese Voraussetzung ist im Streitfall gegeben.

a) Eine ergänzungsfähige Klageschrift liegt nicht nur dann vor, wenn sich der Fehler auf die Soll-Bestandteile der Klageschrift beschränkt. Die Heilungsmöglichkeiten des § 65 Abs.2 FGO erfassen vielmehr die Ergänzung von Muß-Erfordernissen des Abs.1 (BFH-Beschluß vom 9.Januar 1992 VII B 124/91, BFH/NV 1992, 752; Gräber/von Groll, a.a.O., § 65 Anm.52; Tipke/ Kruse, a.a.O., § 65 FGO Tz.7). Dies ergibt sich zum einen daraus, daß § 65 Abs.2 FGO den Vorsitzenden verpflichtet, zur "erforderlichen" Ergänzung der Klageschrift aufzufordern, was sich auf die Soll-Erfordernisse der Klageschrift nicht beziehen kann, zum anderen aus der Gesetzgebungsgeschichte. § 65 FGO ist der Vorschrift des § 82 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nachgebildet (BTDrucks IV/1446). Nachdem der Rechtsausschuß zunächst erwogen hatte, die gesamten Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Klageschrift nur als Soll-Vorschrift auszugestalten (Sitzungsprotokoll des Rechtsausschusses vom 4.Februar 1959), einigte man sich schließlich auf die dem heutigen § 82 Abs.1 VwGO (*= § 65 Abs.1 FGO) entsprechende Fassung, in der die Essentialia einer Klageschrift weitgehend Muß-Bestandteile sind. Zum Ausgleich von Härten wurde jedoch nach dem Vorbild des § 54 der Militärverordnung Nr.165 für die Verwaltung der britischen Zone eine Ergänzungsmöglichkeit für fehlerhafte Klageschriften vorgesehen. Bedenken wegen der "Aufweichung" der Muß-Bestimmungen durch diese Ergänzungsmöglichkeit (§ 82 Abs.2 VwGO) konnten sich im Rechtsausschuß nicht durchsetzen. Die fehlerhafte Klageschrift sollte bei Ergänzung innerhalb der richterlichen Frist trotz Versäumung der Klagefrist als rechtzeitig erhoben gelten (BTDrucks 3/1092 S.9).

b) Einem nach § 65 Abs.2 FGO ergänzungsfähigen Minimum der Klageschrift steht schließlich auch nicht entgegen, daß es an der Beklagtenbezeichnung vollständig fehlt (zum Meinungsstand vgl. Gräber/von Groll, a.a.O., § 65 Anm.53). Für den Fall einer fehlenden Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsaktes hat bereits der II.Senat des BFH mit Urteil vom 1.April 1981 II R 38/79 (BFHE 133, 151, BStBl II 1981, 532) entschieden, daß diese grundsätzlich auch noch nach Ablauf der Klagefrist innerhalb des durch den bisherigen Klageinhalt gezogenen Rahmens nachgeholt werden kann. Dasselbe muß für eine fehlende Beklagtenbezeichnung jedenfalls dann gelten, wenn aufgrund der vorhandenen Angaben in der Klageschrift (Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsaktes und der Einspruchsentscheidung) die fehlende Angabe des beklagten FA leicht und eindeutig bestimmbar ist und Manipulationen durch nachträgliche Auswechslung des Beklagten ausgeschlossen erscheinen (für die Ergänzung einer fehlenden Beklagtenbezeichnung ebenso Urteil des BVerwG vom 24.Mai 1984 3 C 48.83, Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, § 117 FGO Nr.23; Ziemer/Haarmann/Loose/Beermann, Rechtsschutz in Steuersachen, Tz.7227). Nach der gegenteiligen Rechtsauffassung würde die Ergänzungsmöglichkeit des § 65 Abs.2 FGO weitgehend entwertet.

c) Abweichendes läßt sich entgegen der Ansicht des FG auch nicht aus der Rechtsprechung des BFH entnehmen. Dem Urteil in BFHE 130, 12, BStBl II 1980, 331 lag kein Fall der fehlenden Beklagtenbezeichnung, sondern der einer unzulässigen Klageänderung zugrunde; denn der Kläger hatte zunächst das Hauptzollamt B als Beklagten bezeichnet und erst nach Ablauf der Klagefrist mitgeteilt, er habe das Hauptzollamt A verklagen wollen.

3. Da der BFH als Revisionsgericht auf die Prüfung des Verfahrensfehlers beschränkt ist, wenn ein solcher geltend gemacht wird und durchgreift, muß die Vorentscheidung aufgehoben und ohne Entscheidung in der Sache an das FG zurückverwiesen werden (BFH-Urteil vom 17.Oktober 1990 I R 118/88, BFHE 162, 534, BStBl II 1991, 242 am Ende).

 

Fundstellen

Haufe-Index 64281

BFH/NV 1993, 21

BStBl II 1993, 306

BFHE 169, 507

BFHE 1993, 507

BB 1993, 571 (L)

DB 1993, 868 (L)

DStR 1993, 436 (K)

DStZ 1993, 253 (KT)

StE 1993, 132 (K)

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