Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Änderung bestandskräftiger Steuerbescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 aufgrund geänderter Rechtsauffassung

 

Leitsatz (NV)

1. Nachträglich bekanntgewordene Tatsachen oder Beweismittel können nur dann zu einer niedrigeren Steuer i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 führen, wenn das Finanzamt bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel schon bei der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Steuer gelangt wäre (Anschluß an BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180).

2. Bei der durchzuführenden hypothetischen Betrachtung kommt es, soweit nicht sog. Nichtanwendungserlasse ergangen sind, auf die im Zeitpunkt der erstmaligen Veranlagung ergangene und bekanntgemachte BFH-Rechtsprechung an.

3. Zur Frage des groben Verschuldens i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977.

4. Richtet sich die Klage gegen ESt-Bescheide für verschiedene Veranlagungszeiträume, so kann die Revision - ggfs. mit Zustimmung des Finanzamts - hinsichtlich einzelner Veranlagungszeiträume zurückgenommen werden (sog. Teilrücknahme).

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2; FGO § 125

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches FG

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist kaufmännischer Angestellter. Im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit besuchte er in den Streitjahren 1979 bis 1982 u. a. Fachmessen sowie Kunden und Lieferanten seines Arbeitgebers in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Insgesamt hielt er sich in der DDR auf:

Dauer der einzelnen Reisen Gesamtdauer

1979 111 Tage 40 Tage

1980 212 Tage 61 Tage

1981 211 Tage 68 Tage

1982 211 Tage 53 Tage.

In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre machten der Kläger und seine Ehefrau, die lediglich bei der Abfassung der Einkommensteuererklärung für 1979 steuerlich beraten waren, keine Angaben über die DDR-Reisen. Auch sonst sind in den die Streitjahre betreffenden Einkommensteuervorgängen keine Hinweise auf die DDR-Reisen des Klägers enthalten.

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA - ) legte bei der Veranlagung des Klägers und seiner Ehefrau zur Einkommensteuer 1979 bis 1982 im wesentlichen die erklärten Beträge zugrunde. Sämtliche Veranlagungen wurden bestandskräftig.

Mit Schreiben vom 26. Januar 1984 beantragte der Kläger unter Berufung auf § 3 Nr. 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1979 und 1981 und das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21. Januar 1983 VI R 87/79 (BFHE 137, 352, BStBl II 1983, 224), unter Änderung der ergangenen Einkommensteuerbescheide seine auf die Aufenthalte in der DDR entfallenden Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit steuerfrei zu belassen. Gleichzeitig machte er geltend, daß er die beiden Mitarbeiter des FA, Frau B und Herrn W, bei denen er jedes Jahr seine Einkommensteuererklärung persönlich abgegeben habe, auf seine Reisen in die DDR hingewiesen habe.

Das FA lehnte den Antrag des Klägers ab. Im Einspruchsverfahren behauptete der Kläger, bei der Abgabe der Einkommensteuererklärungen seine Dienstreisen in die DDR nicht angesprochen zu haben. Zu der gegenteiligen Äußerung im Antragsverfahren sei er durch ein Telefongespräch mit dem zuständigen Bediensteten des FA veranlaßt worden, der ihm eine entsprechende Ergänzung seines Antrags ,,in den Mund gelegt" habe.

Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) führte im wesentlichen aus, § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) sei im Streitfall nicht anwendbar. Dies gelte selbst dann, wenn man zugunsten des Klägers davon ausgehe, daß die Tatsache, daß der Kläger wiederholt Dienstreisen in die DDR unternommen habe, dem FA ohne grobes Verschulden des Klägers erst nachträglich bekannt geworden sei. Denn diese Tatsache sei nicht rechtserheblich, weil das FA bei rechtzeitiger Kenntnis bei der Veranlagung nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer niedrigeren Steuerfestsetzung gekommen wäre. Die abweichende Ansicht des Klägers, die für die Auslegung der Vorschrift einseitig auf die Rechtsauffassung im Zeitpunkt der beantragten Änderung abstelle, führe zur Aushöhlung der Bestandskraft und sei deshalb abzulehnen. Nach der Rechtsprechung des BFH zu § 3 Nr. 63 EStG sei zwar der Arbeitslohn, der auf die berufliche Tätigkeit eines Steuerpflichtigen in der DDR entfalle, steuerfrei (Hinweis auf Urteil vom 27. März 1981 VI R 207/78, BFHE 133, 64, BStBl II 1981, 530). Dies gelte auch dann, wenn der Arbeitseinsatz in der DDR nur wenige Tage gedauert habe (Hinweis auf Urteil in BFHE 137, 352, BStBl II 1983, 224), oder der Steuerpflichtige arbeitstäglich in die Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) oder nach Berlin (West) zurückgekehrt sei (Hinweis auf BFH-Urteil vom 21. August 1985 VI R 12/82, BFHE 144, 556, BStBl II 1986, 64). Nach den das FA bindenden Verwaltungsanweisungen (z. B. ländereinheitlicher Erlaß des Finanzministers des Landes Niedersachsen vom 12. Oktober 1979 S 2342 - 38 - 313, Der Betrieb - DB - 1979, 2109), die bei Durchführung der Veranlagungen des Klägers zur Einkommensteuer 1979 bis 1982 noch nicht aufgehoben gewesen seien, sei das Einkommen aus nichtselbständiger Arbeit von Arbeitnehmern, die - wie der Kläger - weniger als 30 Tage zusammen in der DDR oder in Berlin (Ost) tätig gewesen seien, aber steuerpflichtig. Unter diesen Umständen könne, zumal der Kläger selbst die Tatsache seiner Tätigkeit in der DDR für rechtsunerheblich gehalten habe, nicht mit der erforderlichen Sicherheit angenommen werden, daß das FA bei Kenntnis des Sachverhalts schon im Rahmen der Erstveranlagungen dem jetzigen Begehren des Klägers entsprochen hätte.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Er trägt im wesentlichen vor:

Entgegen der Auffassung des FG sei die Frage der Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache allein aus der Sicht des Zeitpunkts zu beurteilen, an dem die Tatsache vorgetragen und der Berichtigungsanspruch geltend gemacht werde. Sonst hätte der Gesetzgeber die streitige Vorschrift anders formulieren müssen. Auch die Befürchtung, die klägerische Auffassung würde zu einer Aushöhlung der Bestandskraft führen, sei nicht begründet.

Die DDR-Reisen seien im Streitfall auch ohne sein, des Klägers, Verschulden nachträglich bekanntgeworden. Denn als normaler Steuerbürger habe er sie bei der Abgabe seiner Steuererklärungen für rechtlich unerheblich halten dürfen. Das gelte insbesondere hinsichtlich des Streitjahres 1982. Für dieses Jahr sei der Einkommensteuerbescheid erst am 19. August 1983 ergangen, während das Urteil in BFHE 137, 352, BStBl II 1983, 224 schon am 30. April 1983 veröffentlicht worden sei. Insoweit habe deshalb seinem Änderungsantrag auch bei Zugrundelegung der Rechtsauffassung des FA und FG entsprochen werden müssen.

Der Kläger hat in seiner Revisionsschrift beantragt:

1. Das Urteil des FG vom 11. März 1986 III 681/85 aufzuheben.

2. Die Einnahmen des Klägers aus nichtselbständiger Tätigkeit 1979 in Höhe von . . . DM, 1980 in Höhe von . . . DM, 1981 in Höhe von . . . DM und 1982 in Höhe von . . . DM steuerfrei zu belassen, das zu versteuernde Einkommen 1979 bis 1982 um diese Beträge zu mindern und die Einkommensteuer . . . entsprechend niedriger festzusetzen.

Mit Schriftsatz vom 21. November 1988 hat der Kläger die Revision hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1979 bis 1981 zurückgenommen.

Das FA hat in die Teilrücknahme der Revision eingewilligt. Es beantragt, die Revision betreffend Einkommensteuer 1982 zurückzuweisen.

Es bezieht sich im wesentlichen auf die Begründung des FG. Ergänzend führt es aus: Soweit der Kläger beanstande, daß das FG von seinem Standpunkt aus eine Änderung des Einkommensteuerbescheids für 1982 hätte vornehmen müssen, liege dem die richtige Erwägung zugrunde, daß man nach der Veröffentlichung des oben angegebenen BFH-Urteils nicht mehr davon habe ausgehen können, daß es, das FA, die streitige Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für unerheblich gehalten hätte.

Der Kläger verkenne jedoch, daß das FG festgestellt habe, der Kläger habe die Tatsache seiner DDR-Reisen bereits bei der persönlichen Abgabe seiner Steuererklärung dargelegt. Deshalb sei diese Tatsache nicht neu.

 

Entscheidungsgründe

Hinsichtlich der Streitjahre 1979 bis 1981 ist die Hauptsache durch die mit Zustimmung des FA erklärte Rücknahme der Revision erledigt. Die Teilrücknahme war möglich, weil die Revision verschiedene Veranlagungszeiträume betraf (vgl. Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 13. Aufl., § 125 FGO Tz. 5; Gräber / Koch, Finanzgerichtsordnung, 2. Aufl., § 72 Anm. 12 bis 14). Insoweit ist das Verfahren durch Beschluß einzustellen. Über die Kosten ist einheitlich in dem das Streitjahr 1982 erledigenden Urteil zu entscheiden (vgl. BFH-Beschluß vom 25. Juli 1972 VII B 129/70, BFHE 106, 286, BStBl II 1972, 793).

Hinsichtlich der Einkommensteuerveranlagung 1982 ist die Revision begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Ob die Voraussetzungen für eine Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids 1982 vorliegen, kann der Senat nicht abschließend beurteilen.

Mit Beschluß vom 23. November 1987 GrS 1/86 (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180), also nach Ergehen der Vorentscheidung, hat der Große Senat des BFH ausgesprochen, daß ein Steuerbescheid wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel nicht gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zugunsten des Steuerpflichtigen aufgehoben oder geändert werden darf, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Nachträglich bekanntgewordene Tatsachen und Beweismittel können vielmehr nur dann zu einer niedrigeren Steuer im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 führen, wenn das FA bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel schon bei der ursprünglichen Veranlagung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Steuer gelangt wäre. Wie das FA bei Kenntnis bestimmter Tatsachen und Beweismittel einen Sachverhalt in seinem ursprünglichen Bescheid gewürdigt hätte, ist nach dem vorbezeichneten Beschluß des Großen Senats ,,im Einzelfall aufgrund des Gesetzes, wie es nach der damaligen Rechtsprechung des BFH ausgelegt wurde und der die FÄ bindenden Verwaltungsanweisungen zu beurteilen, die im Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheiderlasses durch das FA gegolten haben".

Danach kommt es bei der hier anzustellenden hypothetischen Betrachtung, soweit nicht ein sog. Nichtanwendungserlaß ergangen ist, auf die im Zeitpunkt der erstmaligen Veranlagung ergangene und bekanntgemachte BFH-Rechtsprechung an. Da der Kläger nach den Feststellungen des FG jeweils weniger als 30 Tage zusammenhängend in der DDR tätig war, ist für die hier streitigen Einkünfte das Urteil in BFHE 137, 352, BStBl II 1983, 224 maßgebend. Dieses Urteil ist im BStBl (Teil II vom 30. April 1983) veröffentlicht worden. Es war also, wie die Kläger zu Recht hervorheben, bei der abschließenden Zeichnung des Eingabewertbogens am 28. Juni 1983 bekannt und hätte auch vom FA beachtet werden müssen. Da ein Nichtanwendungserlaß bezüglich dieses Urteils nicht ergangen ist, wendet die Finanzverwaltung das Urteil grundsätzlich an. Daher kann man, wie auch das FA in der Revisionserwiderung eingeräumt hat, nicht davon ausgehen, das FA hätte die Tatsache, daß ein Teil der Einkünfte aus kurzfristigen Tätigkeiten in der DDR herrührte, auch nach Bekanntwerden des vorerwähnten BFH-Urteils für unerheblich gehalten.

Die Vorentscheidung, die der Rechtsauffassung des Senats nicht entspricht, ist aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 126 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das FG zurückzuverweisen, da sie nicht spruchreif ist. Das FG wird nunmehr festzustellen haben, ob dem FA bei der Veranlagung bekannt war, daß in den erklärten Einkünften Bezüge enthalten waren, die auf jeweils kurzfristige Aufenthalte in der DDR entfielen. Hierzu hat das FG entgegen den Ausführungen des FA in der Vorentscheidung keine Feststellungen getroffen, sondern nur den Vortrag des Klägers wiedergegeben.

Bei seiner erneuten Entscheidung wird das FG zu beachten haben, daß man es dem Kläger nicht als grobes Verschulden anlasten kann, das FA nicht seinerseits auf die neue BFH-Entscheidung hingewiesen zu haben. Dabei kann offenbleiben, ob man von einem durch einen Angehörigen der steuerberatenden Berufe vertretenen Steuerpflichtigen einen entsprechenden Hinweis, notfalls in einem - aus diesem Grunde zu führenden - Einspruchsverfahren erwarten müßte. Denn der Kläger war im Veranlagungsverfahren 1982 nicht vertreten. Offenbleiben kann auch, ob etwas anderes zu gelten hätte, wenn nach Einkünften aus der DDR im Erklärungsvordruck für die Einkommensteuererklärung 1982 ausdrücklich gefragt worden wäre. Denn dies war nicht der Fall.

 

Fundstellen

Haufe-Index 416264

BFH/NV 1989, 623

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