Leitsatz (amtlich)

1. Wird der Betrieb, in dem ein Arbeitnehmer beschäftigt ist, an einen Ort verlegt, der mehr als 40 km von der Wohnung des Arbeitnehmers entfernt liegt, so ist, wenn der Arbeitnehmer seine Wohnung beibehält, in aller Regel anzuerkennen, daß ein zwingender persönlicher Grund vorliegt. Bei der Berechnung der Aufwendungen des Arbeitnehmers für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte und der Mehraufwendungen für Verpflegung wegen regelmäßiger mehr als zwölfstündiger Abwesenheit von der Wohnung (Abschn. 24 Abs. 5 LStR 1963) ist in einem solchen Fall von der vollen Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte auszugehen.

2. Im Rechtsbehelfsverfahren über die Eintragung eines steuerfreien Betrages auf der Lohnsteuerkarte ist das FG regelmäßig verpflichtet, den Betrag, den das FA auf der Lohnsteuerkarte hätte eintragen müssen, selbst festzusetzen.

 

Normenkette

LStDV § 20 Abs. 2 Nr. 2, § 27 Abs. 1; LStR Abschn. 24 Abs. 5; FGO § 100 Abs. 2

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Steuerpflichtiger) war seit dem Jahr 1955 Lohnbuchhalter bei einer Firma mit Sitz in V. Er wohnte in den Jahren 1964 und 1965 in N. Das Zweigwerk, in dem der Steuerpflichtige tätig war, wurde 1959 von V. nach K. verlegt. Der Steuerpflichtige behielt seinen Wohnsitz in N. und fuhr im Jahr 1964 an 233 Tagen und im Jahr 1965 an 230 Tagen mit seinem eigenen Pkw von N. zu der 48 km entfernten Arbeitsstätte in K. und zurück. Er verließ die Wohnung morgens gegen 6.30 Uhr und kehrte abends gegen 19.15 Uhr zurück.

Im Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahren 1964 und im Lohnsteuer-Ermäßigungsverfahren 1965 machte der Steuerpflichtige die Aufwendungen für die Fahrten mit dem eigenen Pkw von N. nach K. mit 5 592 DM (1964) und mit 5 520 DM (1965) als Werbungskosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, sowie einen Mehraufwand für Verpflegung von 582 DM (1964) und von 575 DM (1965) wegen mehr als zwölfstündiger dienstlicher Abwesenheit geltend. Der Revisionskläger (Finanzamt – FA –) erkannte die Fahrtkosten nur bis zu einer Entfernung von 40 km als Werbungskosten an. Den Mehraufwand für Verpflegung strich er, weil der Steuerpflichtige aus privaten Gründen seine Wohnung in einer ungewöhnlich weiten Entfernung vom Arbeitsort genommen habe. Als ungewöhnlich weite Entfernung sei regelmäßig eine Entfernung von mehr als 40 km anzusehen. Die Einsprüche wurden zurückgewiesen.

Mit den Klagen machte der Steuerpflichtige im wesentlichen geltend: Er habe seinen Wohnsitz in N. beibehalten, weil er dort mitten in den grünen Bergen wohne. Das diene der Erhaltung seiner Arbeitskraft; zudem vertrage er die vielen Nebeltage in K. gesundheitlich wegen seiner Bronchitis nicht. Die zurückgelegte Wegstrecke von insgesamt 96 km täglich sei nur dadurch entstanden, daß das Zweigwerk von V, nach K. verlegt worden sei.

Die Klagen hatten Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, „das FA werde die Anträge des Klägers auf Lohnsteuer-Jahresausgleich 1964 und auf Lohnsteuerermäßigung 1965 entsprechend den Urteilsgründen bescheiden”. Zur Begründung führte das FG aus: Die Grenze von 40 km, auf die das FA sich berufe, sei nur in § 20 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 LStDV vorgesehen. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe im Urteil VI R 160/66 vom 5. Oktober 1966 (Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 87 S. 150 – BFH 87, 150 –, BStBl III 1967, 95) entschieden, daß diese Rechtsverordnung mangels einer ausreichenden Ermächtigung im Sinn des Art. 80 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) keine die Steuergerichte bindende Rechtsnorm darstelle, daß aber für die gieße Zahl der Fälle die Grenze von 40 km einen Brauchbaren Anhalt für die Abgrenzung von Werbungskosten und Lebenshaltungskosten biete, ohne jedoch starr angewandt werden zu können. Im Streitfall könne die Überschreitung der 40-km-Grenze um 8 km noch als geringfügig angesehen werden. Es dürfe dabei nicht unberücksichtigt bleiben, daß nicht etwa der Steuerpflichtige seine Wohnung in unangemessen weiter Entfernung vom Arbeitsort genommen, sondern umgekehrt der Arbeitgeber die Arbeitsstätte verlegt habe. Zutreffend weise der Steuerpflichtige darauf hin, daß er in einem industriellen Ballungsgebiet lebe, was eine großzügigere Beurteilung rechtfertige. Wie sich Insbesondere aus dem BFH-Urteil VI 219/64 vom 18. Februar 1966 (BFH 86, 39, BStBl III 1966, 386) ergebe, habe sich die steuerliche Behandlung der Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte wie für Familienheimfahrten im Laufe der Jahrzehnte laufend geändert, indem diese Kosten in wachsendem Maße als Werbungskosten zugelassen worden seien. Wie der BFH glaube auch das FG, diesem Wandel der Verhältnisse im Streitfall nach den allgemeinen Grundsätzen der Auslegung von Gesetzen und gemäß der ausdrücklichen Anordnung des § 1 Abs. 2 StAnpG durch eine nicht kleinliche Auslegung Rechnung tragen zu müssen, wobei es sich auch an den Wertungen des GG orientiere, wie sie in Art. 1 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 GG zum Ausdruck kämen. Die Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte seien hiernach unter Zugrundelegung einer Entfernung von 48 km als Werbungskosten anzuerkennen. Ebenso sei der Mehraufwand für Verpflegung gemäß Abschn. 24 Abs. 5 LStR in der beantragten Höhe von 1,50 DM für 1964 und 2,50 DM für 1965 arbeitstäglich als Werbungskosten anzuerkennen. Es müsse nach den vorstehenden Ausführungen davon ausgegangen werden, daß die mehr als zwölfstündige Abwesenheit von der Wohnung durch den Beruf des Steuerpflichtigen bedingt gewesen sei. Die Ausführungen des BFH im Urteil VI R 217, 218/67 vom 15. Dezember 1967 (BFH 91, 141, BStBl III 1968, 205) gäben dem FG keine Veranlassung, die Steuer selbst festzusetzen. Die Auffassung des BFH stehe offensichtlich im Widerspruch zu der grundlegenden Änderung der Stellung und der Aufgabe der FG gegenüber den Finanzverwaltungsbehörden nach dem Inkrafttreten der FGO.

 

Entscheidungsgründe

Die Prüfung der Revision ergibt folgendes.

1. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben die Kosten für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte in immer größerem Umfang als Werbungskosten anerkannt. Die Entwicklung, soweit sie für den Streitfall von Bedeutung ist, ist in dem Urteil des erkennenden Senats VI 219/64 (a.a.O.) dargestellt. § 9 Nr. 4 EStG in der für den Streitfall maßgebenden Fassung läßt für Arbeitnehmer den Abzug solcher Kosten zu; im Wortlaut der Vorschrift ist der Abzug nicht auf eine bestimmte Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte beschränkt. Die Grenze von 40 km, auf die das FA sich beruft, ist nicht im Gesetz vorgesehen, sondern nur in § 20 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 LStDV, also in einer Rechtsverordnung. Eine gesetzliche Ermächtigung im Sinn von Art. 80 Abs. 1 GG, die Grenze von 40 km in einer Rechtsverordnung bindend festzulegen, hat das EStG der Bundesregierung nicht erteilt. Insofern ist § 20 Abs. 2 Nr. 2 Satz 2 LStDV keine die Steuergerichte bindende Rechtsnorm. Der Senat hat die Vorschrift aber als eine zur Abgrenzung von Werbungskosten und Kosten der Lebensführung vertretbare Auslegung des EStG – in Anlehnung an den früheren Begriff des „Einzugs- und Siedlungsgebiets” unter Berücksichtigung der Fortentwicklung der Verhältnisse – anerkannt (vgl. u. a. das Urteil des Senats VI 40/64 U vom 8. Oktober 1965, BFH 83, 651, BStBl III 1965, 736), weil für die große Zahl der Fälle die Grenze von 40 km einen brauchbaren Anhalt biete. Der Senat bleibt bei diesen Rechtsgrundsätzen. Die Grenze kann aber, eben weil sie nur einen Anhalt bietet, nicht starr angewendet werden. Die Gerichte können, wenn z. B. die Grenze nur um wenige Kilometer überschritten ist, nicht, wie das FA will, ohne weiteres die 40-km-Grenze wie eine gesetzliche Grenze handhaben, sondern müssen prüfen, wie nach den Umständen des einzelnen Falles die in Betracht kommenden §§ 9 Nr. 4 und 12 Nr. 1 EStG auszulegen sind. Dabei ist auch zu prüfen, ob etwa zwingende persönliche Gründe den Steuerpflichtigen veranlaßt haben, in einer größeren Entfernung von der Arbeitsstätte zu wohnen. Bereits in dem angeführten Urteil hat der Senat sich gegen eine kleinliche und schematische Handhabung der 40-km-Grenze ausgesprochen. In dem dort entschiedenen Fall betrug die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte 42 km. Der Senat hat ausgeführt, es wäre nicht sinnvoll, bei einer Überschreitung von nur 2 km die aufgewandten Fahrtkosten anteilig zu kürzen.

Die Prüfung der Frage, ob bei der Berücksichtigung der Fahrtkosten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte auch bei einer Überschreitung der 40-km-Grenze die volle Entfernung, auch soweit sie über 40 km hinausgeht, zugrunde gelegt werden kann, ist hiernach eine Würdigung der Umstände des einzelnen Falles, die Aufgabe des FG als Tatsacheninstanz ist. Der BFH als Revisionsinstanz ist an die Würdigung gebunden, wenn sie möglich ist und weder gegen die Lebenserfahrung noch gegen die Denkgesetze verstößt.

Die Würdigung des FG, im Streitfall die volle Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zugrunde zu legen, ist möglich und läßt weder einen Verstoß gegen die Denkgesetze noch gegen die Lebenserfahrung erkennen. Sie entspricht den von der Rechtsprechung des erkennenden Senats entwickelten Grundsätzen. Das FG konnte für den Streitfall auch eine Überschreitung der 40-km-Grenze um 8 km noch als geringfügig im Sinn des Urteils des erkennenden Senats VI R 160/66 (a.a.O.) ansehen. Es konnte den Umstand, daß die Arbeitsstätte des Steuerpflichtigen verlegt wurde, als Besonderheit des Falles würdigen. Hierin ist jedenfalls für den Steuerpflichtigen ein zwingender persönlicher Grund zu sehen, seine in 48 km von der jetzigen Arbeitsstätte gelegene Wohnung beizubehalten. Das FG konnte auch den Umstand berücksichtigen, daß der Steuerpflichtige in einem industriellen Ballungsgebiet lebt, in dem zwischen den ineinander übergehenden Städten vielfach so enge Beziehungen bestehen und die Verkehrs- und Straßenverhältnisse teilweise so günstig sind, daß hier Wohnung und Arbeitsstätte in zahlreichen Fällen weit auseinander liegen.

Wird die volle Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte bei der Berücksichtigung der Fahrtkosten als Werbungskosten zugrunde gelegt, so ist mit dem FG davon auszugehen, daß auch die durch diese Entfernung sich ergebende Abwesenheit von der Wohnung in vollem Umfang beruflich bedingt ist. Da der Steuerpflichtige unstreitig regelmäßig mehr als 12 Stunden von der Wohnung abwesend war, hat er nach der ständigen Rechtsprechung des BFH (vgl. insbesondere die Urteile VI 231/64 vom 24. Juni 1966, BFH 86, 574, BStBl III 1966, 608, und VI R 322/66 vom 4. August 1967, BFH 90, 23, BStBl III 1967, 782), die von der Verwaltung in Abschn. 24 Abs. 5 LStR übernommen wurde, einen Anspruch auf Anerkennung pauschalierter Mehraufwendungen für Verpflegung. Die vom FG zugrunde gelegten Sätze entsprechen diesen Grundsätzen.

2. Der große Senat des BFH hat im Beschluß Gr. S. 3/68 vom 16. Dezember 1968 (BFH 94, 436, BStBl II 1969, 192) entschieden, daß dann, wenn die Änderung eines in § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO angeführten Verwaltungsakts beantragt ist, dem FG die Festsetzung des in den Urteilsgründen festgestellten Betrages nach pflichtgemäßem Ermessen obliege. Die pflichtgemäße Handhabung des Ermessens führe grundsätzlich zur Festsetzung des Betrages. Die gleiche Auffassung hat der erkennende Senat bereits in dem vom FG angeführten Urteil VI R 217, 218/67 (a.a.O.) vertreten und dabei entschieden, daß nach diesen Grundsätzen auch im Verfahren des Lohnsteuer-Jahresausgleichs zu verfahren ist. Die gleichen Grundsätze müssen gelten, wenn die Eintragung eines steuerfreien Betrags auf der Lohnsteuerkarte beantragt ist. In diesem Fall hat das FG den Betrag festzusetzen, den das FA auf der Lohnsteuerkarte hätte eintragen müssen.

Es ist kein Grund ersichtlich, der das FG hätte veranlassen können, von diesen Grundsätzen abzuweichen. Die Sache war daher an das FG zurückzuverweisen, damit dieses für 1964 den zu erstattenden Betrag und für 1965 den Betrag festsetzt, den das FA auf der Lohnsteuerkarte hätte eintragen müssen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 514848

BFHE 1972, 489

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