Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß die Aufsichtsbehörde hinsichtlich eines bekannten Sachverhaltes eine andere Rechtsauffassung vertritt als das Finanzamt.

§ 222 Abs. 2 AO ist nicht entsprechend auf die Fälle anzuwenden, in denen eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erstmals von einer Verwaltungsübung oder von Verwaltungsrichtlinien abweicht.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2

 

Tatbestand

Das Finanzamt veranlagte die Bgin. mit Bescheid vom 11. März 1955 zur Kreditgewinnabgabe (KGA) in Höhe von - DM. Dabei ließ es, veranlaßt durch das Ergebnis der Lastenausgleichsbesprechung vom März 1953 (LA-Kartei § 163 Karte 5), die ihm bekannten, am Währungsstichtage bestehenden Steuerschulden in Anlehnung an die EStR 1951 Abschn. 22 außer Betracht. Danach hatte die Steuerpflichtige für Mehrsteuern auf Grund von Berichtigungsveranlagungen ein Wahlrecht, diese entweder in dem Geschäftsjahre zu berücksichtigen, zu dem sie wirtschaftlich gehörten oder zu Lasten des Jahres zu buchen, in dem mit der Nachforderung zu rechnen war.

Anläßlich einer Prüfung im Jahre 1960 stellte der Bundesrechnungshof fest, daß bei der Veranlagung zur KGA Schuldnergewinne der Bgin. aus Steuerschulden in Höhe von - DM nicht erfaßt worden waren. Unter Hinweis auf das inzwischen ergangene Urteil des Bundesfinanzhofs III 196/55 S vom 22. November 1957 (BStBl 1958 III S. 10, Slg. Bd. 66 S. 24), wonach auch Schuldnergewinner aus Steuerschulden der KGA unterliegen, bat der Bundesrechnungshof, die Veranlagung zu überprüfen und gegebenenfalls nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO zu berichtigen. Entsprechend einer Weisung des Senators für Finanzen berichtigte das Finanzamt den KGA-Bescheid am 6. Dezember 1960 und veranlagte die Bgin., was zu einer KGA-Schuld von - DM führte.

Die Sprungberufung hatte Erfolg. Das Finanzgericht hob den Berichtigungsbescheid auf. Es vertrat die Auffassung, daß zwar ein Fehler vorliege, die Berufung jedoch auf einer änderung der Rechtsauffassung der Verwaltung beruhe und daher gegen Treu und Glauben verstoße. Auf die änderung der Rechtsauffassung könne aber nach dem Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 25. Oktober 1957 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1948 S. 134) eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 AO nicht gestützt werden.

In der Rb. rügt der Vorsteher des Finanzamts, das Finanzgericht habe verkannt, daß es allein um die Anwendbarkeit des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO gehe. Aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs II 137/55 U vom 14. März 1956 (BStBl 1956 III S. 137, Slg. Bd. 62 S. 372) habe das Finanzgericht nicht entnehmen können, daß eine Berichtigung dann nicht in Betracht komme, wenn anläßlich einer Prüfung durch die Aufsichtsbehörde ein Fehler festgestellt werde, der sich aus der nachträglichen Rechtsprechung ergebe. In dem angeführten Urteil habe der Bundesfinanzhof nur den Hinweis geben wollen, daß auch die Berichtigungsmöglichkeit des § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO nicht Anwendung finden könne, weil der Fehler nicht durch die Aufsichtsbehörde aufgedeckt worden sei. Treu und Glauben seien nur dann verletzt, wenn der Steuerpflichtige auf Grund der ursprünglichen Veranlagung wirtschaftliche, geschäftliche oder finanzielle Maßnahmen getroffen habe und ihm dafür in einem nicht zumutbaren Umfange die Grundlage entzogen würde.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. hat Erfolg.

Nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO findet eine Berichtigungsveranlagung statt, wenn bei einer Nachprüfung durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, deren Berichtigung eine höhere Veranlagung rechtfertigt und die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen ist. Zutreffend ist das Finanzgericht davon ausgegangen, daß es sich bei der Nichtberücksichtigung der am Währungsstichtage entstandenen Schuldnergewinne aus Steuerschulden für die KGA um einen Fehler im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO handelt. Unter einem Fehler im Sinne dieser Bestimmung ist jede objektive Unrichtigkeit zu verstehen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs III 110/55 U vom 2. März 1956, BStBl 1956 III S. 123, Slg. Bd. 62 S. 331). Ein solcher Fehler liegt insbesondere dann vor, wenn materielles Recht unrichtig angewendet worden ist (vgl. Becker, Die Reichsabgabenordnung, 7. Auflage, § 212, Anm. 10). Das Finanzamt hat trotz der ihm bekannten Tatsachen, daß Steuerschulden am Währungsstichtage bestanden haben und daraus ein Schuldnergewinn entstanden ist, diesen in irriger Auslegung des § 163 LAG nicht zur KGA herangezogen. Dieser Fehler ist anläßlich einer Prüfung durch den Bundesrechnungshof aufgedeckt worden. Der Bundesrechnungshof zählt zu den Aufsichtsbehörden im Sinne des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO (vgl. Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 1262/33 vom 29. November 1933, RStBl 1933 S. 1308).

Nicht gefolgt werden kann jedoch der Auffassung des Finanzgerichts, daß trotz Vorliegens eines Fehlers die Berichtigung gegen Treu und Glauben verstoße. Es ist zwar richtig, daß § 222 AO unter dem besonderen Schutz von Treu und Glauben steht. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs I 25/61 U vom 28. Februar 1961 (BStBl 1961 III S. 252, Slg. Bd. 72 S. 689) verstößt die änderung der Beurteilung einer jahrelangen möglichen Würdigung eines bekannten Sachverhaltes dann nicht gegen Treu und Glauben, wenn neue Tatsachen oder eine geänderte Rechtsauffassung dies rechtfertigen. Im Streitfalle ist aber gerade durch das Urteil des Bundesfinanzhofs III 196/55 S vom 22. November 1957, a. a. O., die bisher bei der Finanzverwaltung bestehende Rechtsauffassung über die Behandlung von Steuerschulden bei der KGA geändert worden.

Wäre die Auffassung des Finanzgerichts richtig, so könnte in den Fällen, in denen durch die Aufsichtsbehörde Fehler aufgedeckt werden, die auf einer unrichtigen rechtlichen Beurteilung eines bekannten Sachverhaltes durch das Finanzamt beruhen, eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO nicht durchgeführt werden, weil es sich in einem solchen Falle immer um eine änderung der Rechtsauffassung handelt. Das würde aber gerade dem Sinne und Zwecke des § 222 Abs. 1 Ziff. 3 AO widersprechen, die Berichtigung gerade auch von Rechtsfehlern, soweit sie durch die Aufsichtsbehörde aufgedeckt sind, zu ermöglichen.

Der Berichtigung steht auch § 222 Abs. 2 AO nicht entgegen. Der Ausschluß der Berichtigung nach dieser Bestimmung setzt nach ihrem klaren Wortlaut voraus, daß der Berichtigung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs zugrunde liegt, in der eine Rechtsfrage im Gegensatz zu einer früheren, den gleichen Sachverhalt betreffenden höchstrichterlichen Entscheidung entschieden worden ist. Die Berichtigung ist im Streitfalle auf Grund des Urteils des Bundesfinanzhofs III 196/55 S vom 22. November 1957 (a. a. O.) ergangen. Diese Entscheidung ist aber die erste die der Bundesfinanzhof zu der Frage der Behandlung von Schuldnergewinnen aus Steuerschulden für die KGA erlassen hat. Sie stellt keine Abweichung zu einer früheren einen gleichen Sachverhalt betreffenden Entscheidung des Bundesfinanzhofs dar.

Die Entscheidung weicht insoweit nur von der auf den EStR 1951 Abschn. 22 beruhenden Verwaltungsübung ab, Schuldnergewinn aus Steuerschulden nicht zur KGA heranzuziehen. Weicht jedoch ein erstmals ergangenes Urteil des Bundesfinanzhofs von einer Verwaltungsübung ab, so wird dadurch eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 2 AO nicht ausgeschlossen. Diese Auffassung wird auch überwiegend im Schrifttum vertreten (vgl. Berger, Die Reichsabgabenordnung nach ihren Schwerpunkten für die Praxis der Besitz- und Verkehrsteuern, Abteilung 00/94, 95; Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 222, Anm. 9; Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung, § 222, Anm. 31). Der abweichenden Auffassung von Hübschmann-Hepp-Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, in § 222 Anm. 15 vorletzter und letzter Absatz, liegt ein besonders gebildeter Tatbestand zugrunde, der hier nicht gegeben ist. Der weitergehenden Auffassung von Fließbach, Steuer und Wirtschaft 1956, Spalte 582 (586), den Rechtsgedanken des § 222 Abs. 2 AO auch auf alle Fälle anzuwenden, in denen der Bundesfinanzhof erstmals eine von den Verwaltungsrichtlinien abweichende Rechtsauffassung vertritt, kann der Senat mit Rücksicht auf den insoweit eindeutigen Wortlaut des § 222 Abs. 2 AO nicht folgen. Diese Bestimmung schließt die Berichtigung nur bei Vorliegen des dort eindeutig geregelten Sachverhaltes aus. Im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und der gerade durch § 222 AO geschaffenen Möglichkeiten, die materielle Richtigkeit der Besteuerung im Einzelfalle sicherzustellen, besteht zu einer einengenden Auslegung kein Anlaß. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 410691

BStBl III 1963, 161

BFHE 1963, 443

BFHE 76, 443

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