Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Urteilsbegründung

 

Leitsatz (NV)

  1. Die Begründungserleichterung nach § 105 Abs. 5 FGO setzt voraus, dass der Verwaltungsakt oder die Einspruchsentscheidung auf die das Gericht ausdrücklich Bezug nehmen muss, die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen enthält, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgeblich waren.
  2. § 105 Abs. 5 FGO erlaubt es dem Gericht nicht, die eigene Begründung vollständig durch die Bezugnahme auf die Begründung der Verwaltungsentscheidung zu ersetzen.
 

Normenkette

FGO § 105 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 5, § 116 Abs. 1 Nr. 5

 

Tatbestand

Aus den Einkommensteuerveranlagungen der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) und ihres Ehemannes für die Jahre 1992 bis 1994 sowie aus festgesetzten Vorauszahlungen zur Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag ergaben sich zum 17. November 1997 Nachzahlungsbeträge. Mit Schreiben vom 17. November 1997 forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ―FA―) die Klägerin ―ohne über den von ihr gestellten Antrag auf Durchführung der getrennten Veranlagung zu entscheiden― zur Zahlung dieser Nachzahlungsbeträge auf. Der gegen dieses Schreiben eingelegte Einspruch wurde vom FA als unzulässig verworfen, weil der Einspruch nicht gegen einen Verwaltungsakt i.S. des § 118 der Abgabenordnung (AO 1977) gerichtet sei. Bei der Zahlungsaufforderung des FA vom 17. November 1997 handele es sich lediglich um die Wiederholung der Zahlungsaufforderungen, die sich bereits aus den jeweiligen Leistungsgeboten in den Einkommensteuerbescheiden für 1992 bis 1994 bzw. der Festsetzung der Vorauszahlungen für IV/96 ergeben. Diese nur klarstellende Maßnahme sei ohne eigenständigen Regelungsgehalt erfolgt, ihr komme daher Verwaltungsaktqualität nicht zu.

Das Finanzgericht (FG) hat die Klage abgewiesen. Die Entscheidungsgründe enthalten nur den einen Satz: "Der Beklagte hat in der Einspruchsentscheidung dargelegt und begründet, dass in der Zahlungsaufforderung kein Verwaltungsakt zu sehen und folglich kein Einspruch und Klageverfahren möglich ist." Die Revision hat das FG nicht zugelassen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt, mit der sie die Verletzung des § 116 Abs. 1 Nr. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) rügt. Das Urteil enthalte nicht nur einen unrichtigen und unvollständigen Tatbestand, sondern es sei auch nicht mit Gründen i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO versehen. Die Entscheidung enthalte weder zu dem Vorbringen der Klägerin Ausführungen, dass die Zahlungsaufforderung insoweit einen Verwaltungsakt darstelle, als mit ihr getilgte Steuerbeträge angefordert worden seien noch dazu, dass die Einspruchsentscheidung unwirksam sei, weil diese, ohne dass eine Verbindung mit dem Einspruchsverfahren des Ehemannes angeordnet worden sei, zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass die Klägerin gemeinschaftlich mit ihrem Ehemann Einspruch eingelegt habe. Eine Stellungnahme, aus welchem Grunde gegen die mit ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung versehene Einspruchsentscheidung eine Klage nicht möglich sein soll, enthalte das Urteil ebenfalls nicht. Das Urteil bezeichne als Streitgegenstand einen Abrechnungsbescheid, tatsächlich sei Gegenstand der Klage die ersatzlose Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 20. Mai 1998 wegen Unwirksamkeit gewesen, was weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen festgestellt worden sei. Aus dem Urteil der Vorinstanz sei nicht einmal ersichtlich, ob das FG die Klage als unzulässig oder als unbegründet abgewiesen habe. Auch insoweit fehle es an der Begründung der Entscheidung der Vorinstanz.

Die Klägerin beantragt, die angefochtene Entscheidung sowie die Einspruchsentscheidung des FA vom 20. Mai 1998 aufzuheben, hilfsweise die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA hat einen Antrag nicht gestellt.

 

Entscheidungsgründe

Die Verfahrensrevision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

Die Klägerin konnte die Revision ohne vorherige Zulassung durch das FG oder auf Beschwerde gegen die Nichtzulassung durch den Bundesfinanzhof ―BFH― (Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs) einlegen. Sie hat Tatsachen vorgetragen, die, ihre Richtigkeit unterstellt, einen wesentlichen Mangel des Verfahrens i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO ergeben. Ein Verfahrensmangel im Sinne der genannten Vorschrift liegt vor, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist.

Das angefochtene Urteil ist mit Gründen nicht versehen. Nach § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO muss ein Urteil die Entscheidungsgründe enthalten. Daran fehlt es nicht nur, wenn die Entscheidung überhaupt nicht begründet ist, sondern auch dann, wenn das FG bei der Begründung seines Urteils einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil vom 29. Juli 1992 II R 14/92, BFHE 169, 1, BStBl II 1992, 1043; Beschluss vom 27. Februar 1996 IV R 41/95, BFH/NV 1996, 623; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 119 Rz. 25, m.w.N.).

Nach § 105 Abs. 5 FGO i.d.F. des FGO-Änderungsgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BStBl I 1993, 90) kann das Gericht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe insoweit absehen, als es der Begründung des Verwaltungsakts oder der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf folgt und dies in seiner Entscheidung feststellt.

Diese Vorschrift dient der Entlastung des FG von der Formulierungs- und Schreibarbeit bei der Urteilsbegründung, wenn deren Zweck ohne Nachteil für den Rechtsschutz des Bürgers auch durch Bezugnahme auf bereits vorliegende Verwaltungsentscheidungen erreicht werden kann (vgl. Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 105 FGO Rz. 48, m.w.N.). Die verfassungskonforme Anwendung dieser Vorschrift setzt aber voraus, dass das Gericht wegen des Anspruchs des Rechtsschutzsuchenden auf rechtliches Gehör gemäß § 96 Abs. 1 Satz 3 FGO zum einen auf dessen wesentliches neues Vorbringen im Klageverfahren einzugehen hat und zum anderen, dass der Verwaltungsakt oder die Einspruchsentscheidung selbst eine ausreichende Begründung zu den wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen, die aus der Sicht des Gerichts für die getroffene Entscheidung maßgeblich waren, enthält. Die Begründungserleichterung des § 105 Abs. 5 FGO darf nicht dazu führen, dass geringere Anforderungen an die Auseinandersetzung des FG mit entscheidungserheblichem Vorbringen des Klägers, d.h. mit den von ihm vorgetragenen selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln, gestellt werden. Die Verweisung auf die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf oder auf die Begründung des Verwaltungsakts ist daher nur dann ausreichend, wenn das Gericht in den Entscheidungsgründen ausdrücklich feststellt, dass es der Verwaltungsentscheidung folgt und wenn die in Bezug genommene Verwaltungsentscheidung Ausführungen zu allen entscheidungserheblichen selbständigen Angriffs- und Verteidigungsmitteln enthält (vgl. BFH-Urteil vom 23. April 1998 IV R 30/97, BFHE 186, 120, BStBl II 1998, 626).

§ 105 Abs. 5 FGO erlaubt dem Gericht im Übrigen nicht, die eigene Begründung vollständig durch eine Bezugnahme auf die Begründung der Verwaltungsentscheidung zu ersetzen; zulässig ist vielmehr nur ein Absehen von einer "weiteren" Darstellung der Entscheidungsgründe (Lange, a.a.O., § 105 FGO Rz. 51).

Diesen Anforderungen entspricht die Begründung des Urteils der Vorinstanz nicht. Es ist schon deshalb verfahrensfehlerhaft i.S. des § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO, weil der einzige, missverständliche Begründungssatz nicht einmal die nach dem Wortlaut des § 105 Abs. 5 FGO notwendige Feststellung enthält, dass das Gericht der Begründung der Verwaltungsentscheidung folgt. Es ist aber auch deshalb unzureichend, weil sich aus dem Vortrag der Klägerin selbständige Angriffs- und Verteidigungsmittel gegen die Einspruchsentscheidung ergeben haben. Die Klägerin hält die Einspruchsentscheidung auch deshalb für unrichtig, weil sie die Zahlungsaufforderung vom 17. November 1997 bestätigt, mit der nach Auffassung der Klägerin bereits getilgte Steueransprüche angefordert worden sind, womit sie geltend macht, dass die angefochtene Zahlungsaufforderung nicht nur die Wiederholung der sich aus den Steuer- und Zinsfestsetzungen ergebenden Leistungsgebote enthält. Damit hat sich die Klägerin im Kern gegen die Auffassung der Verwaltungsentscheidung gewandt, dass der Zahlungsaufforderung vom 17. November 1997 mangels eines eigenständigen Regelungsgehaltes keine Verwaltungsaktqualität zukomme, ohne dass das Gericht zu diesem Angriffsmittel, zu dem auch die Einspruchsentscheidung keine Aussage enthält, Stellung genommen hat. Eine eigene Stellungnahme der Vorinstanz zur Verwaltungsaktqualität des Schreibens des FA vom 17. November 1997 wäre insbesondere auch deshalb notwendig gewesen, weil das Gericht selbst im Widerspruch zu seiner Entscheidung den Klagegegenstand im Rubrum mit "wegen Abrechnungsbescheid" bezeichnet, der zweifellos einen Verwaltungsakt i.S. des § 218 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 darstellen würde. Entscheidungsgründe fehlen auch zu dem Einwand des Klägervertreters, er habe für die Klägerin gesondert Einspruch eingelegt, weil streitig sei, ob die von der Klägerin geleisteten Zahlungen ihr selbst zugerechnet werden müssten oder ―wie geschehen― ihrem Ehemann, der eine eidesstattliche Versicherung abgegeben habe, zugerechnet werden durften. Mit dem Einwand der gegensätzlichen Interessenlage wendet sich die Klägerin, ohne dass das Gericht dies ―im Gegensatz zum FA― erkannt hätte, auch gegen die Verbindung ihres Einspruchs mit dem Einspruch ihres Ehemannes und hat daraus sogar die Unwirksamkeit der Einspruchsentscheidung hergeleitet. Auch zu diesem Vorbringen enthält das vorinstanzliche Urteil keine Aussage.

Neben den ebenfalls zu Recht beanstandeten Mängeln in der Darstellung des Tatbestandes (unrichtige Angabe der Einkunftsarten beider Ehegatten als solcher aus nichtselbständiger Arbeit und fehlende Angabe, um welche Vorauszahlungsschuld es sich gehandelt hat) weist die Revisionsbegründung zutreffend noch darauf hin, dass die Aussage der Vorentscheidung, ein Einspruchsverfahren und Klageverfahren sei nicht möglich, völlig unverständlich sei.

Da das angefochtene Urteil nicht mit Gründen versehen ist, muss es aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden. Eine Sachentscheidung, wie sie die Klägerin mit ihrem weitergehenden Revisionsantrag erstrebt, kann nicht getroffen werden. Der Tatbestand des Urteils enthält keine Feststellungen dazu, ob die mit der Zahlungsaufforderung vom 17. November 1997 angeforderten Steuer- und Zinsbeträge tatsächlich den aus den zugrunde liegenden Bescheiden ersichtlichen Leistungsgeboten entsprechen oder ob ―wie die Klägerin behauptet― mit ihr bereits getilgte oder sonst erloschene Beträge angefordert worden sind, so dass nicht erkennbar ist, ob dem Schreiben vom 17. November 1997 schon deshalb Regelungscharakter und damit Verwaltungsaktqualität zukommt, weil darin auch eine Abrechnung enthalten ist.

Das FG wird über die Sache erneut zu befinden haben. Im weiteren Verfahren kann auch geprüft werden, ob mit der Zahlungsaufforderung von der Klägerin bereits erloschene Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis angefordert worden sind und inwieweit sich daraus Auswirkungen auf die Rechtsnatur des Schreibens vom 17. November 1997 als Verwaltungsakt ergeben.

Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO. Von der Erhebung von Kosten für das Revisionsverfahren ist abzusehen, weil insoweit die Voraussetzungen des § 8 Abs. 1 Satz 1 des Gerichtskostengesetzes vorliegen.

 

Fundstellen

BFH/NV 2001, 909

AO-StB 2001, 63

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