Leitsatz (amtlich)

Bei der Entscheidung über einen Antrag auf Erlaß von Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträgen wegen außerordentlichen Vermögensverfalls können wesentliche Veränderungen in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Abgabepflichtigen zwischen dem Ende eines Erlaßzeitraums und der Entscheidung über den Erlaßantrag berücksichtigt werden. Tz. 3 der VerfVAO 1964 hält sich im Rahmen der allgemeinen Erlaßgrundsätze des § 131 AO a. F. und ist nicht ermessensfehlerhaft.

 

Normenkette

LAG § 203; AO a.F. § 131

 

Tatbestand

Der 1958 verstorbene Abgabepflichtige R, der von seiner Ehefrau, der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin), allein beerbt wurde, war mit einem Anteil an einer OHG zu einem ursprünglichen Vermögensabgabe-Vierteljahrsbetrag von 361,25 DM veranlagt worden. Er hatte ferner nach dem Tode seiner Mutter, die ebenfalls an der OHG beteiligt war, ab 1. Januar 1956 einen Vermögensabgabe-Vierteljahrsbetrag von 612,10 DM übernommen.

Wegen Vermögensverfalls erließ der Beklagte und Revisionskläger (FA) für die Erlaßzeiträume 1953 bis 1958 und 1956 bis 1958 für den Abgabepflichtigen und für die Erlaßzeiträume 1959 bis 1961 und 1962 bis 1964 die Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge der Klägerin zu einem großen Teil. Das Restvermögen der Klägerin bestand zum 31. Dezember 1964 im wesentlichen aus dem hälftigen Anteil an einem Mietwohngrundstück in A, aus einem Wertpapieranteil von 6 370 DM und anteiligen Grundstücksbelastungen von 53 740 DM.

Mit notariellem Vertrag vom 20. Januar 1969 veräußerte die Klägerin zusammen mit der Miteigentümerin das Grundstück zu einem Kaufpreis von X DM.

Von dem Erlös erwarb die Klägerin mit Vertrag vom ... ein Grundstück in B zu ...DM. Sie löste die ab 1. Juli 1969 fälligen Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge ab. Die Vierteljahrsbeträge für 1968 und das erste Halbjahr 1969 hatte sie bezahlt. Mit notariellem Vertrag vom 12. Dezember 1969 übertrug die Klägerin ihr Vermögen auf ihre Kinder, behielt sich aber den Nießbrauch vor.

Am 28. März 1969 stellte die Klägerin den Antrag, ihr die Vermögensabgabe-Vierteljahrsbeträge für den Erlaßzeitraum 1965 bis 1967 zu erlassen. Das FA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 10. Juli 1969 im Hinblick auf die erhebliche Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage durch Verkauf des Grundstücks ab.

Die Beschwerde hatte keinen Erfolg. Auf die Klage hob das FG den Ablehnungsentscheid und die Beschwerdeentscheidung der OFD auf und verpflichtete das FA, erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG über den Erlaßantrag zu befinden. Das FG hielt die Einwendungen der Klägerin, daß es für die Gewährung des Erlasses nur auf den Dreijahreszeitraum (1965 bis 1967) ankomme, für zutreffend. Die Tatsache des Verkaufs des Grundstücks und die dadurch bedingte Besserung ihrer wirtschaftlichen Lage dürfe nicht berücksichtigt werden, weil sie erst nach Ablauf des Erlaßzeitraums eingetreten sei.

Hiergegen richtet sich die Revision des FA, mit der sinngemäß Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage beantragt wird. Das FA ist der Meinung, daß die Anordnungen und Regelungen in der Verwaltungsanordnung über den Erlaß von Vermögensabgabe bei außerordentlichem Vermögensverfall vom 19. November 1963 (VerfVAO 1964) den Rechtsgrundsätzen des § 131 AO untergeordnet seien und daß deshalb eine schematische Anwendung der Regelungen der Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 dann nicht mehr zu vertreten sei, wenn ein Ergebnis entstehe, das ohne Bestehen dieser Vorschriften nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des § 131 AO nicht in Betracht käme. Die von der Vorinstanz getroffene Entscheidung führe zu einer Einschränkung der Tz. 3 der VerfVAO 1964 und stehe einer einheitlichen und gleichmäßigen Handhabung des § 131 AO entgegen. Eine schuldhafte Verzögerung in der Bearbeitung des Erlaßantrags durch die Verwaltungsbehörde sei nicht gegeben. Deshalb sei es gerechtfertigt, unter Beachtung der Tz. 3 der VerfVAO 1964 den Erlaß abzulehnen.

Demgegenüber macht die Klägerin geltend, sie habe ihren Erlaßantrag nicht auf die allgemeinen Grundsätze des § 131 AO, sondern auf die Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 gestützt. Die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sei nicht mehr gewährleistet, wenn man Ereignisse berücksichtige, die erst nach dem Erlaßzeitraum eintreten.

Der BdF hat seinen Beitritt zum Verfahren erklärt und ausgeführt:

Die Regelung in der Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 beruhe auf der Überlegung, der Vermögensverfall sei ein Zeichen dafür, daß die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurückgegangen sei. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, sei den FÄ wegen der Vielzahl der Fälle ein brauchbares, möglichst schematisches Erlaßsystem zur Verfügung gestellt worden, das dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung und damit der steuerlichen Gerechtigkeit Rechnung trage. Liege ein wesentlicher Vermögensverlust am Ende eines Erlaßzeitraumes vor, so sei erfahrungsgemäß ein etwa entsprechender Verlust auch noch im Zeitpunkt der Erlaßentscheidung vorhanden, die meistens etwa 1 1/2 Jahre nach dem Ende des Erlaßzeitraumes ergehe. In diesen Regelfällen führe das schematische Erlaßverfahren zu einem sachgerechten Ergebnis, das sich sowohl mit den Grundsätzen des § 131 AO als auch mit dem Sonderauftrag des Gesetzgebers in § 203 Abs. 5 LAG vereinbaren lasse. Die mechanische Funktion der Regelung der Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 müsse aber in Sonderfällen zurücktreten, in denen, wie im Streitfall, im Zeitpunkt der Erlaßentscheidung bekannt sei, daß sich die Verhältnisse des Abgabepflichtigen wesentlich geändert hätten. Eine nur schematische Entscheidung würde die übergeordnete Vorschrift des § 131 AO verletzen. Der BdF hält weder die Tz. 3 der VerfVAO 1964 noch deren Anwendung im vorliegenden Fall für ermessensfehlerhaft. Die Entscheidung des FG bedeute, daß es sein eigenes Ermessen an die Stelle des dem BdF vorbehaltenen Ermessens setzen wolle, anstatt sich lediglich mit der Prüfung zu begnügen, ob die Regelung in Tz. 3 VerfVAO 1964 ermessensfehlerhaft sei. Die Klägerin hatte zunächst auf mündliche Verhandlung verzichtet, in einem späteren Schriftsatz jedoch den Antrag gestellt, der Senat möge durch Vorbescheid entscheiden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

1. Für die Lastenausgleichsabgaben gelten die Vorschriften der Reichsabgabenordnung und ihrer Nebengesetze über Steuern (§ 203 Abs. 1 LAG). Damit gilt für Lastenausgleichsabgaben auch die Vorschrift des § 131 AO. Nach § 203 Abs. 5 LAG wird die Anwendung des § 131 AO durch besondere Verwaltungsanordnungen des BdF geregelt. Der dem BdF hiermit erteilte Auftrag des Gesetzgebers hat den Sinn, daß der BdF kraft seiner Weisungsbefugnis gegenüber den Lastenausgleichsabgaben verwaltenden Behörden für eine einheitliche und gleichmäßige Handhabung des § 131 AO zu sorgen habe. Die aufgrund des § 203 Abs. 5 LAG erlassene Verwaltungsanordnung haben die Behörden anzuwenden. Dies gilt auch für die im Streitfall anzuwendende Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963.

Der BdF beruft sich in seiner Stellungnahme zur Revision zu Unrecht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 22. Juli 1960 III 391/58 U (BFHE 71, 497, BStBl III 1960, 434). Der erkennende Senat hat die in diesem Urteil vertretene Auffassung nach Ergehen des Urteils des BVerfG vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60 (BStBl I 1961, 63 unter IV) aufgegeben (vgl. Urteil des Senats vom 23. August 1963 III 176/71 S, BFHE 77, 605, BStBl III 1963, 541).

2. Bei einem Erlaß aufgrund dieser Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 handelt es sich somit um eine Ermessensentscheidung der Verwaltung. Diese dürfen Steuergerichte nur darauf überprüfen, ob ein Ermessensfehlgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung vorliegt. Bei Erlaßentscheidungen dieser Art haben die Steuergerichte folglich zu prüfen, ob sich die in der Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 getroffene Regelung innerhalb der Grenzen hält, die das Gesetz der Ausübung des Ermessens gezogen hat. Ist das zu bejahen, muß noch geprüft werden, ob die Verwaltung ihr Ermessen in Übereinstimmung mit diesen Regelungen ohne Ermessensverstoß ausgeübt hat (vgl. Urteil des BFH vom 1. Februar 1963 III 243/60 U, BFHE 76, 663, BStBl III 1963, 242).

In der Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 wird - wie schon vorher in der Verwaltungsanordnung über den Erlaß von Vermögensabgabe und Soforthilfeabgabe aus Billigkeitsgründen vom 19. Juli 1954 - als Voraussetzung für einen Erlaß auf eine ungünstige Vermögensentwicklung abgestellt, die in bestimmten Zeitabständen geprüft werden soll. An ihr soll die steuerliche Leistungsfähigkeit oder Leistungsunfähigkeit gemessen werden. Im Hinblick auf die lange Laufzeit der Vermögensabgabe hat der erkennende Senat diese Regelung, die für die abschnittsweise geprüften Zeiträume zu einer endgültigen Bereinigung der Zahlungspflicht führt, für eine sachgerechte Anwendung der Grundsätze des § 131 AO gehalten.

Der erkennende Senat hat dabei insbesondere die Auffassung vertreten, daß es mit § 131 AO vereinbar ist, wenn die Leistungsfähigkeit eines Abgabenschuldners aufgrund des Vergleichs seines Vermögens vom Währungsstichtag mit dem am maßgebenden Stichtag vorhandenen Restvermögen beurteilt wird. Mit Rücksicht auf die lange Laufzeit der Vermögensabgabe einerseits und die Möglichkeit einer Änderung der Vermögenslage andererseits erscheint es dem Senat auch gerechtfertigt, diesen Vermögensvergleich nicht für jedes Jahr durchzuführen, sondern auf einen Erlaßzeitraum von drei Jahren abzustellen. Es widerspricht nach Auffassung des Senats einer sachgerechten Ermessensausübung auch nicht, wenn aus der Tatsache, daß zu Beginn und am Ende des dreijährigen Erlaßzeitraums ein Vermögensverfall vorlag, auf einen Vermögensverfall während des ganzen Erlaßzeitraums geschlossen und der Erlaß entsprechend der Vermögenslage vom Ende des Erlaßzeitraums gewährt wird. Der Senat hat jedoch schon im Urteil vom 17. Oktober 1969 III 240/65 (BFHE 98, 287, BStBl II 1970, 402) zum Ausdruck gebracht, daß es § 131 AO gebietet, nicht nur die Verhältnisse während des Erlaßzeitraums, sondern auch die im Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlaßantrag und sogar die voraussichtliche künftige Entwicklung mit zu berücksichtigen. Damit erweist sich die in Tz. 3 der VerfVAO 1964 getroffene Regelung, bei der Entscheidung die Verhältnisse des Abgabepflichtigen im Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlaßantrag - hier der Beschwerdeentscheidung der OFD - mit zu berücksichtigen, als ermessensgerecht. Hierfür ist u. a. folgende Überlegung maßgebend:

Die Vermögensabgabe ist eine zwar am Objekt als Bemessungsgrundlage orientierte, aber in ihrer Ausgestaltung rein persönliche Abgabeschuld, die kraft Gesetzes (§ 20 LAG) in voller Höhe mit dem Währungsstichtag als entstanden gilt. Der rechtliche Bestand dieser in Vierteljahrsbeträgen zu entrichtenden Abgabeschuld ist grundsätzlich unabhängig von dem Schicksal des der Vermögensabgabe unterliegenden Vermögens, das es nach dem Währungsstichtag erfährt. Selbst der Verlust des ganzen Ausgangsvermögens vermag grundsätzlich nichts am Bestand der Abgabeschuld zu ändern, weil sie eine persönliche Abgabeschuld ist; er kann vielmehr nur Anlaß zu Billigkeitsmaßnahmen sein. Aus diesem Grunde hat es z. B. der Senat in den Entscheidungen vom 7. Februar 1964 III 408/60 (HFR 1964, 312), vom 26. November 1964 III 230/62 (HFR 1965, 494 f.) grundsätzlich gebilligt, daß beim Erlaß wegen Vermögensverfalls das nach dem Währungsstichtag erworbene Vermögen mit zu berücksichtigen ist. Zu Recht weist insoweit der BdF darauf hin, daß die in der Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 getroffene Regelung nur unter den allgemeinen Grundsätzen des § 131 AO betrachtet und angewandt werden kann. Auch dies entspricht der Rechtsprechung des Senats, wonach in jedem Falle, insbesondere dann, wenn ein Erlaß nach der Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 nicht in Betracht kommt, immer noch die Frage zu prüfen ist, ob etwa aus allgemeinen Billigkeitsgründen gemäß § 131 AO ein Erlaß zu gewähren ist. Bei der Frage, ob ein Erlaß aus allgemeinen Gründen nach § 131 AO in Betracht kommt, ist aber nach einhelliger Rechtsprechung der Zeitpunkt der Entscheidung über den Erlaßantrag durch die Verwaltungsbehörde, im Streitfall durch die OFD, maßgebend (vgl. BFH-Urteil vom 26. Juli 1972 I R 158/71, BFHE 106, 489, BStBl II 1972, 919). Würde die Verwaltungsanordnung vom 19. November 1963 keine Regelung i. S. der Tz. 3 enthalten, so würde sie, worauf der BdF zu Recht hinweist, gegen das Gesetz verstoßen, weil es eine andere Rechtsgrundlage als § 131 AO insoweit nicht gibt.

Der Hinweis der Klägerin, daß bei dieser Rechtsauffassung der Erlaß von der Zufälligkeit abhängen könne, zu welchem Zeitpunkt die Verwaltung über den Erlaßantrag entscheidet, kann gegenüber der oben geschilderten Rechtslage nicht ausschlaggebend sein. Denn dabei handelt es sich um eine Zufälligkeit, die jeder Billigkeitsmaßnahme anhaftet. Der Senat braucht auch nicht zu entscheiden, ob etwa eine zeitlich verzögerte Entscheidung auf Verschulden der Verwaltung beruht, da dies im Streitfall nach Aktenlage nicht zutrifft; vielmehr hatte die Klägerin selbst ihren Antrag erst Anfang 1969 beim FA vollständig eingereicht. Zu diesem Zeitpunkt war aber das Grundstück bereits veräußert.

3. Die Verwaltung hat Tz. 3 der VerfVAO 1964 im Streitfall auch zutreffend angewendet. Die Klägerin kann nicht mit ihrem Vorbringen gehört werden, das FG habe es unterlassen zu prüfen, ob sich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Schuldnerin tatsächlich verringert habe. Sie ist der Meinung, daß sich ihre laufenden Einkünfte durch die Veräußerung des Grundstücks nicht geändert hätten. Hierzu ist jedoch festzustellen, daß sie aus dem nicht unbeträchtlichen Anteil an dem Verkaufserlös anderen Grundbesitz erworben und später ihr Vermögen im Wege der vorweggenommenen Erfolge auf ihre Kinder übertragen hat und sich nur den Nießbrauch an den Werten vorbehielt. Diese Maßnahmen der Klägerin können nicht dazu führen, ihr nunmehr einen Erlaß zu gewähren.

Das FG ist von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage wird abgewiesen, weil Tz. 3 der VerfVAO 1964 sich im Rahmen der Ermächtigung des § 203 LAG hält und das FA Tz. 3 der VerfVAO 1964 zutreffend angewandt hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72702

BStBl II 1978, 283

BFHE 1978, 117

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