Leitsatz (amtlich)

Zeichnet ein innerhalb bestimmter Grenzen zur abschließenden Zeichnung von Veranlagungsverfügungen befugter Sachbearbeiter unter Überschreitung seines Zeichnungsrechts eine Veranlagungsverfügung an Stelle des Sachgebietsleiters bewußt abschließend, dann ist die Veranlagung jedenfalls dann nicht nichtig, wenn die Kompetenzüberschreitung des Sachbearbeiters nicht schwerwiegend ist. Ob das der Fall ist, muß nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden.

 

Normenkette

AO § 210 Abs. 1, § 222 Abs. 1 Nr. 1

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Ehemann, Kläger) beantragte im April 1972 bei einer Bank wegen im Jahre 1971 (Streitjahr) erbrachter Sparleistungen auf einen im Jahre 1971 abgeschlossenen Sparvertrag die Gewährung einer Spar-Prämie, die das frühere Finanzamt (FA) B, an dessen Stelle das FA C (Beklagter und Revisionskläger) getreten ist, mit Verfügung vom 20. Oktober 1972 gewährte. In der im Mai 1972 beim FA B eingegangenen Einkommensteuererklärung für das Jahr 1971 machten der Kläger und seine Ehefrau Einzahlungen auf zwei Bausparverträge als Sonderausgaben geltend. In der Anlage A zu dieser Einkommensteuererklärung haben der Kläger und seine Ehefrau auf den Spar-Prämienantrag hingewiesen.

Das FA veranlagte den Kläger und seine Ehefrau im Dezember 1972 zur Einkommensteuer 1971; dabei berücksichtigte es die geltend gemachten Bausparbeiträge als Sonderausgaben. Der Eingabebogen für die unter Einsatz elektronischer Datenverarbeitungsanlagen durchgeführte Veranlagung ist lediglich von dem zuständigen Sachbearbeiter, nicht jedoch von dem Sachgebietsleiter abgezeichnet. Der Sachbearbeiter hatte an die in dem Eingabebogen für das Namenszeichen des Sachgebietsleiters vorgesehene Stelle das Zeichen ./. gesetzt. Auch eine später gefertigte Verfügung zur Berichtigung der Anrechnung der Lohnsteuerabzugsbeträge ist lediglich von dem Sachbearbeiter gezeichnet.

Nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften konnten die Sachbearbeiter Veranlagungsverfügungen abschließend zeichnen, wenn der Gesamtbetrag der Einkünfte 12 000 DM nicht überstieg oder wenn der Gesamtbetrag der Einkünfte 50 000 DM nicht überstieg und die darin enthaltenen Einkünfte, von denen keine Steuerabzugsbeträge einbehalten worden waren, nicht höher waren als 12 000 DM. Bei Einkommensteuerveranlagungen unter Einsatz elektronischer Datenverarbeitungsanlagen kam es für diese Grenzen auf die Angaben in den Steuererklärungen an. Der Kläger und seine Ehefrau hatten als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit Einnahmen in Höhe von 50 649 DM abzüglich des Werbungskostenpauschbetrages und als Einkünfte aus Kapitalvermögen Einnahmen in Höhe von 2 871 DM, von denen Kapitalertragsteuer nicht einbehalten worden war, abzüglich des Werbungskostenpauschbetrages erklärt.

Auf eine Mitteilung der Spar-Prämienstelle des FA an die für die Einkommensteuerveranlagung des Klägers und seiner Ehefrau zuständige Veranlagungsstelle des FA, daß der Kläger für das Streitjahr eine Spar-Prämie beantragt und erhalten habe, berichtigte das FA die inzwischen unanfechtbar gewordene Einkommensteuerveranlagung 1971 mit dem angefochtenen Bescheid nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO). Es ließ nunmehr wegen des sogenannten Kumulierungsverbotes des § 10 Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1971 die als Sonderausgaben geltend gemachten Bausparleistungen außer Ansatz.

Den Einspruch des Klägers wies das FA mit der Begründung zurück, die ursprüngliche Einkommensteuerfestsetzung sei nicht wirksam gewesen, weil der Sachgebietsleiter den Eingabebogen nicht abschließend gezeichnet habe.

Die Vorinstanz gab der Klage statt, weil der ursprüngliche Einkommensteuerbescheid nicht nichtig gewesen sei, selbst wenn der Sachbearbeiter zu dessen abschließender Zeichnung nicht befugt gewesen sein sollte. Seine Änderung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO sei unzulässig, weil dem FA der Antrag auf Spar-Prämie wegen des entsprechenden Hinweises in der Einkommensteuererklärung bei der ursprünglichen Einkommensteuerveranlagung bekanntgewesen sei.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 91 AO mit folgender Begründung: Wesentlich für einen Steuerbescheid sei die verwaltungsinterne Entschließung über die Steuerfestsetzung. Diese werde mit der abschließenden Zeichnung durch den zuständigen Bearbeiter bewirkt. Fehle es, wie im Streitfall, an der Willensbildung des für die abschließende Zeichnung zuständigen Beamten, dann liege nicht nur ein nichtiger Verwaltungsakt vor, sondern es handele sich um einen Nichtakt. Auch bei der Beurteilung, welche Tatsachen i. S. von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO neu seien, stelle der Bundesfinanzhof (BFH) auf die Kenntnis des zuständigen Beamten ab. Der Kläger könne einen materiell-rechtlich nicht gerechtfertigten Steuervorteil nicht unter Berufung auf Vorschriften des Verwaltungsverfahrens erhalten; im Zweifel habe das materielle Recht gegenüber dem Verfahrensrecht den Vorrang.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

Der angefochtene Steuerbescheid durfte nicht ergehen. Die ursprüngliche Einkommensteuerveranlagung § 1971 war ein rechtswirksamer Steuerverwaltungsakt (1); die Voraussetzungen für seine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO fehlen (2).

1. Steuerbescheid i. S. der Vorschriften der Reichsabgabenordnung ist die bei den Akten des FA verbleibende Urschrift, der Berechnungsbogen (vgl. zuletzt BFH-Urteile vom 31. Juli 1975 V R 121/73, BFHE 116, 462, BStBl II 1975, 868, und vom 25. Mai 1976 VIII R 66/74, BFHE 119, 36, BStBl II 1976, 606, mit weiteren Nachweisen). Die tatsächliche Bekanntgabe des in den Akten befindlichen Bescheides an den Betroffenen ist für die Entstehung des Verwaltungsaktes nicht erforderlich; sie ist nur Wirksamkeits voraussetzung (BFH-Urteil VIII R 66/74).

Der Eingabebogen für eine Steuerfestsetzung unter Einsatz elektronischer Datenverarbeitungsanlagen ist mit dem Berechnungsbogen bei manueller Steuerfestsetzung zwar nicht identisch, weil der Eingabebogen die Steuerfestsetzung selbst nicht enthält (vgl. BFH-Urteil V R 121/73). Wie der Berechnungsbogen dokumentiert jedoch der Eingabebogen den Willen des ihn abschließend zeichnenden Beamten, die sich aus den eingegebenen Besteuerungsgrundlagen ergebende Steuer festzusetzen. Damit wird zwar die festgesetzte Steuer im Eingabebogen nicht als Zahl ausgewiesen, wohl aber dadurch nach Art und Höhe bestimmt, daß sie entsprechend der Zuordnung der Besteuerungsgrundlagen zu bestimmten Kennziffern im Eingabebogen von der Maschine nach dem ihr eingegebenen Programm errechnet wird.

Der im Streitfall vom Sachbearbeiter abschließend gezeichnete Eingabebogen war weder ein Nichtakt noch ein nichtiger Verwaltungsakt.

a) Nichtakte sind Handlungen, die u. a. deshalb einer Behörde nicht zugerechnet werden können, weil sie von einer Person ausgehen, die unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu behördlichem Handeln befugt war (vgl. hierzu Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9. Aufl., München 1974, § 51 II S. 427 f.).

Im Streitfall war der Sachbearbeiter als Angehöriger des FA grundsätzlich - wenngleich nur innerhalb bestimmter Grenzen - zum Erlaß von Einkommensteuerbescheiden befugt. Er hat durch das genannte Auslassungszeichen intern eindeutig zum Ausdruck gebracht, daß er den Eingabebogen abschließend zeichnen wolle. Ein solcher vom Sachbearbeiter unter Überschreitung seines amtsinternen Zeichnungsrechts verfügter Steuerbescheid kann nicht dem Handeln einer zum Erlaß von Verwaltungsakten allgemein nicht befugten Person gleichgestellt werden. Diese Auffassung entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom 18. April 1961 I 79/60 U, BFHE 73, 206, BStBl III 1961, 342). In den Urteilen vom 12. Dezember 1963 IV 171/62 S (BFHE 78, 567, BStBl III 1964, 215), vom 11. November 1964 I 330/62 U (BFHE 81, 198, BStBl III 1965, 70), vom 6. Juli 1967 IV 274/62 (BFHE 89, 460, BStBl III 1967, 682) und vom 26. Juli 1974 III R 94/73 (BFHE 113, 164, BStBl II 1974, 725) hat der BFH zwar die Entstehung eines Steuerbescheides von seiner Abzeichnung und seinem Abwurf durch den zuständigen Beamten abhängig gemacht. Mit diesen Urteilen sollte jedoch nur für den Regelfall eines fehlerfreien Verwaltungsverfahrens klargestellt werden, daß Steuerbescheid nicht die dem Steuerpflichtigen zugehende Ausfertigung, sondern der bei den Akten des FA verbleibende Berechnungsbogen ist. Wenn der BFH in seinem Urteil vom 28. März 1963 V 106/60 (Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 91, Rechtsspruch 17) und in seinem nicht veröffentlichten Urteil vom 27. April 1977 II R 38/68, dem das Urteil des Finanzgerichts (FG) Düsseldorf vom 21. Dezember 1967 III 117/66 Erb (Entscheidungen der Finanzgerichte 1968 S. 324) zugrunde liegt, die Entstehung eines Steuerbescheides von der Willensäußerung des zuständigen Beamten abhängig gemacht hat, handelte es sich um Sachverhalte, die mit dem Streitfall nicht vergleichbar sind. In beiden Fällen fehlte - anders als im Streitfall - eine als abschließend gedachte Zeichnung des Sachbearbeiters. Schon aus diesem Grund waren auf Außenwirkung gerichtete Regelungen nicht zustande gekommen.

Im Streitfall war der vom Sachbearbeiter gezeichnete Eingabebogen nicht lediglich ein Entwurf. Durch die Zeichnung sollten vielmehr Rechtswirkungen nach außen entfaltet werden. Denn die abschließende Zeichnung durch den zuständigen Sachgebietsleiter unterblieb nicht, obwohl sie der Sachbearbeiter für notwendig angesehen hatte, sondern gerade deshalb, weil er sie für entbehrlich gehalten und sich bei der abschließenden Zeichnung an die Stelle des Sachgebietsleiters gesetzt hatte. Dies ergibt sich daraus, daß der Sachbearbeiter an die für das Namenszeichen des Sachgebietsleiters vorgesehene Stelle das Auslassungszeichen setzte.

b) Der ursprüngliche Einkommensteuerbescheid war auch nicht nichtig. Nichtig sind Steuerbescheide nur bei besonders schweren (schwerwiegenden) und für jedermann ohne Schwierigkeiten erkennbaren (offenkundigen) Mängeln (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 22. Oktober 1974 VI R 210/71, BFHE 113, 505, BStBl II 1975, 252).

Überschreitet ein Sachbearbeiter seine Befugnis zur abschließenden Zeichnung, so weist ein Steuerbescheid im allgemeinen jedenfalls dann keinen zur Nichtigkeit führenden Mangel auf, wenn der Sachbearbeiter zur Mitwirkung an dem Steuerbescheid befugt und seine Kompetenzüberschreitung, wie im Streitfall, nicht schwerwiegend und offenkundig ist. Da die sachliche Unzuständigkeit einer "Stelle" in der Regel nicht zur Unwirksamkeit oder Nichtigkeit steuerrechtlicher Verwaltungsakte führt (§§ 79 und 96 Abs. 1 Nr. 1 AO), hat schon der Reichsfinanzhof (RFH) die Auffassung vertreten, daß unter Verletzung rein amtsinterner Zuständigkeitsregelungen ergangene Verwaltungsakte nicht nichtig sind (vgl. Urteil vom 4. November 1930 II A 566/30, RFHE 27, 256, RStBl 1931, 15 - Leitsatz -). Das gilt insbesondere dann, wenn die das Zeichnungsrecht des Sachbearbeiters begrenzenden Bezugsgrößen nur in einem solchen Maße überschritten sind, daß ein Irrtum des Sachbearbeiters über sein Zeichnungsrecht bei objektiver Betrachtung möglich war.

Im Streitfall hat der Sachbearbeiter seine Zuständigkeit nur geringfügig überschritten. Der Einkommensteuerbescheid war schon aus diesem Grunde nicht nichtig.

Auf die Entscheidung der Frage, ob die Überschreitung auch offenkundig war, kommt es nicht mehr an.

2. Die ursprüngliche Einkommensteuerveranlagung konnte nicht nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigt werden. Die Tatsache, daß der Kläger für die Aufwendungen im Streitjahr bereits vor Abgabe der Einkommensteuererklärung eine Prämie nach dem Spar-Prämiengesetz beantragt hatte, schloß die Berücksichtigung der Bausparkassenbeiträge als Sonderausgaben bei der Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr an sich aus (§ 10 Abs. 4 Satz 1, § 52 Abs. 16 Nr. 2 EStG). Dieses Kumulierungsverbot ist vom Gesetzgeber bewußt formal gestaltet worden und allein davon abhängig, ob der Antrag auf Sonderausgabenabzug oder der Antrag auf Gewährung der Spar-Prämie zuerst gestellt worden ist (vgl. Urteil vom 9. Juli 1976 VI R 221/72, BFHE 119, 278, BStBl II 1976, 674). Es war für das FA jedoch keine neue Tatsache i. S. des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO, daß der Kläger eine Prämie nach dem Spar-Prämiengesetz vor Abgabe der Einkommensteuererklärung beantragt hatte. Der Kläger hatte hierauf in der Anlage A zur Einkommensteuererklärung 1971 hingewiesen. Maßgebend ist im Streitfall auch insoweit die Kenntnis des Sachbearbeiters, weil das FA sich wie dargelegt sein Handeln als wirksam zurechnen lassen muß.

§ 222 Abs. 1 Nr. 1 AO regelt das Verhältnis von Rechtssicherheit zur materiellen Steuergerechtigkeit in Berichtigungsfällen abschließend (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 30. Januar 1969 V 149/64, BFHE 95, 236, BStBl II 1969, 409). Besondere Umstände, die mit Rücksicht auf Treu und Glauben von dieser Vorschrift abweichende rechtliche Folgerungen nahelegen, läßt der Streitfall nicht erkennen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72835

BStBl II 1978, 575

BFHE 1979, 347

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