Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Werden sowohl neue Tatsachen bekannt, die eine höhere Veranlagung zur Folge haben könnten, als auch solche neue Tatsachen, die zu einer niedrigeren Veranlagung führen könnten, so ist für jede dieser beiden Gruppen von Tatsachen gesondert zu prüfen, ob sie "von einigem Gewicht" sind.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nrn. 1-2

 

Tatbestand

Die Steuerpflichtige ist eine Textilfabrik. Sie wurde für 1954 bei einem Gesamtumsatz von ....... DM rechtskräftig zu ..... DM Umsatzsteuer veranlagt. Bei einer im Dezember 1957 und Januar 1958 stattgefundenen Betriebsprüfung wurde festgestellt, daß die Steuerpflichtige

1. zu wenig versteuert hatte: a) .... DM Erlöse aus Anlageverkäufen (davon 4 v. H. = .... DM Umsatzsteuer) b) .... DM Einnahmen aus privaten Ferngesprächen (davon 4 v. H. = .... DM Umsatzsteuer) 2. zu viel versteuert hatte: a) .... DM Schadensersatzforderungen (davon 4 v. H. = .... DM Umsatzsteuer) b) .... DM als zusatzsteuerpflichtige, tatsächlich aber nicht zusatzsteuerpflichtige Entgelte aus Großhandelslieferungen (davon 3 v. H. = .... DM Umsatzsteuer).Eine Berichtigung auf Grund der Feststellungen zu 1. gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO hätte demnach eine Erhöhung der Umsatzsteuer um .... DM, eine Berichtigung auf Grund der Feststellungen zu 2. eine Herabsetzung der Umsatzsteuer um .... DM ergeben.

Den Antrag der Steuerpflichtigen, den Umsatzsteuerbescheid für 1954 wegen Feststellung neuer Tatsachen gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO zu berichtigen und bei der Neuaufrollung des Falles die Zusatzsteuern von insgesamt .... DM (.... DM Spinnweber- Zusatzsteuer und ... DM Hersteller-Zusatzsteuer) im Hinblick auf das Urteil des Bundesfinanzhofs V 226/57 S vom 22. Oktober 1959 (BStBl 1959 III S. 441, Slg. Bd. 69 S. 486) und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2 BvL 18/56 vom 5. März 1958 (BGBl 1958 I S. 154) abzusetzen, lehnte das Finanzamt durch Bescheid vom ... mit der Begründung ab, nach Ausgleich der Mehr- und Mindersteuerbeträge auf Grund der festgestellten neuen Tatsachen würde sich die Umsatzsteuer um nur .... DM, das sind im Verhältnis zur rechtskräftigen Umsatzsteuerschuld rund ... v. H., verringern; da nach der Rechtsprechung nur Tatsachen von einigem Gewicht eine änderung des Steuerbescheides rechtfertigten und bei der Frage, ob solche Tatsachen vorliegen, kein absoluter, sondern ein relativer Maßstab anzulegen sei, könne im Streitfalle eine Berichtigungsveranlagung nicht stattfinden.

Das Finanzgericht ist dem Finanzamt in zwei Punkten nicht gefolgt. Es vertritt die Auffassung, die Berichtigungen nach Ziff. 1 und Ziff. 2 des § 222 Abs. 1 AO seien je für sich vorzunehmen; zur Prüfung der Frage, ob der Betriebsprüfer Tatsachen von einigem Gewicht festgestellt habe, dürfe eine Saldierung von Minderbeträgen nach Ziff. 2 mit Mehrbeträgen nach Ziff. 1 daher nicht stattfinden. Außerdem müsse bei der Frage des Gewichts der neuen Tatsachen der an sich brauchbare relative Maßstab durch absolute Mindest- und Höchstbeträge abgegrenzt werden. Nach überzeugung der Kammer sei ein Betrag von rund 1.200 DM von solchem absolutem Gewicht, daß demgegenüber die Relation zum Gesamtsteuerbetrag zurücktreten müsse. Die Voraussetzungen einer Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO seien somit erfüllt. Ob bei einer Berichtigungsveranlagung die Zusatzsteuer wegfalle, sei im vorliegenden Rechtsstreit nicht zu entscheiden. Zur Vornahme dieser Entscheidung wies das Finanzgericht die Sache an das Finanzamt zurück.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Rb. des Vorstehers des Finanzamts ist die Vorentscheidung aufzuheben.

Im Verlaufe des Rechtsbeschwerdeverfahrens erging der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts 2 BvF 1/60 vom 16. Mai 1961 (BGBl 1961 I S. 908), der - im Gegensatze zum oben angegebenen Urteil des Bundesfinanzhofs vom 22. Oktober 1959 - § 59 Abs. 1 UStDB als mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar erklärte. Das Finanzamt hat mithin, worüber sich die Parteien einig sind, die Spinnweber- Zusatzsteuer von .... DM zu Recht erhoben. Streitig ist daher nur noch, ob die bei der Betriebsprüfung neu festgestellten Tatsachen zu einer Berichtigungsveranlagung führen und - bejahendenfalls - ob bei der Neuaufrollung des Falles die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. März 1958 verfassungswidrige Hersteller-Zusatzsteuer in Höhe von .... DM in Wegfall kommt.

Nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO findet eine Berichtigungsveranlagung statt, wenn durch eine Betriebsprüfung vor dem Ablaufe der Verjährungsfrist neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die eine niedrigere Veranlagung rechtfertigen. Nach ständiger Rechtsprechung (vgl. z. B. Urteil des Reichsfinanzhofs I A 19/30 vom 7. März 1930, RStBl 1930 S. 444; Urteile des Bundesfinanzhofs IV 515/56 U vom 5. Dezember 1957, BStBl 1958 III S. 52, Slg. Bd. 66 S. 132; I 176/57 U vom 18. November 1958, BStBl 1959 III S. 52, Slg. Bd. 68 S. 137), die der Senat mit dem Urteil V 180/59 U vom 8. Februar 1962 (BStBl 1962 III S. 225, Slg. Bd. 74 S. 610) bestätigt hat, müssen die neuen Tatsachen, wenn sie zu einer Berichtigungsveranlagung führen sollen, "von einigem Gewicht" sein. Im letztgenannten Urteil hat sich der Senat auch mit der Frage auseinandergesetzt, wann eine Tatsache von einigem Gewicht vorliegt. Er ist der Auffassung, daß sie - für Berichtigungen zuungunsten (§ 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO) wie auch zugunsten des Steuerpflichtigen (§ 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO) - am gerechtesten nach einem Maßstabe beurteilt wird, der die relative mit der absoluten Abgrenzungsweise dergestalt verbindet, daß Steuermehr- bzw. Steuerminderbeträge bis zu einer unteren absoluten Grenze unberücksichtigt bleiben, Steuermehr- bzw. Steuerminderbeträge von einer oberen absoluten Grenze an immer als gewichtig angesehen werden und bei dazwischenliegenden Steuermehr - bzw. Steuerminderbeträgen entscheidend ist, ob im Einzelfall der Mehr- (Minder-) betrag im Verhältnis zur bisherigen Steuerschuld einen bestimmten Hundertsatz übersteigt. Der Senat hält für das Gebiet der Umsatzsteuer im Regelfalle als untere absolute Grenze einen Betrag von 100 DM, als obere absolute Grenze einen Betrag von 1.000 DM und als relativen Maßstab einen Hundertsatz von 10 für angemessen. Wegen der Einzelheiten wird auf das oben angeführte Urteil V 180/59 U verwiesen.

Im Streitfalle ergibt sich die weitere Frage, wie zu verfahren ist, wenn neben neuen Tatsachen, die zu einer niedrigeren Veranlagung führen könnten (Ziff. 2 des § 222 Abs. 1 AO - hier ... DM), neue Tatsachen festgestellt worden sind, die eine höhere Veranlagung zur Folge haben könnten (Ziff. 1 des § 222 Abs. 1 AO - hier .... DM).

Nach Ansicht des Senats darf in solchen Fällen zur Prüfung, ob die Tatsachen "von einigem Gewicht" sind, eine Saldierung der Minder- und Mehrbeträge nicht stattfinden. Schon der Reichsfinanzhof (Urteil I A 183/33 vom 27. September 1933, RStBl 1933 S. 1158, Slg. Bd. 34 S. 189) hat die Saldierung abgelehnt. Die Unzulässigkeit der Saldierung ergibt sich daraus, daß die Voraussetzungen für eine höhere und eine niedrigere Veranlagung in zwei Vorschriften, nämlich in Ziffer 1 und Ziffer 2 des § 222 Abs. 1 AO, aufgeführt sind und daß sich die beiden Vorschriften inhaltlich insofern voneinander unterscheiden, als für eine Berichtigungsveranlagung nach Ziffer 1 jegliches Bekanntwerden neuer Tatsachen oder Beweismittel genügt, während nach Ziffer 2 die neuen Tatsachen oder Beweismittel "durch eine Betriebsprüfung" bekanntgeworden sein müssen. Der Senat sieht keine Handhabe, unterschiedlich gelagerte Tatsachen oder Tatsachengruppen bzw. die sich daraus ergebenden Steuermehr- und Steuerminderbeträge miteinander zu verrechnen. Werden - wie im Streitfalle - sowohl neue Tatsachen, die eine höhere Veranlagung, als auch solche neue Tatsachen bekannt, die eine niedrigere Veranlagung zur Folge haben könnten, so ist für jede dieser beiden Gruppen vielmehr gesondert zu prüfen, ob sie "von einigem Gewicht" sind, mit anderen Worten: die oben dargelegten Grenzen sind auf die nach § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO sich ergebenden Steuermehrbeträge und die nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO sich ergebenden Steuerminderbeträge getrennt anzuwenden. Da im Streitfalle eine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Ziff. 2 AO auf Grund der Feststellungen des Betriebsprüfers zu einer Herabsetzung der Umsatzsteuer um .... DM, also um mehr als 1.000 DM, führen würde, hat das Finanzgericht das Begehren der Steuerpflichtigen auf Durchführung einer Berichtigungsveranlagung für den Veranlagungszeitraum 1954 zu Recht für begründet erachtet.

Die Vorentscheidung ist trotzdem aufzuheben, weil das Verfahren vor dem Finanzgericht an einem wesentlichen Mangel leidet. Das Finanzgericht hätte nämlich, nachdem es festgestellt hatte, daß die Umsatzsteuerveranlagung für 1954 zu berichtigen ist, diese Berichtigung selbst durchführen müssen und die Sache nicht zwecks Vornahme der Berichtigung an das Finanzamt zurückverweisen dürfen. Nach § 284 Abs. 1 AO hat das Finanzgericht grundsätzlich selbst in der Sache zu entscheiden. Eine Zurückverweisung ist nur aus besonderen Gründen, insbesondere zur Ersparung von Kosten, Arbeit und Zeit, zulässig. Solche besonderen Gründe lagen im Streitfalle nicht vor. Da die Finanzgerichte die Befugnisse haben, die den Finanzämtern im Besteuerungsverfahren gegeben sind (§ 244 Satz 1 AO), bestand für das Finanzgericht kein Grund, die Berichtigung der Umsatzsteuerveranlagung für 1954 nicht selbst vorzunehmen. Die Sache war daher an das Finanzgericht zurückzuverweisen, damit es die Berichtigung nachholt. Dabei ist im Wege der Wiederaufrollung die Nichtigkeit der Hersteller- Zusatzsteuer (§ 58 UStDB) zu berücksichtigen.

 

Fundstellen

BStBl III 1963, 166

BFHE 1963, 457

BFHE 76, 457

StRK, AO:222 R 137

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