Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff und Zurechnung ,,groben Verschuldens" nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

Zum Begriff des groben Verschuldens i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 beim Steuerpflichtigen und bei denjenigen Personen, derer er sich zur Erstellung seiner Einkommensteuererklärung bedient: im Betrieb beschäftigte Mutter, Steuerberater und dessen Angestellte. Zur Frage, ob der Steuerpflichtige sich ein grobes Verschulden dieser Personen zurechnen lassen muß. Anforderungen an die Sorgfaltspflichten des Steuerberaters und seiner Angestellten bei der Erstellung einer Einkommensteuererklärung, in der die Angabe vermögenswirksamer Leistungen nach dem 3. VermBG versäumt worden war.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betreibt eine Bäckerei und Konditorei in X. Für das Streitjahr 1974 hatte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) am 1. Oktober 1976 einen nach § 100 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) beschränkt vorläufigen Einkommensteuerbescheid erlassen, den er mit Bescheid vom 7. Juni 1977 für endgültig erklärte. Gegen beide Bescheide legte der Kläger keinen Einspruch ein. Bei Aufstellung des Jahresabschlusses 1976 stellte der Steuerberater des Klägers fest, daß vermögenswirksame Leistungen in Höhe von 4 888 DM, die der Kläger im Streitjahr an seine Arbeitnehmer erbracht hatte, bei der Einkommensteuerveranlagung 1974 nicht berücksichtigt worden waren.

Mit Schreiben vom 21. November 1977 beantragte der Kläger beim FA, die vermögenswirksamen Leistungen in Höhe von 30 % (= 1 466,40 DM) nach § 14 des Dritten Vermögensbildungsgesetzes in der Fassung vom 27. Juni 1970 - 3. VermBG - (BGBl I 1970, 930, BStBl I 1970, 806) nachträglich zu berücksichtigen. Das FA lehnte die Änderung des Einkommensteuerbescheids 1974 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) mit der Begründung ab, den Kläger treffe ein grobes Verschulden daran, daß es erst nach Bestandskraft der Einkommensteuerveranlagung von den vermögenswirksamen Leistungen Kenntnis erlangt habe.

Der Einspruch des Klägers blieb erfolglos.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht (FG) wurde der Prozeßbevollmächtigte zum Umfang seiner Tätigkeit für den Kläger im Streitjahr und zu seiner Büroorganisation befragt. Er erklärte, daß er für 1974 nur den Auftrag gehabt hätte, den Jahresabschluß zu erstellen und die Steuererklärungen anzufertigen. Die Buchführung einschließlich der Lohnbuchhaltung sei damals noch der Mutter des Klägers übertragen gewesen. Seine damalige Angestellte habe - wie stets in vergleichbaren Fällen - aufgrund des Arbeitsanweisungsbogens mit Sicherheit wegen der vermögenswirksamen Leistungen bei der Mutter des Klägers nachgefragt. Soweit seine Angestellten Steuererklärungen anfertigten, würden diese ebenso wie die Bilanz von ihm selbst oder einem angestellten Steuerberater vor Übersendung an die Mandanten überprüft. Seine Angestellten richteten sich nicht nur nach dem Arbeitsanweisungsbogen, sondern zögen bei der Bearbeitung eines Steuerfalles auch die Vorjahreserklärungen heran.

Die Klage hatte Erfolg, weil das FG der Auffassung war, daß weder dem Kläger noch seiner Mutter noch seinem Steuerberater oder dessen mit der Erstellung des Jahresabschlusses und der Steuererklärung 1974 betrauten Angestellten ein grobes Verschulden zur Last falle. Es könne daher offenbleiben, ob dem Kläger ein Verschulden der letztgenannten Personen zuzurechnen sei.

Mit seiner vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Ausführungen des FG zum Begriff des groben Verschuldens in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 sind teilweise nicht frei von Rechtsirrtum, teilweise sind die von ihm getroffenen Tatsachenfeststellungen unvollständig.

1. Steuerbescheide sind gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekanntwerden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekanntwerden.

a) Das FG geht zu Recht davon aus, daß zwar nicht der Antrag auf Gewährung der Steuerermäßigung nach § 14 des 3. VermBG, wohl aber die Erbringung der vermögenswirksamen Leistungen eine Tatsache darstellt. Diese ist dem FA auch erst nachträglich, nämlich nach abschließender Zeichnung des Eingabewertbogens für den Bescheid vom 1. Oktober 1976 durch die zuständigen Beamten (siehe Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 30. Juni 1971 I R 91/69, BFHE 103, 301, BStBl II 1972, 82), bekanntgeworden.

b) Das FG hat jedoch nicht genügend aufgeklärt, ob den Kläger ein grobes Verschulden am nachträglichen Bekanntwerden trifft.

aa) Das FG hat nicht ausreichend ermittelt, ob dem Kläger selbst ein grobes Verschulden anzulasten ist. Grobes Verschulden im Sinne des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 beinhaltet Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit. Grob fahrlässig handelt der Steuerpflichtige, wenn er bei der Abgabe der Steuererklärung die ihm zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt (BFH-Urteile vom 3. Februar 1983 IV R 153/80, BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 25. November 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256).

Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG können - abgesehen von zulässigen und begründeten Verfahrensrügen - in der Revisionsinstanz nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit und die aus ihm abzuleitenden Sorgfaltspflichten richtig erkannt worden sind und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich des individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (Urteile in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324, und vom 28. Juni 1983 VIII R 37/81, BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2).

Dem Kläger kann nicht als grobes Verschulden angelastet werden, daß er die Unvollständigkeit der von ihm abgegebenen und von seinem Steuerberater angefertigten Einkommensteuererklärung bezüglich der erbrachten vermögenswirksamen Leistungen nicht bemerkt hat. Selbst wenn er die Erklärung nicht oder nicht genau auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit durchgesehen hat, begründet dieser Umstand nur dann den Vorwurf grober Fahrlässigkeit, wenn ihm ohne weiteres hätte auffallen müssen, daß steuermindernde Tatsachen oder Beweismittel vom steuerlichen Berater nicht berücksichtigt worden sind (BFHE 139, 8, BStBl II 1984, 2). Dies ist nicht der Fall. Nach den Feststellungen des FG ist nämlich nicht einmal wahrscheinlich, daß der Kläger die hier maßgebliche Anlage A zur Einkommensteuererklärung überhaupt erhalten hat, denn sie fehlt in den Einkommensteuerakten des FA. Es kann daher nicht zu seinen Lasten unterstellt werden, daß er die Spalte in der Anlage zur Einkommensteuererklärung, die den Hinweis auf die vermögenswirksamen Leistungen enthielt, zu Gesicht bekam, so daß von einer offensichtlichen Ergänzungsbedürftigkeit der ihm nachweislich vorgelegenen Formulare keine Rede sein kann. Schon aus diesem Grunde können auch die Grundsätze des BFH-Urteils vom 29. Juni 1984 VI R 181/80 (BFHE 141, 232, BStBl II 1984, 693) nicht gegen ihn angewandt werden. Dort hatte der nicht beratene Steuerpflichtige eine im Erklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beachtet, während der Kläger hier eine Tatsache unberücksichtigt ließ, die aus den ihm zugesandten Formularen nicht ersichtlich war.

Der Kläger handelte auch nicht insofern grob fahrlässig, als er es unterließ, gegen den Steuerbescheid vom 7. Juni 1977, in dem der Steuerbescheid vom 1. Oktober 1976 für endgültig erklärt wurde, Einspruch einzulegen oder ihn seinem Steuerberater zur Prüfung zuzuleiten (vgl. BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256). Denn der ursprüngliche Bescheid war nur wegen der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für vorläufig erklärt worden und wurde, nachdem der Kläger die hierzu gestellten Fragen beantwortet hatte, vom FA für endgültig erklärt. Dem Kläger mußte es sich nicht aufdrängen, die Veranlagung auch in den übrigen Punkten nochmals auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Gleiches gilt für den Steuerberater, falls der Kläger ihn mit der Überprüfung dieses Steuerbescheids beauftragt haben sollte.

Es kann dem Kläger schließlich auch nicht als grob fahrlässiges Verhalten vorgeworfen werden, daß er seine damals 76jährige Mutter auch noch 1976 in seinem Betrieb beschäftigte. Es ist noch nicht einmal sicher, ob die Mutter der Angestellten des Steuerberaters eine falsche oder unvollständige Auskunft hinsichtlich der vermögenswirksamen Leistungen gegeben hat. Jedenfalls läßt eine mögliche Fehlleistung in diesem Punkt, die auch jüngeren Buchhaltungskräften unterlaufen kann, keine Rückschlüsse auf ein Nachlassen der geistigen Fähigkeiten im allgemeinen zu. Für das FG mußte es sich daher auch nicht aufdrängen, über diesen Umstand Beweis zu erheben, zumal die Ausführungen des FA keinen Anlaß dazu gaben. Es durfte sich daher mit der Feststellung begnügen, daß die Mutter die hier einschlägige Lohnbuchhaltung jedenfalls im Streitjahr ordentlich geführt hat.

Das FG hat jedoch keine tatsächlichen Feststellungen zur Frage getroffen, ob der Kläger den ursprünglichen Bescheid vom 1. Oktober 1976 geprüft oder dem Steuerberater zur Prüfung übergeben hat. Nach Auffassung des erkennenden Senats gelten die vom VI. Senat im Urteil in BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256 aufgestellten Grundsätze, wonach ein dem Steuerberater zuzurechnendes grobes Verschulden i. S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 AO 1977 auch darin bestehen kann, daß er es unterläßt, gegen einen Steuerbescheid Einspruch einzulegen, obwohl sich ihm innerhalb der Einspruchsfrist die Geltendmachung von dem FA bisher nicht bekannten Tatsachen hätte aufdrängen müssen, für den Fall des Unterlassens der erstmaligen Einspruchseinlegung durch den Steuerpflichtigen oder seinen Berater entsprechend.

bb) Der Senat kann offenlassen, ob der Kläger sich ein grobes Verschulden seiner Mutter zurechnen lassen muß (verneinend wohl BFHE 137, 547, 554, BStBl II 1983, 324, 327). Diese hat - eine unzutreffende Antwort gegenüber der Angestellten unterstellt - nach den rechtlich wie tatsächlich nicht zu beanstandenden Ausführungen des FG jedenfalls nicht grob fahrlässig gehandelt. Denn weil die Voraussetzungen für die steuermindernde Geltendmachung der vermögenswirksamen Leistungen erstmals im Streitjahr gegeben waren, kann allenfalls ein als einfach fahrlässig zu bewertendes Versehen vorgelegen haben.

cc) Auch das vom FG gefundene Ergebnis, der Steuerberater bzw. seine Angestellte, die mit der Erstellung des Jahresabschlusses und der Einkommensteuererklärung beauftragt war, hätten keine grobe Fahrlässigkeit zu vertreten, ist durch die von ihm bisher getroffenen Feststellungen nicht hinreichend gedeckt. Das FG hat sich die Aussagen des Steuerberaters in der mündlichen Verhandlung als Feststellungen zu eigen gemacht. Diese Aussagen reichen nicht aus, um ein grobes Verschulden der Angestellten, die selbst nicht gehört worden ist, zu verneinen. In dem Verhalten des FG liegt kein Verfahrensfehler, sondern ein ohne Verfahrensrüge zu beachtender materieller Fehler (BFH-Urteil vom 12. September 1979 I R 146/76, BFHE 129, 62, 65, BStBl II 1980, 51, 53; Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 118 Anm. 13, mit weiteren Nachweisen; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 118 FGO Tz. 26 a).

Mit der seit dem Urteil in BFHE 137, 547, BStBl II 1983, 324 einhelligen BFH-Rechtsprechung (siehe zuletzt BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256) und der überwiegenden Meinung im Schrifttum (siehe z. B. Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 173 AO 1977 Anm. 44 c) ist dem Steuerpflichtigen ein Verschulden seines Steuerberaters als seines Vertreters zuzurechnen. Dies gilt nach dem Urteil des IV. Senats in BFHE 137, 547, 554, BStBl II 1983, 324, 328 auch dann, wenn der Steuerberater die Fertigung der Steuererklärung und des Jahresabschlusses auf einen Angestellten delegiert und dieser die grobe Fahrlässigkeit begeht. Im Streitfall hatte der Berater des Klägers diese Aufgaben auf die Angestellte übertragen. Zur Frage, ob dieser Angestellten ein grobes Verschulden zur Last fällt, hat das FG laut Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 6. Juli 1982 lediglich den Steuerberater gehört und ihn zum Umfang seiner Tätigkeit für den Kläger im Streitjahr und zur Organisation seines Büros befragt. Im Rahmen dieser Befragung hat der Steuerberater die nicht näher begründete Vermutung geäußert, daß die Angestellte aufgrund des Arbeitsanweisungsbogens - ,,wie stets in vergleichbaren Fällen" - die Frage nach den vermögenswirksamen Leistungen ,,mit Sicherheit" gestellt habe. Offen blieb dabei, ob der Steuerberater diese Überzeugung aufgrund einer Befragung der zuständigen Angestellten gewann und wie das Gespräch mit der Mutter des Klägers im einzelnen verlief, insbesondere welche Auskunft die Mutter über die erbrachten vermögenswirksamen Leistungen erteilt hat.

Das FG hielt weitere Nachforschungen in dieser Richtung offenbar für überflüssig, weil es meinte, daß auch bei Unterstellung einer zutreffenden Antwort der Mutter eine grobe Fahrlässigkeit der Angestellten ausscheide, weil diese deren Inhalt falsch verstanden oder vergessen haben könnte. Derlei Fehler kämen üblicherweise vor und man müsse mit ihnen rechnen. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden: Denn um derartige Flüchtigkeitsfehler möglichst auszuschalten, ist es erforderlich und normalerweise auch üblich, daß der Steuerberater oder sein Beauftragter Gespräche über steuerrechtlich erhebliche Tatsachen in Aktenvermerken festhält und diese der Bearbeitung der Steuererklärung oder des Jahresabschlusses zugrunde legt. Tat er das nicht, muß ihm seine Vergeßlichkeit oder ein etwaiges Mißverständnis des Besprochenen als grobe Fahrlässigkeit angelastet werden. Darüber hinaus ist zu untersuchen, ob die Angestellte sich im Rahmen der Arbeiten für den Jahresabschluß das Lohnbuch, aus dem die vermögenswirksamen Leistungen ersichtlich waren, vorlegen ließ und, wenn dies nicht der Fall war, warum sie auf diese Unterlage zum Zwecke der Aufklärung und Kontrolle nicht zurückgriff. Dies um so mehr, wenn ihr aufgefallen sein sollte, daß die Mutter sich hinsichtlich der Gewährung vermögenswirksamer Leistungen für das Streitjahr nicht sicher gewesen sein sollte. Schon aus Gründen der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 FGO) wird das FG zumindest die Angestellte persönlich vernehmen müssen.

2. Zur Nachholung der in Tz. 1 b, aa (a. E.) und cc erläuterten Tatsachenfeststellungen geht die Sache an das FG zurück.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414231

BFH/NV 1986, 443

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