Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausschluß des Lohnsteuer-Jahresausgleichs für das Jahr 1990 im Beitrittsgebiet verfassungsgemäß

 

Leitsatz (NV)

Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß für Arbeitnehmer mit Wohnsitz im Beitrittsgebiet für das Jahr 1990 kein Lohnsteuer-Jahresausgleich durchzuführen war.

 

Normenkette

GG Art. 143; Einigungsvertrag Art. 8 Anlage I Kapitel IV Sachgebiet B Abschn. II Nr. 14; EStG § 42; GG Art. 3, 19 Abs. 2, Art. 23, 79 Abs. 3

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind miteinander verheiratet. Sie unterhielten im Streitjahr 1990 ihren Wohnsitz in Sachsen. Sie erzielten dort Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Die Kläger beantragten die Durchführung eines Lohnsteuer-Jahresausgleichs. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte dies mit der Begründung ab, das Besitz- und Verkehrsteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) sei erst mit Wirkung ab 1. Januar 1991 im Beitrittsgebiet in Kraft getreten.

Das Bezirksgericht wies die Klage ab. Die Entscheidungsgründe sind in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1992, 367 veröffentlicht.

Hiergegen richtet sich die vom Bezirksgericht zugelassene Revision der Kläger, die einen Verstoß gegen Art. 3, Art. 19 Abs. 2, Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) rügen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist unbegründet. Die Entscheidung des Bezirksgerichts, der beantragte Lohnsteuer-Jahresausgleich für 1990 sei nicht durchzuführen, weil es dafür keine Rechtsgrundlage gebe, ist frei von Rechtsfehlern.

1. Zwischen den Beteiligten besteht kein Streit darüber, daß sich ein Anspruch auf Durchführung des beantragten Lohnsteuer-Jahresausgleichs aus der Verordnung über die Besteuerung des Arbeitseinkommens vom 22. Dezember 1952 - AStVO - (Gesetzblatt - DDR - Nr. 182, 1413) nicht ergibt. Nach § 27 AStVO ist die Steuer vom Arbeitseinkommen durch den Steuerabzug von den Lohneinkünften abgegolten. Die Erstattung von Steuerabzugsbeträgen setzt nach § 25 AStVO eine fehlerhafte Steuerberechnung oder einen rechtswidrige Steuereinbehalt voraus. Einen derartigen Sachverhalt haben die Kläger nicht geltend gemacht und hat das Bezirksgericht nicht festgestellt.

Der danach allein als Rechtsgrund für einen Anspruch auf Lohnsteuer-Jahresausgleich in Betracht kommende § 42 des Einkommensteuergesetzes (EStG) war, da die Kläger im Streitjahr 1990 ihren ausschließlichen Wohnsitz im Beitrittsgebiet hatten, nicht anzuwenden.

Der Tatbestand des § 42 EStG setzt eine unbeschränkte Einkommensteuerpflicht des Arbeitnehmers voraus. Diese Voraussetzung haben die Kläger im Streitjahr 1990 nicht erfüllt. Denn gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Unter dem Begriff ,,Inland" im Sinne dieser Vorschrift war bis zum 31. Dezember 1990 das Gebiet der Bundesrepublik in den vor dem 3. Oktober 1990 bestehenden Grenzen zu verstehen.

Dies folgt aus Art. 8 Anlage I Kapitel IV Sachgebiet B Abschn. II Nr. 14 Abs. 2 des Einigungsvertrags, der durch das Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 (BGBl II 1990, 885) in nationales Recht umgesetzt worden ist. Gegen die Annahme, das Gebiet der ehemaligen DDR sei steuerrechtlich nicht als ,,Inland" anzusehen, bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. dazu Beschluß des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 25. März 1992 I B 97/91, BFHE 167, 457, BStBl II 1992, 878, 879).

Mit der in Nr. 14 Abs. 2 getroffenen Regelung korrespondiert Abs. 1 derselben Vorschrift der Anlage I zum Einigungsvertrag, wonach das Recht der Bundesrepublik für das Recht der Besitzsteuern - mithin auch für die Einkommensteuer - erst am 1. Januar 1991 in Kraft tritt. Das bedeutet, daß bis zum 31. Dezember 1990 in den neuen Bundesländern weiterhin das Lohnsteuerrecht der ehemaligen DDR galt, das einen Anspruch auf den beantragten Lohnsteuer-Jahresausgleich nicht gewährt.

2. Die Vorschriften des Einigungsvertrags, nach denen das Einkommensteuerrecht der alten Bundesrepublik erst ab dem 1. Januar 1991 in den neuen Bundesländern gilt, sind rechtswirksam und entgegen der Auffassung der Kläger nicht verfassungswidrig.

a) Für die Beurteilung der Verfassungskonformität dieser Vorschriften kann die vom Bezirksgericht aufgeworfene und nicht abschließend entschiedene Frage, ob die AStVO als partikurales Bundesrecht weitergelten sollte oder unter Art. 9 des Einigungsvertrags fällt und deshalb möglicherweise nicht vom Regelungsbereich des neu eingeführten Art. 143 Abs. 1 GG erfaßt wird, offenbleiben. Es braucht auch nicht den in der Literatur geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen Art. 143 Abs. 1 und 2 GG (vgl. von Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz, Art. 143 Rdnr. 17 ff.) und der vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) offengelassenen Frage, ob Art. 143 Abs. 1 GG mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar ist (vgl. Urteile vom 24. April 1991 BvR 1341/90, BVerfGE 84, 133, 145; vom 10. März 1992 1 BvR 454, 470, 602, 616, 905, 939-955, 957-963, 1128, 1315-1318, 1453/91, BVerfGE 85, 360, 371), nachgegangen zu werden. Es kann ferner unentschieden bleiben, in welchem Verhältnis Art. 23 Satz 2 GG und Art. 143 GG im einzelnen zueinander stehen (vgl. z. B. Scholz in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 143 Rdnr. 1, 8; Weis, Archiv des öffentlichen Rechts, 116. Band - 1991 - 1, 27). Denn der Senat teilt die Auffassung der Vorinstanz, daß die von den Klägern angegriffenen Regelungen auch ohne Berücksichtigung des Art. 143 Abs. 1 und 2 GG mit dem GG im Einklang stehen.

Die Gesetzgebungskompetenz für die Übergangsregelungen nach dem Beitritt der ehemaligen DDR ergibt sich aus Art. 23 Satz 2 GG a. F. in Verbindung mit dem verfassungsrechtlichen Wiedervereinigungsgebot (Beschluß des BVerfG vom 18. September 1990 gemäß § 24 des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - BVerfGG - 2 BvE 2/90, BVerfGE 82, 316, 320). Sie umfaßt die Befugnis des Gesetzgebers der Bundesrepublik zu einem schrittweisen Inkraftsetzen des GG und des sonstigen Bundesrechts in den neuen Bundesländern. Denn Art. 23 Satz 2 GG bestimmt, daß das GG in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen ist. Daraus, daß der Verfassungsgeber keine Automatik zwischen Beitritt und Inkrafttreten des GG vorgesehen hat, ist zu schließen, daß er auch ein stufenweises Inkraftsetzen jedenfalls einzelner Regelungen des GG zulassen wollte (vgl. Scholz, a. a. O., Art. 143 Rdnr. 8; Tomuschat, VVDStRL Heft 49 (1990) S. 70, 80f. m. w. N.). Dementsprechend hat das BVerfG schon zum sog. Saarstatut entschieden, daß völkerrechtliche Verträge als verfassungsmäßig anzuerkennen seien, wenn die im Vertrag vorgesehenen Maßnahmen mit dem Willen unternommen seien und die Tendenz in sich trügen, dem voll verfassungsmäßigen Zustand wenigstens so weit, wie es politisch erreichbar sei, näher zu kommen, seiner Erreichung vorzuarbeiten. Einschränkungen anderer Verfassungsnormen als der in Art. 79 Abs. 3 und 19 Abs. 2 GG bezeichneten Grundsätze könnten für eine Übergangszeit hingenommen werden, wenn sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Regelung stünden, die in ihrer gesamten Tendenz darauf gerichtet sei, dem der Verfassung voll entsprechenden Zustand näher zu kommen (Urteil vom 4. Mai 1955 1 BvF 1/55, BVerfGE 4, 157, 169f.).

b) Ist danach die stufenweise Einführung des Rechts der alten Bundesrepublik im Beitrittsgebiet nicht von vornherein verfassungswidrig, kann die Fortgeltung der AStVO für eine Übergangszeit von drei Monaten verfassungsrechtlich nicht beanstandet werden.

aa) Die Fortgeltung verstößt entgegen der Auffassung der Kläger nicht gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Die durch die weitere Geltung des Rechts der ehemaligen DRR eintretende unterschiedliche Behandlung der Bürger in den alten und neuen Bundesländern ist durch zureichende sachliche Gründe gerechtfertigt. Denn es sollten dadurch Steuerbürger, Wirtschaft und die im Aufbau befindliche Finanzverwaltung im beigetretenen Teil Deutschlands nicht mit einer zusätzlichen Umstellung des Besteuerungsrechts innerhalb des 2. Halbjahres 1990 belastet werden (vgl. BTDrucks 11/7817, S. 107f.).

Diese Überlegungen für eine unterschiedliche Behandlung der Bürger im Beitrittsgebiet gegenüber denjenigen in der alten Bundesrepublik für eine Übergangszeit von drei Monaten tragen auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung. Denn eine Umstellung der Besteuerung nur für die letzten drei Monate eines Jahres hätte sich wegen des damit verbundenen zusätzlichen Aufwandes an Zeit und Kosten als unverhältnismäßig und praktisch kaum durchführbar erwiesen. Wegen der praktischen Schwierigkeiten, die mit der Umstellung auf ein anderes Steuersystem verbunden sind, hat es auch das BVerfG nicht beanstandet, daß im Beitrittsgebiet das Lohnsteuerabzugsverfahren erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 1991 eingeführt worden ist (vgl. Beschluß vom 19. Dezember 1991 2 BvR 1591/90, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz 1990, Allg. Rechtsspruch 100).

Eine gleichheitswidrige Benachteiligung durch die Vorschriften der AStVO im Vergleich zu den anderen Bürgern mit ausschließlichem Wohnsitz im Gebiet der ehemaligen DDR haben die Kläger nicht einmal geltend gemacht. Sie ist auch nicht erkennbar.

bb) Durch die Fortgeltung des Besteuerungsrechts der ehemaligen DDR wurde Art. 19 Abs. 2 GG, wonach in keinem Fall ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf, nicht beeinträchtigt. Die Kläger haben selbst nicht einmal behauptet, daß durch den Einbehalt der Lohnsteuer in Höhe von ca. 800 DM ihre Grundrechte aus Art. 12 oder Art. 14 GG angetastet worden wären.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Dieser Grundsatz gilt - soweit das für eine menschenwürdige Lebensführung erforderliche Existenzminimum verbleibt - nicht absolut. Er liefert nur einen relativen Vergleichsmaßstab, der im wesentlichen vergleichbare allgemeine Lebensverhältnisse voraussetzt. Für das Streitjahr 1990 war danach wegen der Währungsumstellung, der sehr unterschiedlichen Kostenverhältnisse in den alten und neuen Bundesländern und wegen des Beitritts erst im letzten Quartal des gesamten Besteuerungsabschnitts ein Vergleich der Besteuerung der Bürger in den alten und neuen Bundesländern unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit nur schwer möglich.

Ob die Abgeltung der Steuer vom Arbeitseinkommen durch den Steuerabzug so, wie sie in § 24 AStVO geregelt ist, in vollem Umfang den Anforderungen genügt, die nach der Rechtsprechung des BVerfG an ein Steuergesetz unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu stellen sind (vgl. z. B. Beschluß vom 4. Oktober 1984 1 BvR 789/79, BStBl II 1985, 22, 24f.), kann dahingestellt bleiben. Denn die vom BVerfG (BVerfGE 4, 157, 169f.) aufgestellten Kriterien, unter denen Einschränkungen von Verfassungsnormen und Verfassungsprinzipien für eine Ubergangszeit nach dem Beitritt hinzunehmen wären, sind im Streitfall erfüllt. Das Inkrafttreten des bundesdeutschen Einkommensteuerrechts am 1. Januar 1991 war darauf gerichtet, den voll verfassungsmäßigen Zustand zu erreichen. Die Übergangszeit von drei Monaten war knapp bemessen und durch sachliche Gründe zu erklären. Daß die Kläger durch den Steuereinbehalt von ca. 800 DM mit den ihnen danach verbleibenden Geldbeträgen unter Berücksichtigung der allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse im Beitrittsgebiet zu einer menschenwürdigen Lebensführung (vgl. Art. 1, Art. 79 Abs. 3 GG) nicht mehr in der Lage gewesen wären, hat die Vorinstanz nicht festgestellt und haben die Kläger selbst nicht geltend gemacht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 419077

BFH/NV 1993, 533

BB 1993, 2433

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