Leitsatz (amtlich)

Ein Kinderzuschlag zur Arbeitnehmerzulage kann nach §§ 28, 29 BerlinFG noch nach Ablauf eines Kalenderjahres rückwirkend vom FA gewährt werden, wenn ein Kinderfreibetrag zwar nicht auf der Lohnsteuerkarte eingetragen, wohl aber im Lohnsteuer-Jahresausgleich vom FA berücksichtigt worden ist.

 

Normenkette

BerlinFG i.d.F. vom 29. Oktober 1970 § 28; BerlinFG i.d.F. vom 29. Oktober 1970 § 29; EStG 1971 § 32 Abs. 2 Nr. 3; JAV § 4 Abs. 5

 

Tatbestand

Der verheiratete Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist als Arbeitnehmer tätig. Er hat zwei Stiefkinder (Kinder der Ehefrau). Auf seinen Antrag wurde auf seiner Lohnsteuerkarte 1972 die Steuerklasse IV/0 und auf der seiner - nicht berufstätigen - Ehefrau die Steuerklasse IV/2 eingetragen. Der Arbeitgeber gewährte dem Kläger bei Berechnung der Berlinzulage nach § 28 BerlinFG in der Fassung vom 29. Oktober 1970 (BGBl I 1970, 1481, BStBl I 1970, 1017) keine Kinderzuschläge.

Der Kläger beantragte mit Schreiben vom 23. April 1973, beim Beklagten und Revisionsbeklagten (FA), eingegangen am 25. April 1973, die Überweisung der Kinderzuschläge wie in den Jahren zuvor. Das FA, das den Anträgen des Klägers für 1970 und 1971 entsprochen hatte, lehnte den Antrag für 1972 ab. Der Einspruch hatte keinen Erfolg.

Das FG wies die Klage ab. Es führte aus, nach § 28 BerlinFG könnten dem Kläger keine Kinderzuschläge bei der Arbeitnehmerzulage gewährt werden, da auf seiner Lohnsteuerkarte keine Kinderfreibeträge eingetragen worden seien. Das FA könne - im Gegensatz zur Berücksichtigung von Kinderfreibeträgen im Rahmen eines Lohnsteuer-Jahresausgleichs - nachträglich keine Kinderzuschläge bei Arbeitnehmerzulagen festsetzen, da das Berlinförderungsgesetz ein dem Lohnsteuer-Jahresausgleich entsprechendes Verfahren nicht vorsehe. Das Verfahren bei Gewährung von Arbeitnehmerzulagen sei vom Gesetzgeber bewußt einfach gestaltet worden. Der Kläger könne sich nicht darauf berufen, daß ihm für die vorangegangenen Kalenderjahre 1970 und 1971 nachträglich Kinderzuschläge nach dem Berlinförderungsgesetz gewährt worden seien. Das FA habe seinen früheren Anträgen im Rahmen des Lohnsteuer-Jahresausgleichs zur Vermeidung von Härten stattgegeben. Nachdem das FA ihn spätestens im März 1972 auf die jetzige Rechtslage aufmerksam gemacht habe, bestehe kein Anlaß mehr, entgegen dem durchaus sinnvollen Gesetzeswortlaut im Jahr 1972 ebenso zu verfahren wie in den Vorjahren. Der Kläger hätte sich von vornherein die zwei Kinderfreibeträge auf seiner Lohnsteuerkarte eintragen lassen müssen.

Mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, er habe auf seiner Lohnsteuerkarte wahrheitsgemäß die Steuerklasse IV/O vermerken lassen, weil seine Ehefrau allein die gesetzliche elterliche Gewalt über ihre Kinder habe. Nach § 28 BerlinFG sei nur die Eintragung auf seiner Lohnsteuerkarte maßgebend. Dabei werde nicht die Steuerklasse seiner Ehefrau berücksichtigt. Das sei nur im Rahmen des Lohnsteuer-Jahresausgleichs möglich. Im Lohnsteuer-Jahresausgleich 1972 seien auf Grund der Steuerkarte seiner Ehefrau die zwei Kinderfreibeträge bei der Berechnung der Lohnsteuererstattung angesetzt worden. Im Rahmen dieses Verfahrens müßten ihm mithin auch die Kinderzuschläge bei der Arbeitnehmerzulage nach dem Berlinförderungsgesetz gewährt werden. Er beantragt, die LStDV im Hinblick auf § 28 BerlinFG für gesetzwidrig zu erklären und dahin zu ändern, daß im Rahmen des gemeinschaftlichen Lohnsteuer-Jahresausgleichs die Kinderzuschläge nach § 28 BerlinFG ausgezahlt werden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.

1. Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 BerlinFG erhalten Arbeitnehmer, die Arbeitslohn für eine Beschäftigung in Berlin (West) aus einem gegenwärtigen Dienstverhältnis beziehen, eine Vergünstigung durch Gewährung von Zulagen. Nach Abs. 4 Satz 1 dieser Vorschrift beträgt die Zulage 8 v. H. der Bemessungsgrundlage zuzüglich eines Zuschlags von 22 DM monatlich, 5 DM wöchentlich oder 1 DM täglich für jedes Kind, für das der Arbeitnehmer beim Steuerabzug vom Arbeitslohn für den jeweiligen Lohnabrechnungszeitraum einen Kinderfreibetrag nach § 32 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 EStG erhält. In den Fällen, in denen der Arbeitnehmer einen Kinderfreibetrag zur Hälfte erhält, ermäßigen sich die Beträge des Kinderzuschlags um 50 v. H. Nach § 28 Abs. 5 Sätze 1 und 2 BerlinFG hat der Arbeitgeber die Zulage zu errechnen und auszuzahlen. Gemäß § 29 Abs. 2 Sätze 1 und 2 BerlinFG kann der Arbeitnehmer beantragen, daß das FA, an das der Arbeitgeber die Lohnsteuer abzuführen hat, die Zulage durch schriftlichen Bescheid festsetzt. Der Antrag ist bis zum Ablauf von zwei Monaten nach dem Ende des Zeitraums zu stellen, für den die Zulage nach § 28 Abs. 5 Satz 2 BerlinFG auszuzahlen ist, so daß bei monatlichen Lohnabrechnungszeiträumen die Auszahlung der Zulage zusammen mit dem Arbeitslohn erfolgt. Die Antragsfrist des § 29 Abs. 2 Satz 2 BerlinFG kann auf Antrag verlängert werden.

Der Arbeitgeber hat im Streitfall dem Kläger zu Recht keinen Kinderzuschlag für die Arbeitnehmerzulage ausgezahlt. Es kommt nicht darauf an, ob der Kläger einen Anspruch auf einen Kinderfreibetrag hatte (vgl. Eberstein, Handbuch der regionalen Wirtschaftsförderung, Abschn. B V Ziff. 5.44). Der Arbeitgeber mußte sich bei Errechnung der Zulage vielmehr danach richten, ob der Kläger beim Steuerabzug vom Arbeitslohn Kinderfreibeträge nach § 32 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 EStG erhält. Beim Kläger wurden beim Steuerabzug vom Arbeitslohn keine Kinderfreibeträge berücksichtigt, weil auf seiner Lohnsteuerkarte keine Kinderfreibeträge eingetragen waren. Der Arbeitgeber ist nach § 41 EStG 1971 beim Lohnsteuerabzug und nach § 28 BerlinFG auch beim Ansatz von Kinderzuschlägen bei Arbeitnehmerzulagen an die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte gebunden.

2. Das FA war jedoch im Streitfall verpflichtet, dem Kläger auf seinen am 25. April 1973 gestellten Antrag noch nachträglich zwei volle Kinderzuschläge für die Lohnabrechnungszeiträume Januar bis Dezember 1972 zu gewähren.

Der Senat geht dabei von der Erwägung aus, daß es dem Arbeitnehmer nach dem EStG und der LStDV nicht untersagt ist, sich auf seiner Lohnsteuerkarte eine ihm ungünstigere Lohnsteuerklasse eintragen zu lassen oder bei Änderung seines Familienstandes während des Kalenderjahres die Eintragung der nunmehr ungünstigeren Lohnsteuerklasse auf der Lohnsteuerkarte für den Rest des Kalenderjahres bestehen zu lassen. Ein solches Verhalten des Arbeitnehmers wird von der Finanzverwaltung ausdrücklich gebilligt (vgl. Abs. 7 Satz 2 des BdF-Erlasses vom 20. Juli 1970 IV B/6 - S 2345 - 18/70, BStBl I 1970, 893). Der Arbeitnehmer erleidet hierdurch - abgesehen vom Zinsverlust - keinen Nachteil, da er am Anfang des folgenden Jahres einen Lohnsteuer-Jahresausgleich beantragen kann (soweit nicht ohnehin eine Einkommensteuer-Veranlagung nach § 46 EStG in Betracht kommt), und in diesem Verfahren die zutreffende Steuerklasse und der richtige Familienstand ohne Rücksicht auf die Eintragungen auf seiner Lohnsteuerkarte zu berücksichtigen sind. Der Kläger konnte sich daher ohne Rechtsverstoß auf seiner Lohnsteuerkarte die Steuerklasse IV/0 eintragen lassen, obwohl ihm als allein verdienendem verheirateten Steuerpflichtigen die Steuerklasse III und wegen der Kinder seiner Ehefrau, d. h. für seine ehelichen Stiefkinder im Sinne des § 28 Abs. 4 Satz 1 BerlinFG in Verbindung mit § 32 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 1971, zwei Kinderfreibeträge zustanden.

In §§ 28, 29 BerlinFG sind Fälle dieser Art, in denen ein Arbeitnehmer die Korrektur einer von Anfang an unrichtigen oder im Laufe des Kalenderjahres unrichtig gewordenen Lohnsteuerklasse erst im Lohnsteuer-Jahresausgleich vornehmen kann und will, nicht geregelt. § 28 Abs. 4 Satz 1 BerlinFG knüpft bei der Gewährung von Kinderzuschlägen zur Arbeitnehmerzulage an die dem Arbeitgeber "beim Steuerabzug vom Arbeitslohn" vorliegende Lohnsteuerkarte an. "Steuerabzug vom Arbeitslohn" liegt zwar auch dann vor, wenn der Arbeitgeber nach § 3 der Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich (JAV) den Lohnsteuer-Jahresausgleich vornimmt (vgl. Urteile des erkennenden Senats vom 24. Januar 1975 VI R 121/72, BFHE 115, 49, BStBl II 1975, 420, und vom 14. Februar 1975 VI R 121/72, BFHE 115, 319, BStBl II 1975, 497). Der Arbeitgeber ist aber auch hier an die Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte gebunden. Die Gewährung von Kinderzuschlägen zur Arbeitnehmerzulage im Rahmen eines vom FA durchzuführenden Lohnsteuer-Jahresausgleichsverfahrens ist weder in der Verordnung über den Lohnsteuer-Jahresausgleich in der Fassung vom 16. März 1971 (BGBl I 1971, 195, BStBl I 1971, 170) noch im Berlinförderungsgesetz vorgesehen.

Die nachträgliche Berücksichtigung der zutreffenden Steuerklasse bei der Lohnsteuererstattung im Lohnsteuer-Jahresausgleich und die Außerachtlassung dieses Umstandes bei der Gewährung der Arbeitnehmerzulage nach dem Berlinförderungsgesetz führt vor allem dann zu groben Unbilligkeiten, wenn dem Arbeitnehmer im Dezember ein Kind geboren wird, weil dies nach § 18 Abs. 2 LStDV 1970 nicht mehr auf der Lohnsteuerkarte des laufenden Jahres eingetragen werden kann und der Arbeitnehmer deshalb für dieses Kind keinen Kinderzuschlag für den Lohnabrechnungszeitraum Dezember erhalten kann. Dieses Ergebnis zeigt deutlich, daß hier eine Lücke im Berlinförderungsgesetz vorliegt, die vom Gesetzgeber übersehen worden ist. Eine solche Lücke im Gesetz ist stets dann gegeben, wenn die Regelung eines bestimmten Sachbereichs keine besondere Bestimmung für eine Frage enthält, die nach den gesetzlichen Grundgedanken und der dem Gesetz immanenten Teleologie hätte mitgeregelt werden müssen (vgl. Urteil des BFH vom 19. Juli 1972 I R 164/68, BFHE 106, 441, BStBl II 1972, 858 und die dort angeführte Literatur). Die Rechtsprechung hat dann die Lücke so auszufüllen, wie der Gesetzgeber die Frage wahrscheinlich geregelt hätte, wenn sie in seinen Gesichtskreis getreten wäre (vgl. Tipke-Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 7. Aufl., § 1 StAnpG Anm. 29 und die dort erwähnte Rechtsprechung).

Im Streitfall bestehen keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber die oben dargelegten Unbilligkeiten wegen falscher oder im Laufe des Jahres unrichtig gewordener Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte bewußt in Kauf genommen hat. Aus den Gesetzesmaterialien (vgl. insbesondere die Begründung des Regierungsentwurfs zur Änderung des Berlinhilfegesetzes und anderer Vorschriften, Bundestags-Drucksache VI/614 S. 20/21) ist ein solcher Wille des Gesetzgebers ebenfalls nicht zu entnehmen. Der Gesetzgeber hatte vielmehr, um unvorhergesehenen Verfahrensschwierigkeiten vorzubeugen, die Bundesregierung in § 30 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a BerlinFG dazu ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates durch eine Rechtsverordnung Vorschriften "über das Verfahren bei der Gewährung von Zulagen" zu erlassen. Da die Bundesregierung von dieser Ermächtigung bis heute keinen Gebrauch gemacht hat, muß die Rechtsprechung die obige Lücke im Gesetz schließen. Wäre die Frage dem Gesetzgeber in den Gesichtskreis getreten, so hätte er sie nach Auffassung des Senats dahin geregelt, daß er Abweichungen von Lohnsteuerklassen im Lohnsteuer-Jahresausgleich gegenüber Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte noch nachträglich bei der Gewährung von Kinderzuschlägen zu Arbeitnehmerzulagen berücksichtigt hätte mit der Folge, daß für ein solches nach § 29 Abs. 2 BerlinFG abzuwickelndes Verfahren beim FA noch Anträge innerhalb der Antragsfrist für den Lohnsteuer-Jahresausgleich (vgl. § 4 Abs. 5 Satz 1 JAV, und BFH-Urteil vom 26. November 1974 VI R 182/74, BFHE 114, 217, BStBl II 1975, 309) gestellt werden können.

Die Vorentscheidung ist aufzuheben, da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist. Der Senat verweist die Sache an das FG zurück, damit es feststellt, nach welcher Steuerklasse und welchen Kinderfreibeträgen das FA für den Kläger den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1972 durchgeführt hat. Da der Antrag auf Kinderzuschläge bei den Arbeitnehmerzulagen vor dem 30. April des Folgejahres gestellt wurde (§ 4 Abs. 5 Satz 1 JAV), sind dem Kläger zwei volle Kinderzuschläge zur Arbeitnehmerzulage nachträglich zu gewähren, wenn der Lohnsteuer-Jahresausgleich 1972 des Klägers nach der Lohnsteuerklasse III/2 durchgeführt worden ist.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72111

BStBl II 1977, 23

BFHE 1976, 499

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