Leitsatz (amtlich)

Abfindungen wegen Ausscheidens aus einem Dienstverhältnis, die auf Grund eines Interessenausgleichs gemäß § 72 BetrVG gezahlt werden, sind auch dann steuerfrei, wenn der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit der geplanten Betriebsveränderung selbst das Arbeitsverhältnis löst und der Interessenausgleich einen Hinweis auf die "Freiwilligkeit" der zu zahlenden Abfindung enthält.

 

Normenkette

EStG 1965 § 3 Nr. 9; LStDV 1965 § 6 Nr. 7

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbeklagte beantragte im Rahmen des Lohnsteuer-Jahresausgleichs 1968 die Anerkennung eines von seinem Arbeitgeber - einer AG - dem Steuerabzug unterworfenen Betrags von 4 353,50 DM als steuerfreie Entlassungsentschädigung (§ 3 Nr. 9 EStG § 6 Nr. 7 LStDV).

Die AG hatte am 25. März 1968 im Zusammenhang mit der von ihr geplanten Stillegung eines Zweigbetriebs, bei dem der Kläger als Pumpenmaschinist 19 Jahre tätig war, mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung getroffen. In dieser wurde erklärt, daß Einigkeit darüber erzielt worden sei, daß seitens der AG keinerlei Verpflichtung zur Zahlung von Abfindungen an ausscheidende Belegschaftsmitglieder bestände, da für jeden Mitarbeiter eine Versetzungsmöglichkeit in eine andere Dienststelle des Unternehmens gegeben sei. Trotzdem habe sich das Unternehmen zur Zahlung einer im näheren aufgeschlüsselten freiwilligen Entlassungsentschädigung bereit erklärt. Diese sei an jeden Arbeitnehmer zu zahlen, der nach fristgemäßer Kündigung oder im Einvernehmen mit der Betriebsleitung des Zweigbetriebs aus den Diensten der AG ausscheide. Weiter heißt es in der Betriebsvereinbarung, daß Klarheit und Einmütigkeit darüber bestehe, daß Belegschaftsangehörige, die durch die Betriebsumstellung beschäftigungslos würden und sich nicht in eine andere Dienststelle der AG versetzen ließen, spätestens zum 31. Dezember 1968 mit ihrer Entlassung rechnen müßten. Der Kläger schied daraufhin auf seinen Wunsch aus dem Arbeitsverhältnis aus. Das FA lehnte die Steuerfreiheit der Entlassungsentschädigung bei Durchführung des Lohnsteuer-Jahresausgleichs 1968 ab. Auch der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Das FA vertrat die Ansicht, daß Entlassungsentschädigungen auf Grund der §§ 72, 73 des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) nur steuerfrei seien, wenn es sich um sozial ungerechtfertigte Entlassungen handele. Hier sei aber eine frei vereinbarte Abfindung wegen Betriebsveränderung nach § 75 BetrVG gegeben.

Das FG gab der Klage statt, mit der der Kläger nur noch die Steuerfreiheit eines Teilbetrags von 2 400 DM begehrte. Dabei ging es in seiner Endscheidung davon aus, daß ein Mitbestimmungsfall des § 72 Abs. 1a BetrVG gegeben sei, weil mit der Stillegung des Zweigbetriebs eine Betriebsveränderung im Sinne dieser Bestimmung verbunden gewesen sei. Da zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ein Interessenausgleich gelungen sei, käme der Frage nach der Steuerfreiheit von Entlassungsentschädigungen auf Grund des § 75 BetrVG keine Bedeutung zu. Das Vorliegen einer sozialwidrigen Kündigung sei im übrigen hier nicht Voraussetzung für die Steuerfreiheit. Das ergäbe sich aus der Entstehungsgeschichte des durch das StÄndG vom 14. Mai 1965 (BGBl I 1965, 377 BStBl I 1965, 217) eingefügten Satzes 2 des § 3 Nr. 9 EstG (§ 6 Nr. 7 LStDV), durch den die Steuerfreiheit auf alle im Wege des Interessenausgleichs nach § 72 BetrVG ausgehandelten Entlassungsentschädigungen habe ausgedehnt werden sollen. Schließlich könne auch dem Umstand, daß dem Kläger nicht förmlich gekündigt worden sei, keine erhebliche Bedeutung beigemessen werden. Der Kläger sei auch nicht "freiwillig" im eigentlichen Sinne dieses Wortes aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Tatsächlich läge der Grund für das Ausscheiden des Klägers in der Unmöglichkeit seiner Weiterbeschäftigung am Ort des Zweigbetriebs, bzw. in der Unzumutbarkeit eines Arbeitsplatzwechsels innerhalb des Konzerns. Die damit für die Belegschaft verbundenen wesentlichen Nachteile hätten durch die Entschädigung abgegolten werden sollen, wenn auch in der Betriebsvereinbarung die Freiwilligkeit der Leistungen des Arbeitgebers betont worden sei. Es dürfe auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß dem Kläger wegen seiner Weigerung, sich versetzen zu lassen, spätestens zum 31. Dezember 1968 gekündigt worden wäre, so daß letztlich ursächlich für sein Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis die Stillegung des Zweigbetriebs gewesen sei.

Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 3 Nr. 9 EStG (§ 6 Nr. 7 LStDV). Die in diesen Bestimmungen für die Steuerfreiheit der Entschädigungen vorausgesetzte Entlassung des Arbeitnehmers sei nur als Folge einer Kündigung zu verstehen. Das ergebe sich einmal aus der im Schrifttum zu § 60 BetrVG fast einheitlich vertretenen Auffassung über den Entlassungsbegriff und zum andern aus dem im Sprachgebrauch üblichen Wortsinn. Auch aus der Formulierung des Gesetzes und der einschlägigen Bundestagsdrucksache IV 3189 S. 5, die das FG zitiert habe, sei zu entnehmen, daß nur Abfindungen wegen "Entlassung" steuerfrei seien und zwar selbst dann, wenn sie in einer Betriebsvereinbarung festgelegt worden seien. Das FA beantragt, die Entscheidung des FG aufzuheben und die Klage als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 3. November 1972 VI R 341/69 (BStBl II 1973, 240) die Voraussetzungen dargestellt, die für die Steuerfreiheit von Abfindungen bei Beendigung eines Dienstverhältnisses nach § 3 Nr. 9 EStG 1967 (§ 6 Nr. 7 LStDV) erforderlich sind. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Steuerfreiheit bei den auf Grund eines Interessenausgleichs, einer Einigung oder eines Einigungsvorschlags (§§ 72, 73 BetrVG) gezahlten Abfindungen unabhängig von den Bestimmungen des Kündigungsschutzgesetzes - KSchG - (§§ 7, 8 KSchG 1951, jetzt §§ 8-10 KSchG 1969) zu sehen ist. Wollte man nämlich in den o. a. Fällen eine Kündigung des Arbeitgebers als Voraussetzung für die Steuerfreiheit der Abfindungen fordern, so wäre die Erweiterung des § 3 Nr. 9 EStG auf die Fälle des Ausscheidens von Arbeitnehmern nach den §§ 72, 73 BetrVG ohne steuerliche Bedeutung. Die Fälle der Entschädigungszahlungen auf Grund der §§ 72, 73 BetrVG sind danach selbständige, vom Kündigungsschutzgesetz unabhängige Tatbestände, so daß auch die "Entlassung" aus dem Dienstverhältnis im Sinne von § 3 Nr. 9 Satz 2 EStG 1967 nicht die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber voraussetzt.

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem Sachverhalt, der dem Urteil VI R 341/69 zugrunde lag, insoweit, als das Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Dienstverhältnis nicht auf einem Angebot des Arbeitgebers, sondern auf einer Kündigung des Arbeitnehmers beruht. Die Vorinstanz hat aber zu Recht diesem Umstand im Streitfall keine Bedeutung beigemessen, sondern seine Entscheidung nur davon abhängig gemacht, ob ein Mitbestimmungsfall und entsprechend ein Interessenausgleich nach § 72 Abs. 1a BetrVG vorliegt. Sind nämlich Abfindungen wegen Ausscheidens aus einem Dienstverhältnis dann steuerfrei, wenn sie auf Grund eines Interessenausgleichs, einer Einigung oder eines Einigungsvorschlags nach dem Betriebsverfassungsgesetz gezahlt werden, so kann für die Entscheidung allein erheblich sein, ob die Voraussetzungen insoweit als erfüllt anzusehen sind. Das FG ist auch ohne Rechtsverstoß zu dem Ergebnis gekommen, daß ein Interessenausgleich ursächlich für die Zahlung der Abfindung an den Kläger war. Mit der geplanten Stillegung des Zweigbetriebs war ein Mitbestimmungsfall nach § 72 Abs. 1a BetrVG gegeben, der zu einem Interessenausgleich führte. Daran ändert auch der Vorbehalt der "Freiwilligkeit" der Entschädigungsleistungen durch die Arbeitgeberin nichts. Wie das FG zutreffend ausführt, hätte sich die AG schwerlich mit dem Betriebsrat auf die getroffene Regelung geeinigt, wenn nicht auch sie der Meinung gewesen wäre, daß die Betriebsänderung trotz der Möglichkeit der Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer in anderen Zweigbetrieben erhebliche Nachteile zumindest für einen Teil der Belegschaft zur Folge haben würde. Die "wesentlichen Nachteile" im Sinne von § 72 Abs. 1 BetrVG brauchen durchaus nicht in dem Verlust des Arbeitsplatzes zu bestehen. Vielmehr genügt auch die durch eine Betriebsverlegung erforderliche Verlagerung des Wohnsitzes (Dietz, Kommentar zum Betriebsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 1967, § 72 Anm. 9). Da im übrigen der Kläger selbst mit seinem Antrag dem Umstand Rechnung getragen hat, daß die Steuerfreiheit nur für die eigentliche Abfindung und nicht für die Beträge gegeben ist, die zur Abgeltung vertraglicher Lohnansprüche gezahlt wurden, entspricht das Urteil auch insoweit der Entscheidung des erkennenden Senats VI R 341/69.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70321

BStBl II 1973, 242

BFHE 1973, 433

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