Entscheidungsstichwort (Thema)

Prüfungsverfahren: Chancengleichheit

 

Leitsatz (NV)

Zur Frage der Verletzung der Chancengleichheit bei der Steuerberaterprüfung infolge der versehentlich vorzeitigen Austeilung einer schriftlichen Aufsichtsarbeit an eine bestimmte Prüfungsgruppe.

 

Normenkette

DVStB § 18 Abs. 2, § 20 Abs. 4

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionsbekagte (Kläger) nahm am 2., 4. und 5. Oktober 1990 als Prüfungswiederholer am schriftlichen Teil der Steuerberaterprüfung 1990 teil. Durch ein Versehen wurden am 2. Oktober 1990 in einem anderen Prüfungsraum am Ort den dort anwesenden Prüfungsteilnehmern an Stelle der für diesen Prüfungstag bundeseinheitlich vorgesehenen Verfahrensrechtsklausur zunächst die Prüfungsaufgaben für die Ertragsteuerklausur, die am 5. Oktober 1990 zu bearbeiten war, ausgeteilt. Diese Aufgabentexte wurden nach kurzer Zeit wieder eingesammelt. Die Kandidaten dieser Prüfungsgruppe erhielten sodann die Aufgaben für die vorgesehene Verfahrensrechtsklausur. Die versehentlich ausgeteilte Ertragsteuerklausur wurde an allen Prüfungsorten am 5. Oktober 1990 geschrieben. Mit Bescheid ... teilte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzministerium) dem Kläger mit, er habe nach dem Ergebnis der schriftlichen Prüfung die Gesamtnote 4,66 erzielt und somit die Steuerberaterprüfung nicht bestanden (§ 25 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung der Vorschriften über Steuerberater, Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften - DVStB -).

Mit der Klage machte der Kläger geltend, durch die versehentliche, vorzeitige Austeilung des Aufgabentextes für die Ertragsteuerklausur in einem anderen Prüfungssaal sei der Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge verletzt worden. Es lasse sich nicht ausschließen, daß er bei entsprechender vorzeitiger Kenntnisnahme von der Prüfungsaufgabe in der Ertragsteuerklausur eine bessere Note erreicht und dadurch die Prüfung bestanden hätte. Er sei psychologisch im Nachteil gewesen, da er von dem Vorteil der anderen Kandidaten am Ende des ersten Prüfungstages erfahren habe, ohne selbst von dem Inhalt der Prüfungsaufgabe Kenntnis erlangen zu können.

Die Klage führte zur Aufhebung des Prüfungsbescheids. Das Finanzgericht (FG) führte unter Bezugnahme auf die aufgrund einer Beweisaufnahme getroffenen Feststellungen im Urteil eines anderen FG-Senats, mit deren Verwertung im vorliegenden Verfahren die Beteiligten sich einverstanden erklärt hatten, aus, das Gebot der Chancengleichheit im Prüfungsverfahren sei dadurch verletzt worden, daß entgegen der Geheimhaltungspflicht nach § 18 Abs. 2 DVStB die Prüfungsaufgabe für die Ertragsteuerklausur den Kandidaten eines bestimmten Prüfungsraumes vorzeitig ausgehändigt worden sei. Wegen der Begründung des FG im einzelnen wird auf das in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1993, 257 veröffentlichte Urteil Bezug genommen.

Mit der Revision macht das Finanzministerium geltend, abgesehen von dem Hinweis auf das Doppelbesteuerungsabkommen (DBA)-Schweiz, das als Anlage der Aufgabe beigefügt gewesen sei, hätten die Kandidaten, denen der Aufgabentext für die Ertragsteuerklausur vorzeitig kurzfristig ausgehändigt worden sei, von dem Inhalt der Prüfungsaufgabe nur auf unrechtmäßige Weise Kenntnis erlangen können. Denn sie seien - wie bereits im Klageverfahren vorgetragen - vom Aufsichtsführenden angewiesen worden, die Prüfungsaufgabe bis zur Beendigung der Austeilung an alle Kandidaten ungeöffnet vor sich liegen zu lassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) erleide aber die Chancengleichheit eines Prüflings durch Täuschungshandlungen von Mitprüflingen, selbst wenn sie durch eine mangelhafte Prüfungsorganisation ermöglicht worden seien, keinen Schaden, solange sein eigenes Prüfungsverfahren korrekt verlaufe und seine eigenen Prüfungsleistungen ordnungsgemäß bewertet würden. Eine Chancenungleichheit, die auf einer wissentlichen Begünstigung durch die Prüfungsbehörde beruhe, liege im Streitfall nicht vor.

Im übrigen sei im vorliegenden Fall, wie auch andere FG bereits entschieden hätten, das Prüfungsverfahren deshalb nicht rechtswidrig, weil die versehentlich vorzeitig bekannt gewordenen Informationen nur derartig vage gewesen sein könnten, daß hierdurch die Chancengleichheit nicht verletzt werde. Denn der Fehler sei bereits während der Ausgabe der Prüfungsaufgabe bemerkt und die Aufgabentexte sodann wieder eingesammelt worden. Es sei auch auszuschließen, daß sich die vorzeitige Ausgabe der Ertragsteueraufgabe an andere Kandidaten auf das Prüfungsergebnis des Klägers ausgewirkt habe. Dessen Prüfungsleistung sei aufgrund des bereits vor Beginn der Prüfung festgelegten und später nicht geänderten Bewertungsschemas ordnungsgemäß bewertet worden. Es sei deshalb unerheblich, ob der Kläger mit Hilfe des Vorauswissens, das andere Kandidaten in rechtswidriger Weise erworben hätten, die Prüfung hätte bestehen können.

Da die Prüfungsbehörde während des Prüfungsverfahrens davon habe ausgehen können, daß sich das Vorauswissen der versehentlich begünstigten Prüfungsgruppe auf die Anwendbarkeit des als Hilfsmittel zur Verfügung gestellten DBA-Schweiz beschränke, habe für sie kein Anlaß bestanden, eine neue Prüfungsaufgabe auf dem Gebiet der Ertragsteuern zu stellen. Dies sei auch innerhalb der zur Verfügung stehenden Zeit aus organisatorischen Gründen nicht möglich gewesen. Die generelle Verschiebung der Ertragsteuerklausur auf einen späteren Zeitpunkt wäre eine unangemessene Reaktion auf den Vorgang gewesen, wie er der Behörde zur damaligen Zeit bekannt gewesen sei.

Soweit der Kläger vortrage, er habe allein aufgrund der Kenntnis, daß am ersten Prüfungstag in einem anderen Prüfungssaal versehentlich die erst drei Tage später zu bearbeitende Prüfungsaufgabe ausgeteilt worden sei, einen psychologischen Nachteil erlitten, sei dies gemessen an den Reaktionen eines durchschnittlichen Prüfungskandidaten nicht nachvollziehbar. Im übrigen seien nach § 20 Abs. 4 DVStB Einwendungen gegen den Ablauf der Prüfung wegen Störungen, die durch äußere Einwirkungen verursacht worden seien, unverzüglich, spätestens bis zum Ende der Bearbeitungszeit der jeweiligen Aufsichtsarbeit, durch Erklärung gegenüber dem Aufsichtsführenden geltend zu machen. Einen derartigen Verfahrensfehler habe der Kläger jedoch nicht gerügt. Es habe deshalb nicht geprüft werden können, ob der Kläger über das normale Maß hinausgehende psychische Reaktionen auf derartige Situationen zeige oder ob seine Reaktionen im Rahmen des üblichen Verhaltens durchschnittlicher Kandidaten blieben. Da sich Prüflinge während einer Prüfung stets in einer besonderen Situation befänden, sei die Situation des Klägers heute nicht mehr nachvollziehbar. Eine Rüge bereits während der Bearbeitungszeit sei auch zumutbar gewesen. Das FG habe die Frage der Rügepflicht zu Unrecht in seiner Entscheidung nicht berücksichtigt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Finanzministeriums ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage gegen die Prüfungsentscheidung.

1. Die versehentliche, kurzfristige Austeilung des Aufgabentextes für die Ertragsteuerklausur am 2. Oktober 1990 - drei Tage vor dem für diese Arbeit vorgesehenen Prüfungstag - an die Prüfungskandidaten in einem anderen Prüfungssaal am Ort und die ggf. darin liegende Verletzung der Geheimhaltungspflicht für die Prüfungsaufgaben (§ 18 Abs. 2 Satz 1 DVStB) können für sich allein gesehen die Vorentscheidung nicht rechtfertigen. Verfahrensfehler führen nämlich nur dann zur Aufhebung der Prüfungsentscheidung, wenn sich nicht ausschließen läßt, daß bei Beachtung der den Prüfling begünstigenden Verfahrensvorschriften von ihm ein besseres Ergebnis erzielt worden wäre (Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 2. Aufl., Rdnr. 426). Im Streitfall liegt ein in diesem Sinne prüfungsrelevanter Verfahrensfehler nicht vor.

2. a) Das FG hat den von dem Kläger geltend gemachten Mangel des Prüfungsverfahrens zu Recht unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der Chancengleichheit geprüft. Der Grundsatz der Chancengleichheit als prüfungsrechtliche Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) verlangt, daß den Prüflingen Gelegenheit gegeben wird, ihre Prüfungsleistungen unter möglichst gleichartigen äußeren Prüfungsbedingungen zu erbringen. Die Chancengleichheit ist verletzt, wenn das Prüfungsverfahren durch äußere Einwirkungen (z.B. durch Lärm) erheblich gestört wird. Denn derartige Störungen sind geeignet, das Leistungsvermögen der Prüflinge zu beeinträchtigen und damit die der Störung ausgesetzte Gruppe gegenübr den nichtgestörten Prüflingen zu benachteiligen (vgl. Urteil des Senats vom 10. März 1992 VII R 87/90, BFHE 167, 480, 482, BStBl II 1992, 634 m.w.N.). Zu diesen äußeren Prüfungsbedingungen, die die Chancengleichheit wesentlich beeinträchtigen können, gehören insbesondere Umstände, die geeignet sind, die Konzentration des Prüflings zu stören, von denen aber andere Kandidaten, die zu anderer Zeit, an anderen Orten und unter anderen Umständen geprüft werden, nicht beeinträchtigt werden. Gleiches gilt, wenn durch einseitige Informationen (Indiskretionen) über Prüfungsthemen bei einem Teil der Prüflinge der Leistungsnachweis verfälscht oder zumindest Prüfungsangst und Unsicherheit wesentlich gemindert werden (Niehues, a.a.O., Rdnr. 404).

b) Das FG ist davon ausgegangen, daß durch die versehentliche Austeilung des Aufgabentextes für die Ertragsteuerklausur an die Prüfungskandidaten drei Tage vor dem Prüfungstag, an dem diese Arbeit anzufertigen war, die Chancengleichheit anderer Prüflinge, die - wie der Kläger - nicht vorzeitig in den Aufgabentext Einblick nehmen konnten, verletzt worden ist. Diese Entscheidung des FG steht in Widerspruch zu der Tatsachenwürdigung im Urteil des anderen Senats desselben Gerichts, auf dessen Beweisaufnahme das FG seine Entscheidung stützt, sowie zu den Feststellungen in den Urteilen anderer FG, die sich mit den Umständen und insbesondere der Dauer der vorzeitigen Ausgabe des Aufgabentextes der Ertragsteuerklausur an die Kandidaten befaßt haben. Insoweit verweist der Senat auf die den Beteiligten bekannten Urteile des FG München vom 31. Juli 1991 4 K 566/91, des FG Baden-Württemberg vom 25. August 1992 11 K 19/91 und des Hessischen FG vom 11. April 19091 13 K 466/91 (EFG 1991, 757).

Auch der erkennende Senat hatte wiederholt Gelegenheit, über die tatsächliche und rechtliche Würdigung der versehentlichen Austeilung der Aufgaben für die Ertragsteuerklausur für die Steuerberaterprüfung 1990 an eine bestimmte Prüfungsgruppe im Hinblick auf das prüfungsrechtliche Gebot der Chancengleichheit zu entscheiden. In seinem Urteil vom 27. Oktober 1992 VII R 4/92 (BFH/NV 1993, 692) hat der Senat die tatsächliche Würdigung der dortigen Vorinstanz gebilligt, nach der die kurzfristige vorzeitige Austeilung der Prüfungsaufgabe auf dem Gebiet der Ertragsteuern und die etwaige Weiterverbreitung daraus erlangter Informationen nicht geeignet waren, den darüber informierten Prüfungsteilnehmern nennenswerte Vorteile zu verschaffen, die sich auf die Prüfungsleistungen ausgewirkt haben könnten. Er hat dort ausgeführt, die Würdigung des FG, daß die Aushändigung der Ertragsteueraufgabe für maximal 10 Minuten an die Prüfungsteilnehmer angesichts des Umfangs der Aufgabe mit mehrseitigem Sachverhalt, Anlagen und umfangreicher Aufgabenstellung nicht ausgereicht habe, eine Übersicht über die Problemkreise zu gewinnen und den informierten Teilnehmern meßbare Vorteile für die Bearbeitung der Prüfungsklausur zu verschaffen, verstoße nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze und sei zumindest möglich. Ebenso hat der Senat im Urteil vom 27. Juli 1993 VII R 11/93, BFHE 172, 254, BStBl II 1994, 259 entschieden, bei dem die Vorinstanz - ebenfalls unter Berufung auf die Feststellungen anderer FG - zu dem streitigen Vorfall ausgeführt hatte, daß die spärliche (kurzfristige) Kenntnisnahme von dem Aufgabentext den Kandidaten allenfalls marginale Vorteile gebracht habe und die Wertung der Prüfungsarbeit der dortigen Klägerin dadurch nicht negativ beeinflußt worden sei.

Der Senat gelangt auch unter Berücksichtigung der tatsächlichen Feststellungen im Urteil des anderen Senats des FG, auf die die Vorinstanz ihre - abweichenden - Schlußfolgerungen stützt, zu dem Ergebnis, daß die vorzeitige Ausgabe der Ertragsteuerarbeit an eine bestimmte Prüfungsgruppe die Chancengleichheit der (anderen) Prüfungsteilnehmer nicht beeinträchtigt hat. An die entgegenstehenden Schlußfolgerungen der Vorinstanz ist der Senat nicht gebunden, da diese nicht durch entsprechende tatsächliche Feststellungen gedeckt sind und teilweise auf unzutreffenden rechtlichen Wertungen beruhen.

c) Der andere Senat des FG, auf dessen Feststellungen die Vorinstanz mangels eigener Beweiserhebung ihre Entscheidung stützt, hat eine umfangreiche Beweiserhebung über die Umstände der versehentlichen, vorzeitigen Austeilung der Ertragsteueraufgabe an die andere Prüfungsgruppe durchgeführt. Er hat aufgrund Zeugenbeweises festgestellt, daß das Versehen bereits während des Ausgabevorgangs bemerkt worden ist und die Aufgabentexte für die Ertragsteuerklausur noch vor ihrer Austeilung an alle Kandidaten des Prüfungsraums wieder eingesammelt worden sind. Nur zwei, höchstens aber vier Kandidaten, die beim ersten Einsammelvorgang übersehen worden waren, hatten nach den Feststellungen im Urteil des anderen Senats Gelegenheit, sich etwas längere Zeit - allenfalls 10 bis 15 Minuten - mit dem Aufgabentext der Ertragsteuerklausur zu beschäftigen, dies aber unter Umständen, die - wie das FG ausführt - subjektiv (Nervenanspannung des ersten Prüfungstages, Schock durch das Versehen der Ausgabe der falschen Prüfungsarbeit, Bewußtsein unkorrekten Handelns) und objektiv (Lärm und Erregungspegel der Teilnehmergruppe und der Aufsichtsführenden) alles andere als geeignet waren, einen klaren und aufnahmefähigen Geisteszustand herbeizuführen. Soweit bestimmte Kandidaten auf diese Weise ein Vorauswissen über die Ertragsteuerarbeit erlangt haben sollten, ist dieses nach den Feststellungen im Urteil des anderen Senats im allgemeinen verblieben und hat nicht zu einer signifikanten Anhebung des durchschnittlichen Leistungsniveaus geführt. Denn die Dauer und die Umstände der vorzeitigen Kenntnisnahme hätten es nicht gestattet, ein einigermaßen vollständiges Bild von der konkreten Aufgabe zu gewinnen und sich verläßlich einzuprägen. Der andere Senat des FG hat folglich einen prüfungsrelevanten Verfahrensfehler auch im Hinblick darauf verneint, daß sich mit der erforderlichen Sicherheit ausschließen lasse, daß der am 2. Oktober 1990 erfolgte Verfahrensverstoß die Benotung der vom (dortigen) Kläger erstellten Aufsichtsarbeit beeinflußt haben könne.

Der erkennende Senat hält diese Würdigung, die er bereits in seinen vorstehend zitierten Urteilen VII R 4/92 und VII R 11/93 für die im wesentlichen gleich lautenden Feststellungen der dortigen FG gebilligt hat, auch im Streitfall für rechtsfehlerfrei. Er ist auch der Auffassung, daß die vom FG bei einigen Kandidaten festgestellte allenfalls flüchtige Kenntnisnahme von gewissen Problemkreisen der vorzeitig ausgegebenen Ertragsteuerklausur - DBA - Schweiz, § 10e des Einkommensteuergesetzes, § 42a des Gesetzes betreffend Gesellschaften mit beschränkter Haftung, GmbH & Co. KG, Umwandlungssachverhalt - angesichts des Umfangs der Aufgabe mit mehrseitigem Sachverhalt, Anlagen und umfangreicher Fragestellung sowie den vom FG dargelegten Umständen und der kurzen Dauer der Aushändigung der Arbeit die Chancengleichheit der übrigen Prüfungsteilnehmer nicht verletzt hat.

d) Die Vorinstanz ist aufgrund derselben tatsächlichen Feststellungen zu einer anderen Schlußfolgerung gelangt.

aa) Sie hat eine Verletzung der Chancengleichheit deshalb für gegeben erachtet, weil die Prüfungsbehörde wissentlich nicht verhindert habe, daß die Aufsichtsarbeit Ertragsteuerrecht trotz des von einzelnen Prüfungsteilnehmern erlangten Vorauswissens zur Bearbeitung gegeben worden sei. Der Mangel des Prüfungsverfahrens könnte nach Auffassung des FG allenfalls dann als unerheblich angesehen werden, wenn ausgeschlossen werden könnte, daß das erlangte Vorauswissen den jeweiligen Prüfungsteilnehmern meßbare Vorteile gebracht habe. Dahingehende Feststellungen könnten aber auch unter Ausschöpfung aller denkbaren Beweismittel nicht getroffen werden.

Die vorstehenden Ausführungen des FG werden von den tatsächlichen Feststellungen im Urteil des anderen Senats auf dessen Beweiserhebung sich die Vorinstanz stützt, nicht gedeckt. Für eine wissentlich rechtswidrige Begünstigung der Prüfungsteilnehmer, die infolge der versehentlich vorzeitigen Austeilung der Ertragsteueraufgabe in diese Einblick nehmen konnten, durch die Prüfungsbehörde finden sich im Urteil des anderen Senats und in der Vorentscheidung keine Anhaltspunkte. Wie oben ausgführt, ist der Irrtum hinsichtlich der für den 2. Oktober 1990 vorgesehenen Prüfungsaufgabe bereits während der Austeilung der Arbeit bemerkt worden, worauf die Aufgabentexte für die Ertragsteuerklausur unverzüglich wieder eingesammelt worden sind. Das Finanzministerium hat im vorliegenden Verfahren - auch bereits vor dem FG - unwidersprochen darauf hingewiesen, daß die Prüfungskandidaten in der Pädagogischen Hochschule angewiesen worden seien, die Aufgaben solange ungeöffnet vor sich liegen zu lassen, bis alle Teilnehmer einen Aufgabentext in Händen hätten. Für die Richtigkeit dieses Vorbringens spricht eine weit verbreitete Praxis bei schriftlichen Prüfungen sowie die Ausführungen über das Bewußtsein unkorrekten Handelns bei den Teilnehmern, die in den Aufgabentext Einsicht genommen haben, im FG-Urteil des anderen Senats. Das spricht dafür, daß die Aufsichtsführenden und die Prüfungsbehörde davon ausgehen konnten, daß trotz der kurzfristigen Aushändigung der Ertragsteueraufgabe an einen Teil der Kandidaten diese daraus keinen nennenswerten Vorteil (Vorauswissen) gegenüber anderen Prüflingen erlangen konnten. Für eine Berechtigung zur Annahme, die mögliche Kenntnisnahme von dem beigefügten DBA-Schweiz als Hilfsmittel sei für sich allein gesehen geeignet, einen prüfungsrelevanten Vorteil zu begründen, sind Anhaltspunkte nicht vorhanden. Ein Anlaß dafür, die versehentlich vorzeitig ausgeteilte Prüfungsaufgabe für die Ertragsteuerklausur durch eine andere Arbeit zu ersetzen, ist daher auch unter Berücksichtigung des bundeseinheitlichen, kurzfristig festgelegten Prüfungstermins (5. Oktober 1990) nicht ersichtlich. Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz kann somit dem Festhalten an der vorgesehenen Ertragsteuerklausur durch die Prüfungsbehörde keine wissentliche Begünstigung einzelner und damit die Verletzung der Chancengleichzeit aller Prüflinge entnommen werden. Daß einzelne - höchstens vier - Prüflinge entgegen den Anweisungen der Aufsichtsführenden doch für 10 bis 15 Minuten Einblick in den versehentlich ausgeteilten Aufgabentext genommen haben, kann der Prüfungsbehörde für den Zeitraum ihrer Entscheidung nicht zum Vorwurf gemacht werden, da diese Tatsache erst im nachfolgenden finanzgerichtlichen Verfahren festgestellt worden ist. Im Streitfall sind somit - wie die Revision zu Recht vorträgt - die Ausführungen im Beschluß des BVerwG vom 3. Oktober 1986 7 B 89.86 (Buchholz, Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts - Buchholz - 421.0 Nr. 232) zu beachten. Danach erleidet die Chancengleichheit eines Prüflings durch Täuschungshandlungen von Mitprüflingen (hier: unbefugtes Einsehen der Prüfungsaufgabe entgegen den Anordnungen des Aufsichtführenden), selbst wenn sie durch eine mangelhafte Prüfungsorganisation ermöglicht worden sind, keinen Schaden, solange sein eigenes Prüfungsverfahren korrekt verläuft und seine eigenen Prüfungsleistungen ordnungsgemäß bewertet werden. Daß das Prüfungsverfahren des Klägers nicht korrekt verlaufen und seine eigenen Prüfungsleistungen nicht ordnungsgemäß bewertet worden sind, ist weder vorgetragen worden noch ersichtlich. Aus dem FG-Urteil des anderen Senats ergibt sich vielmehr, daß selbst eine verbesserte Startposition der Prüfungsteilnehmer, die vorzeitig in den Aufgabentext der Ertragsteuerklausur Einblick nehmen konnten, die Bewertung der Arbeit der anderen Prüflinge nicht nachteilig beeinflussen konnte, weil das Bewertungsschema der Aufsichtsarbeit bereits vor Prüfungsbeginn festgelegt war und später nicht verändert worden ist. Der Streitfall unterscheidet sich demnach von den in der Vorentscheidung zitierten Rechtsprechungsbeispielen über die Verletzung der Chancengleichheit (vgl. zur Gleichartigkeit der Hilfsmittel: BVerwG-Urteil vom 13. Oktober 1972 VII C 17.71, BVerwGE 41, 34, und Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 27. August 1980 VII R 40/80, BFHE 131, 422, BStBl II 1980, 760; zur Vorbereitung eines Prüflings durch pri-vaten Nachhilfeunterricht eines Prüfers: BVerwG-Beschluß vom 16. Januar 1984 7 B 169.83, Buchholz 421.9 Nr. 189) wesentlich dadurch, daß hier ein Prüfungsvorteil (Vorauswissen) bestimmter Kandidaten nur auf unrechtmäßige Weise und gegen den Willen und die Kenntnis der Prüfungsbehörde erlangt sein kann.

Im übrigen hat das FG selbst rechtsfehlerfrei ausgeführt, daß der hier vorliegende Mangel des Prüfungsverfahrens dann unerheblich sei, wenn ausgeschlossen werden könne, daß das erlangte Vorauswissen den jeweiligen Prüfungsteilnehmern einen meßbaren Vorteil gebracht habe. Nach den Feststellungen im Urteil des anderen Senats des FG sowie anderer FG, die zu Revisionsverfahren geführt haben, kann nicht davon ausgegangen werden, daß die durch die vorzeitige Austeilung der Ertragsteueraufgabe erlangten Informationen geeignet waren, den begünstigten Prüfungsteilnehmern nennenswerte Vorteile zu verschaffen. Da das FG in der Vorentscheidung die Richtigkeit dieses tatsächlichen Umstandes auch für den Streitfall nicht in Frage gestellt hat, fehlt es an einem Anhaltspunkt, der es rechtfertigen könnte, den Ausschluß eines meßbaren Vorteils in Zweifel zu ziehen. Es ist vor allem nicht ersichtlich, weshalb zu einem solchen Ausschluß zusätzliche Feststellungen erforderlich sind.

bb) Soweit das FG ausführt, es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die Verletzung der Chancengleichheit sich auf das Prüfungsergebnis des Klägers ausgewirkt habe, weil es denkbar sei, daß er sich mit den von den anderen Kandidaten erlangten Vorkenntnissen über den Inhalt der Aufgabe in der Ertragsteuerklausur um eine halbe Note hätte steigern können, vermag der Senat dem aus rechtlichen Gründen nicht zu folgen. Der Grundsatz der Chancengleichheit kann nicht dazu führen, daß ein Kandidat, dessen Prüfungsverfahren und dessen Bewertung der Prüfungsleistungen für sich gesehen nicht zu beanstanden sind, nur deshalb einen Prüfungsvorteil erhält, weil ihn sich andere Prüfungsteilnehmer auf rechtswidrige Weise verschafft haben. Denn ein Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht wird von der Rechtsordnung nicht anerkannt. Im übrigen kann - wie oben ausgeführt - nach den Gesamtumständen und der Dauer des Vorfalls in der vorzeitigen kurzfristigen Austeilung der Aufgabentexte für die Ertragsteuerklausur an eine bestimmte Prüfungsgruppe eine der Prüfungsbehörde zurechenbare Verletzung der Chancengleichheit der Prüflinge nicht gesehen werden. Ein prüfungsrelevanter Verfahrensmangel, der die Aufhebung des gegen den Kläger ergangenen Prüfungsbescheides gerechtfertigt hätte, lag somit nicht vor.

3. Das FG beruft sich bei seiner gegenteiligen Entscheidung auch auf die psychische Belastung (Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit), die beim Kläger dadurch eingetreten sei, daß er am Abend des ersten Prüfungstages von dem Vorfall Kenntnis erlangt habe. Der erkennende Senat hat im Urteil vom 27. Juli 1993 VII R 11/93 für einen vergleichbaren Sachverhalt - Teilnahme einer Wiederholerin an der Steuerberaterprüfung 1990 - eine prüfungsrelevante Verletzung der Chancengleichheit, die das FG darin gesehen hatte, daß bei der Kandidatin wegen ihrer Kenntnis von der versehentlichen vorzeitigen Austeilung der Ertragsteuerklausur an eine Prüfungsgruppe und der von ihr angenommenen Begünstigung der dortigen Kandidaten eine leistungsmindernde psychische Belastung eingetreten sei, verneint. Das muß auch für den Streitfall gelten.

Ferner hat der Senat in dem genannten Urteil entschieden, daß der geltend gemachte Verfahrensmangel der psychischen Beeinträchtigung der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit durch den bekannt gewordenen Vorfall im gerichtlichen Verfahren nicht mehr geltend gemacht werden kann, wenn er nicht - wie in § 20 Abs. 4 DVStB vorgeschrieben - unverzüglich, spätestens bis zum Ende der Bearbeitungszeit der betreffenden Aufsichtsarbeit, durch Erklärung gegenüber dem Aufsichtsführenden gerügt wird. Auch im Streitfall ist eine psychische Beeinträchtigung des Klägers durch äußere Einwirkungen in den Prüfungsablauf (hier: Verschaffung eines Informationsvorteils für bestimmte Mitprüflinge) während des Prüfungsverfahrens nicht gerügt worden, so daß ein etwa darin liegender Verfahrensfehler nunmehr nicht mehr berücksichtigt werden kann. Wegen der Begründung dieser Rechtsauffassung im einzelnen nimmt der Senat auf seine Entscheidung VII R 11/93 Bezug.

4. Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist das Urteil des FG, das auf einer anderen Rechtsauffassung beruht, aufzuheben. Die Klage gegen die Prüfungsentscheidung des Finanzministeriums ist abzuweisen, da die Prüfung des Klägers nicht mit einem Verfahrensmangel behaftet ist (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).

Die von den Beteiligten ferner aufgeworfene Frage, ob der Rechtsschutz des Klägers dadurch verkürzt worden ist, daß seine Einwendungen gegen das Prüfungsverfahren nicht in einem eigenständigen Widerspruchsverfahren von der Verwaltung geprüft worden sind, ist zu verneinen.

Im Streitfall war gegen den Prüfungsbescheid die unmittelbare Anrufung des FG mit der Anfechtungsklage zulässig, weil dieser von der obersten Finanzbehörde eines Landes erlassen worden ist, gegen deren Verwaltungsakt ein außergerichtlicher Rechtsbehelf (hier allenfalls die Beschwerde) nicht gegeben ist (§ 44 Abs. 1 FGO i.V.m. § 164a Abs. 1 des Steuerberatungsgesetzes, § 349 Abs. 3 der Abgabenordnung). Die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluß vom 17. April 1991 1 BvR 419/81 und 213/83, BVerfGE 84, 34, 45ff.) und des BVerwG (Urteil vom 24. Februar 1993 6 C 35.92, Deutsches Verwaltungsblatt 1993, 842) verlangt zwar im Hinblick auf einen effektiven Grundrechtsschutz in Prüfungsangelegenheiten zum Ausgleich für die nur eingeschränkt mögliche Kontrolle von Prüfungsentscheidungen durch die Verwaltungsgerichte ein eigenständiges verwaltungsinternes Kontrollverfahren zum Zwecke des Überdenkens prüfungsspezifischer Wertungen durch die betroffenen Prüfer, denen insoweit weiterhin ein Entscheidungsspielraum verbleibt. Sie kommt aber im Streitfall deshalb nicht zur Anwendung, weil der Kläger keine Einwendungen gegen die Bewertung seiner Prüfungsleistungen erhoben hat. Er beruft sich vielmehr allein auf einen Verfahrensmangel des Prüfungsverfahrens (Rechtsfehler), der von den FG uneingeschränkt überprüft werden kann und bei dem es folglich eines Überdenkens durch den betroffenen Prüfer (wie bei prüfungsspezifischen Bewertungen) in einem besonderen Verwaltungsverfahren nicht bedarf. Die fehlende Durchführung eines Widerspruchsverfahrens oder eines sonstigen Verwaltungsverfahrens stellt somit keine Rechtsverletzung des Klägers dar (vgl. Urteil des Senats vom 27. Juli 1993 VII R 11/93).

 

Fundstellen

Haufe-Index 419568

BFH/NV 1994, 580

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