Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Verwirkung des Steueranspruchs; Übersehen einer geänderten ESt-4-Mitteilung

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Steueranspruch wird nicht allein dadurch verwirkt, daß die Finanzbehörde jahrelang untätig bleibt. Die Verwirkung setzt vielmehr zusätzlich ein bestimmtes Verhalten der Behörde und einen hierdurch geschaffenen Vertrauenstatbestand beim Steuerpflichtigen voraus.

2. Wertet das FA einen Bescheid über gesondert festgestellte Besteuerungsgrundlagen erst vier Jahre nach seinem Ergehen aus, kann sich der Steuerpflichtige insbesondere dann nicht auf Treu und Glauben berufen, wenn die Aktenlage aus seiner Sicht widersprüchlich ist.

 

Normenkette

RAO § 1 146a Abs. 3, § 218 Abs. 4 (§ 175 Abs. 1 Nr. 1)

 

Verfahrensgang

FG Baden-Württemberg

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist Alleinerbin nach ihrem im Jahre 1973 verstorbenen Ehemann Dr.med.A. Sie hatte am 11.Februar 1974 die Einkommensteuer-Erklärung für das Streitjahr 1972 abgegeben und Zusammenveranlagung mit ihrem verstorbenen Ehemann beantragt. In dieser Erklärung bezifferte sie die Verluste aus fünf Beteiligungsgesellschaften auf insgesamt ./. 288966 DM (hierin enthalten ./. 62097 DM aus der Beteiligung an der C-KG). Bei zwei weiteren Gesellschaften, darunter die Leasing Gesellschaft D-KG, gab sie nur Firmenbezeichnung, Sitz und Steuernummer an mit dem Zusatz, daß noch keine Verlustmitteilungen vorlägen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) setzte in dem nach § 100 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung (AO) vorläufigen Bescheid vom 5. September 1974 die Verluste wie erklärt an.

In dem nach § 225 AO berichtigten endgültigen Bescheid vom 11.August 1976 setzte das FA die Verluste aus Gewerbebetrieb mit ./. 290085 DM an; hierin war ein Verlust aus der Beteiligung an der C-KG in der erklärten Höhe von ./. 62097 DM enthalten.

Am 28. Mai/20. November 1979 änderte das zuständige Betriebs-Finanzamt die Gewinnfeststellungen 1972 bis 1977 für die C-KG; für das Jahr 1972 wurde ein auf A entfallender Verlustanteil in Höhe von ./. 3120 DM festgestellt. Die diesbezügliche Sammelmitteilung hierüber ging dem FA am 4./7. Januar 1980 zu.

Mit Bescheiden vom 3. August/4. September 1981 änderte das FA die Einkommensteuerbescheide 1973 bis 1977 nach § 175 Abs. 1 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977). Die entsprechenden Eingabebogen wurden von der Sachbearbeiterin am 6. Juli bzw. 7. Juli 1981 abschließend gezeichnet. Dabei wurden die Verlustzahlen 1973 bis 1977 in der Sammelmitteilung des Betriebs-Finanzamts ,,abgehakt" und mit Namenszeichen und Datum versehen. Das FA fertigte eine ,,Anlage zum Einkommensteuer-Bescheid 1972 - 77 + 79", in welcher die Änderung bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb wie folgt erläutert wurde:

,,72-77: Die Änderung erfolgt aufgrund der Mitteilung des Finanzamts . . . über den Verlust aus der Beteiligung an der C-KG."

Tatsächlich ist der Bescheid für 1972 damals nicht geändert worden. Die Anlage wurde zunächst versehentlich nicht abgesandt. Dies wurde mit Schreiben vom 9. November 1981 nachgeholt.

Am 24. Januar 1983 erhielt das FA eine Sammelmitteilung des für die D-KG zuständigen Betriebs-Finanzamts u.a. über einen Verlustanteil 1972 in Höhe von ./.18296 DM. Eine Auswertung der Mitteilung für die Jahre 1970 bis 1971 führte zu beträchtlichen Steuernachzahlungen.

Mit Schreiben vom 1. Juli 1983 wies die Klägerin das FA u.a. darauf hin, daß ausweislich der Bescheidanlage ihr für 1972 bis 1975 Verluste aus der Beteiligung an der D-KG zuzurechnen seien, Verluste, die in den Steuererklärungen nicht beziffert worden seien und die - soweit nachvollziehbar - in den bisherigen Steuerbescheiden nicht von Amts wegen berücksichtigt worden seien; es werde um Überprüfung gebeten.

Unter dem 25. Juli 1983 erging ein geänderter Einkommensteuerbescheid für 1972, in dem Verluste aus Gewerbebetrieb in Höhe von insgesamt ./.249405 DM angesetzt waren. Dem Bescheid war keine Anlage beigefügt. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Einspruch ein; es sei ihr unverständlich, warum sie fortlaufend geänderte Bescheide erhalte, die nicht näher erläutert würden.

Unter dem 11.August 1983 übersandte das FA eine Zusammenstellung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb für die Jahre 1971 bis 1975 auf der Grundlage der aktuell vorliegenden Mitteilungen der Betriebs-Finanzämter. Da die Klägerin nicht mehr im Besitz ihrer vollständigen Steuerunterlagen für das Jahr 1972 war, bat sie das FA mitzuteilen, bei welchen Verlustanteilen sich Änderungen ergeben hätten und ob der Verlustanteil 1972 aus der Beteiligung an der D-KG berücksichtigt sei. Dieser Bitte kam das FA mit Schreiben vom 5. September 1983 nach. Hierauf schrieb die Klägerin, sie könne nunmehr ersehen, daß der ursprünglich anerkannte Verlust aus der Beteiligung an der C-KG von ./.62097 DM auf ./.3120 DM gekürzt worden sei. Laut ,,Anlage zu dem geänderten ESt-Bescheid für 1972 - 77 + 79" müßten diese Änderungen jedoch schon berücksichtigt worden sein. Sie bitte um Überprüfung. Das FA teilt daraufhin mit, die geänderte Sammelmitteilung über die Beteiligung an der C-KG sei bislang nur für die Jahre 1973 bis 1977 ausgewertet worden, da die Altakten infolge einer amtsinternen Umstellung damals nicht auffindbar gewesen seien.

Nunmehr begründete die Klägerin ihren Einspruch unter Hinweis auf die ihrer Ansicht nach zwischenzeitlich eingetretene Verjährung und Verwirkung. Aufgrund der am 9. November 1981 übersandten ,,Anlage" habe sie annehmen müssen, daß sich aufgrund der Sammelmitteilung für 1972 keine Änderung ergeben habe. Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück.

Das Finanzgericht (FG) hat der Klage stattgegeben. Es hat u.a. ausgeführt:

Die Einkommensteuer 1972 sei zwar nicht verjährt. Das FA habe aber das Recht verwirkt, den geänderten Verlust 1972 an der C-KG zu berücksichtigen. Das FA habe die Klägerin in den Glauben versetzt, sie habe eine Änderung der Einkommensteuer-Veranlagung 1972 ,,im Hinblick auf eine endgültige Feststellung der Einkünfteanteile an der C-KG" nicht mehr zu erwarten. Gerade weil die ,,Anlage zum ESt-Bescheid 1972 - 77 +79" die einzelnen Verlustbeträge nicht näher aufgeschlüsselt habe, habe die Klägerin annehmen müssen, ,,daß die vom Betriebsfinanzamt mitgeteilte endgültige Verlustbeteiligung 1972 der dem ESt-Bescheid 1972 vom 11.August 1976 zugrundegelegten Verlustbeteiligung entsprach". Auch mit Hilfe dieser Anlage habe die Klägerin die Änderungen nicht im einzelnen nachvollziehen, sondern nur ,,gläubig hinnehmen" können, was sie auch getan habe. Der Klägerin könne keine selbstverschuldete ,,Desinformation" angelastet werden. Vielmehr wäre das FA verpflichtet gewesen, die Änderungsbescheide nachvollziehbar zu begründen. Es sei allgemein bekannt, daß Beteiligte an Publikums-Personengesellschaften Mitteilungen über geänderte Verlustbeteiligungen weder vom Betriebs-Finanzamt noch von der Gesellschaft erhielten. Der ,,Anlage" und dem Begleitschreiben vom 9. November 1981 habe die Klägerin nur einen Hinweis auf die bereits vollzogenen Änderungen, keinesfalls aber einen Vorbehalt hinsichtlich einer nachfolgenden Änderung des Einkommensteuerbescheides 1972 entnehmen können. Sie habe vielmehr davon ausgehen müssen, daß das FA den Einkommensteuerbescheid 1972 aufgrund der ihm zugegangenen, die C-KG betreffenden Verlustmitteilung für 1972 nicht ändern würde. Daß das FA noch am 9. November 1981 die Absicht gehabt habe, den Einkommensteuerbescheid 1972 im Hinblick auf die geänderte Verlustbeteiligung bei der C-KG zu ändern, könne nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht angenommen werden; vielmehr sei die Sammelmitteilung vom 4./7. Januar 1980 in den Akten abgeheftet und als erledigt betrachtet worden. Auch gebe es keine Anhaltspunkte dafür, daß das FA nach dem 9. November 1981 nach den Akten gesucht habe. Diese Akten seien auch schon in der Zeit vom 9. November 1981 bis zum 31. Dezember 1983 verfügbar gewesen. In die im November 1981 durch die Zusendung der ,,Anlage" geschaffene Vertrauensposition habe das FA im August 1983 - also nach Ablauf einer ,,gewissen Zeit", in der sich das Vertrauen der Klägerin habe verfestigen müssen - nicht ohne Verletzung der Grundsätze von Treu und Glauben eingreifen können.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 175 Abs. 1 Nr.1 AO 1977 und der Rechtsgrundsätze über die Verwirkung von Steueransprüchen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Der Steueranspruch war entgegen der Auffassung des FG im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Einkommensteuerbescheides noch nicht verwirkt.

1. Nach § 175 Abs. 1 Nr.1 AO 1977 ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO 1977), dem Bindungswirkung für diesen Bescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Die Bindungswirkung eines Grundlagenbescheides bedeutet, daß das für den Erlaß eines Folgebescheides zuständige Finanzamt verpflichtet ist, die Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. April 1988 IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711).

2. Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, daß die Verjährung der vor dem 1. Januar 1977 entstandenen Steueransprüche nach §§ 145 ff. AO zu beurteilen ist (Art.97 § 10 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung - EGAO 1977 -). Im Streitfall war der Ablauf der Verjährung durch § 146a Abs. 3 AO gehemmt (s. hierzu BFH-Urteil vom 10. August 1989 III R 5/87, BFHE 158, 109, 112f., BStBl II 1990, 38).

3. Der Steueranspruch war auch nicht verwirkt.

a) In § 146a Abs. 3 AO ist keine Frist bestimmt, in der die Betriebsprüfung abzuschließen und die Steuerbescheide zu erlassen sind. Der Gesetzgeber hat verzichtet, in dieser Hinsicht eine zeitliche Begrenzung vorzusehen (BFH-Urteile vom 3. Mai 1979 I R 49/78, BFHE 128, 364, BStBl II 1979, 738; vom 19. Dezember 1979 I R 23/79, BFHE 129, 462, BStBl II 1980, 368, m.w.N. der Rechtsprechung; BFH-Urteil vom 20. Juli 1988 I R 81/84, BFH/NV 1989, 78). Allein dadurch, daß eine Finanzbehörde jahrelang untätig bleibt und einen Grundlagenbescheid nicht auswertet (,,Zeitmoment" der Verwirkung), wird der Steueranspruch in der Regel nicht verwirkt (Urteil in BFHE 129, 462, 465, BStBl II 1980, 368). Eine Verwirkung setzt vielmehr zusätzlich ein bestimmtes Verhalten des Anspruchsberechtigten und einen hierdurch geschaffenen Vertrauenstatbestand beim Verpflichteten voraus.

Ferner fordert die Rechtsprechung für den Tatbestand der Verwirkung eine Vertrauensfolge in dem Sinne, daß sich der Verpflichtete auf die Nichtgeltendmachung des Steueranspruchs auch tatsächlich eingerichtet - nicht nur gedanklich eingestellt - hat, so daß ihm wegen der von ihm getroffenen oder unterlassenen Maßnahmen oder Vorkehrungen die Zahlung der nachträglich doch noch festgesetzten Steuer nicht mehr zugemutet werden kann. Hierbei ist insbesondere zu prüfen, ob dem Steuerpflichtigen durch die an sich dem Gesetz entsprechende Inanspruchnahme erhebliche Nachteile entstehen würden, die er bei einem zeitnahen Tätigwerden der Finanzbehörde nicht erlitten hätte.

Bei der Beurteilung dieser Voraussetzungen ist von dem Grundsatz auszugehen, daß jeder Schuldner seine Verpflichtungen erfüllen muß und nur unter ganz besonderen Umständen schon vor Ablauf der Verjährung einwenden kann, seine Inanspruchnahme verstoße gegen Treu und Glauben (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 7. Juni 1984 IV R 180/81, BFHE 141, 451, BStBl II 1984, 780).

b) Ein besonders liegender Ausnahmefall, bei dem Verwirkung bereits infolge Zeitablaufs zu bejahen wäre, liegt im Streitfall nicht vor. Das BFH-Urteil vom 24. Juni 1988 III R 177/85 (BFH/NV 1989, 351, mit Nachweisen der Rechtsprechung) hat hierfür einen Zeitraum von sieben Jahren zwischen Erlaß des Grundlagenbescheides und des Folgebescheides nicht ausreichen lassen.

c) Das FA hat keinen Vertrauenstatbestand geschaffen.

Zwar mag zutreffen, daß das FA die Folgeänderung des Einkommensteuerbescheides 1972 ,,aus dem Blick verloren" hat. Auch war die ,,Anlage zum ESt-Bescheid 1972 - 1977 + 1979" möglicherweise geeignet, die irrtümliche Annahme zu fördern, für das Jahr 1972 sei der aufgrund der Betriebsprüfung geänderte Feststellungsbescheid bei der C-KG bereits ausgewertet worden. Gleichwohl muß der Klägerin und ihrem verstorbenen Ehemann das Wissen darüber zugerechnet werden, daß das Finanzamt . . . einen die C-KG betreffenden geänderten Feststellungsbescheid für 1972 erlassen hatte. Dieser Feststellungsbescheid ist nach seinem Inhalt für die Gesellschafter bestimmt und an diese adressiert. Wenn der Bescheid dem Bevollmächtigten bekanntgemacht wird und den Inhaltsadressaten nicht erreicht, kann letzterer sich nicht darauf berufen, er habe von dem Erlaß eines solchen Bescheides nichts gewußt und aus diesem Grunde nicht mit Steuernachforderungen gerechnet. Auch mußte der Klägerin und ihrem Ehemann bekannt

sein, daß bis zum Jahre 1983 ein geänderter Einkommensteuerbescheid für 1972 tatsächlich nicht ergangen war, so daß die diesen Veranlagungszeitraum betreffende - mißverständliche - Erläuterung in der ,,Anlage" zu einer die Einkommensteuer 1972 betreffenden Änderung keinen konkreten Bezug hatte. Insoweit war die Aktenlage aus der Sicht der Steuerpflichtigen widersprüchlich. Entgegen der Auffassung des FG hat das FA dadurch, daß es eine spätere Änderung des Einkommensteuerbescheides für 1972 nicht ausdrücklich - etwa in dem Begleitschreiben vom 9. November 1981 - vorbehalten hat, keinen Vertrauenstatbestand geschaffen.

3. Da das FG von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist und sich seine Entscheidung auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend erweist, war das angefochtene Urteil aufzuheben. Die spruchreife Klage ist abzuweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 418815

BFH/NV 1993, 454

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