Entscheidungsstichwort (Thema)

Einfuhrabgabenentstehung durch Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung; zehnjährige Verjährungsfrist für hinterzogene Einfuhrabgaben

 

Leitsatz (NV)

1. Der Begriff des Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung umfasst jede Handlung oder Unterlassung, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Artikel 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird.

2. Die Tatsachenwürdigung des FG ist revisionsrechtlich nur daraufhin zu überprüfen, ob sie mit den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen vereinbar ist. Der Umstand, dass auch eine andere Würdigung der Tatsachen möglich erscheint, macht die vom FG vorgenommene, auf seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung beruhende Tatsachenwürdigung nicht rechtsfehlerhaft.

3. Die zehnjährige Festsetzungsfrist gemäß § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 gilt für objektiv hinterzogene Steuern; die Vorschrift setzt nicht voraus, dass der Steuerschuldner selbst oder die Person, deren er sich zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten bedient, die Steuerhinterziehung begangen hat. Ist dies jedoch der Fall, kommt für den Steuerpflichtigen ein Exkulpationsbeweis nach § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 nicht in Betracht.

4. Die Person i.S. des § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977, deren der Steuerschuldner sich zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten bedient, ist jede Person, die mit dem Wissen und Wollen des Steuerschuldners in dessen steuerlichen Pflichtenkreis tätig wird; auf eine Weisungsgebundenheit gegenüber dem Steuerschuldner kommt es nicht an.

 

Normenkette

AO 1977 § 169 Abs. 2 Sätze 2-3; ZK Art. 203 Abs. 1, 3, Art. 221 Abs. 3 S. 2, Abs. 4

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf (Urteil vom 06.08.2003; Aktenzeichen 4 K 7378/01 Z,EU)

 

Tatbestand

I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) verkaufte von Oktober bis Dezember 1995 vier Warensendungen Speichermodule an die Fa. T. Geschäftsführerin der T war die Ehefrau des X, der allerdings faktisch selbst die Geschäfte führte. Empfänger der Waren sollte die Fa. C, Istanbul, sein, die ebenfalls faktisch von X geführt wurde. Die Klägerin entnahm alle vier Warensendungen dem ihr bewilligten Zolllager, stellte den Kaufpreis der T in Rechnung und übergab die Waren der ersten, zweiten und vierten Sendung der T bzw. X und die Waren der dritten Sendung einer mit dem Transport beauftragten Spedition. In ihren Rechnungen wies die Klägerin darauf hin, dass die Waren nur für Exportzwecke in die Türkei bestimmt seien und dass sich die T verpflichte, sich durch ihren Spediteur die Ausfuhr bescheinigen zu lassen.

Die erste Warensendung (Rechnung der Klägerin vom 13. Oktober 1995 für 3 000 Speichermodule) wurde nach ihrer Übergabe an X von der Klägerin beim Zollamt F des Beklagten und Revisionsbeklagten (Hauptzollamt --HZA--) zur Ausfuhr angemeldet. Eine Beschau fand nicht statt.

Für die zweite Warensendung (Rechnung der Klägerin vom 2. November 1995 für 1 600 Speichermodule) ließ die Klägerin --vertreten durch eine Spedition-- am 3. November 1995 ein gemeinschaftliches Versandverfahren eröffnen. Das Zollamt S bescheinigte die Ausfuhr unter dem 4. November 1995; eine Beschau fand nicht statt.

Die dritte Warensendung (Rechnung der Klägerin vom 14. November 1995 für 3 000 Speichermodule) meldete die Klägerin beim HZA zur Ausfuhr an. Die Waren wurden nach ihrer Übernahme durch die Spedition im Versandverfahren zum Frachtzentrum Flughafen befördert.

Die vierte Warensendung (Rechnung der Klägerin vom 11. Dezember 1995 für 3.500 Speichermodule) meldete die Klägerin beim HZA zum gemeinschaftlichen Versandverfahren und zur Ausfuhr an.

Im Rahmen von Ermittlungen des Zollfahndungsamts (ZFA) gegen X und dessen Ehefrau, die beide flüchtig sind, übersandten die türkischen Zollbehörden auf ein Rechtshilfeersuchen 37 Zollanmeldungen der Fa. C. Die Ermittlungen führten zu dem Ergebnis, dass X angeblich in die Türkei ausgeführte Waren, zu denen auch die hier streitigen gehörten, tatsächlich nicht ausgeführt hatte.

Das HZA schloss sich dem Ermittlungsergebnis an und setzte mit Steuerbescheid vom 13. Oktober 2000 Einfuhrabgaben (Zoll und Einfuhrumsatzsteuer) für die o.g. vier Warensendungen gegen die Klägerin fest. Auf die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage hob das Finanzgericht (FG) den Steuerbescheid insoweit auf, als Einfuhrabgaben für die dritte Warensendung festgesetzt worden waren. Im Übrigen wies das FG die Klage ab und urteilte insoweit, dass die Waren dieser Sendungen nicht in die Türkei ausgeführt worden seien. Die Vermutung des Art. 71 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften --ZK-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- Nr. L 302/1) sei widerlegt. Es sei davon auszugehen, dass die Waren im Zollgebiet der Gemeinschaft verblieben seien, ohne dass der Ort ihres Verbleibes habe festgestellt werden können; sie seien damit der zollamtlichen Überwachung entzogen worden, was zur Entstehung der Abgabenschuld geführt habe. Abgabenschuldnerin sei die Klägerin, da sie als Inhaberin des Zolllagers bzw. als Hauptverpflichtete der Versandverfahren die sich entweder aus dem Zolllagerverfahren oder den anschließenden Versandverfahren ergebenden Pflichten nicht eingehalten habe. Es komme somit nicht darauf an, ob die Waren bereits während des Zolllagerverfahrens oder erst während der --in zwei Fällen-- sich anschließenden von der Klägerin eröffneten Versandverfahren der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien. Es sei auch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, da die Einfuhrabgaben hinterzogen worden seien und die Festsetzungsfrist somit nach Art. 221 Abs. 3 ZK i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zehn Jahre betrage. Die Klägerin könne sich insoweit nicht nach § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 exkulpieren. Sie habe sich zur Erfüllung ihrer Pflichten im Zolllagerverfahren bzw. im Versandverfahren des X bzw. seiner Mitarbeiter bedient; jedenfalls aber habe sie nicht die im Verkehr erforderlichen Vorkehrungen zur Verhinderung von Steuerverkürzungen unternommen.

Mit der Revision macht die Klägerin geltend, dass das Urteil des FG Bundesrecht, nämlich Art. 203 Abs. 1 und Abs. 3 Anstrich 4 ZK sowie § 169 Abs. 2 AO 1977, verletze.

Der Bundesfinanzhof (BFH) habe es mit seinem Vorlagebeschluss vom 17. Juli 2001 VII R 99/00 (BFHE 195, 481) als zweifelhaft angesehen, ob bei Waren, welche aus einem Zolllager wieder ausgeführt würden, ein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung allein darin zu sehen sei, dass die Waren im unmittelbaren Anschluss an ihre Entfernung aus dem Zolllager nicht zum Versandverfahren abgefertigt worden seien. Die Notwendigkeit, die Waren im Versandverfahren befördern zu müssen, könne als Förmlichkeit angesehen werden, deren Nichtbeachtung kein Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung bedeute. Das FG habe diese Rechtsprechung im Streitfall als nicht einschlägig angesehen, da die Waren nicht in die Türkei gelangt seien; diese Annahme des FG sei jedoch unzutreffend. Bei richtiger Würdigung aller Umstände hätte das FG nur zu dem Ergebnis kommen können, dass die Waren tatsächlich das Zollgebiet der Gemeinschaft verlassen hätten. Für die zweite und vierte Sendung stehe dies aufgrund der Ausfuhrnachweise und der entsprechenden türkischen Zollbelege fest. Bei der ersten Sendung könnte es wegen der fehlenden türkischen Zollbelege zwar zweifelhaft sein, ob die Waren in der Türkei angekommen seien; sie hätten jedoch nach der Bescheinigung des Zollamts F unzweifelhaft das Zollgebiet der Gemeinschaft verlassen.

Hinsichtlich einer möglichen Exkulpation gemäß § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 habe das FG zu Unrecht angenommen, dass X eine Person gewesen sei, deren sie (die Klägerin) sich zur Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten bedient habe. Die Vorschrift meine hiermit nur eine solche Person, die dem Steuerschuldner gegenüber weisungsgebunden oder jedenfalls von diesem mit der Erfüllung der steuerlichen Pflichten beauftragt worden sei. X sei jedoch nur ihr Vertragspartner gewesen und sei auch zur Durchführung der Zollformalitäten von ihr weder bevollmächtigt noch hiermit beauftragt worden. Sie habe auch keinen Vermögensvorteil durch die Tat erlangt, da sie bei der Berechnung ihrer Verkaufspreise den Zoll berücksichtige und somit aus dem Verkauf verzollter Ware keinen geringeren Gewinn erziele als aus dem Verkauf unverzollter Ware. Schließlich sei auch die Ansicht des FG unzutreffend, dass sie die im Verkehr erforderlichen Vorkehrungen zur Verhinderung von Steuerverkürzungen unterlassen habe. Sie habe sich vielmehr wegen ihrer fehlenden Erfahrung mit einem Zolllager eng mit dem HZA abgestimmt, um keine Fehler zu begehen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung --soweit die Klage abgewiesen worden ist-- und die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen --soweit sie noch Bestand haben-- aufzuheben.

Das HZA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Es folgt der Ansicht des FG, dass die streitigen Waren nicht in die Türkei gelangt, sondern der zollamtlichen Überwachung entzogen worden seien. Die Ausfuhr der dem Zolllager entnommenen Waren sei nur vorgetäuscht worden. Im Streitfall gelte die zehnjährige Verjährungsfrist, weil die Einfuhrabgaben hinterzogen worden seien. Die Klägerin könne sich nicht exkulpieren, da sie die erforderlichen Vorkehrungen zur Verhinderung von Steuerverkürzungen unterlassen habe.

 

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

1. Nach Art. 203 Abs. 1 ZK entsteht eine Einfuhrzollschuld, wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware der zollamtlichen Überwachung entzogen wird. Für die Einfuhrumsatzsteuer gilt diese Vorschrift nach § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes sinngemäß. Diese Voraussetzungen für die Entstehung der Abgabenschuld sind im Streitfall gegeben. Wie das FG festgestellt hat, handelte es sich bei den Speichermodulen um einfuhrabgabenpflichtige Nichtgemeinschaftswaren, welche die Klägerin zuvor zum Zolllagerverfahren hatte abfertigen lassen. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, dass diese Speichermodule ihren Status als Nichtgemeinschaftswaren weder während des Zolllagerverfahrens noch während der anschließenden Ausfuhr- oder Versandverfahren gewechselt hatten und somit nach Art. 37 Abs. 2 ZK der zollamtlichen Überwachung i.S. des Art. 4 Nr. 13 ZK unterlagen.

Nach den Feststellungen des FG kann auch angenommen werden, dass die streitigen Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen worden sind. Der Begriff des Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung umfasst nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) jede Handlung oder Unterlassung, die dazu führt, dass die zuständige Zollbehörde auch nur zeitweise am Zugang zu einer unter zollamtlicher Überwachung stehenden Ware und der Durchführung der in Art. 37 Abs. 1 ZK vorgesehenen Prüfungen gehindert wird (EuGH-Urteil vom 12. Februar 2004 C-337/01, zur Veröffentlichung in EuGHE vorgesehen, m.w.N.). Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, dass das FG im Streitfall vom Vorliegen dieser Voraussetzungen ausgegangen ist.

Das FG hat folgende Feststellungen getroffen, an die der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen gebunden ist:

a) Die Klägerin meldete die erste Warensendung zur Ausfuhr an, obwohl sie die Waren bereits X überlassen und somit keinen Zugriff mehr auf die Waren hatte. Das Zollamt F des HZA nahm zwar die Ausfuhranmeldung an, vermerkte die Collianzahl und bescheinigte die Ausfuhr, überprüfte jedoch die Anmeldung nicht durch eine Beschau der Waren. Nach den Zollbelegen der Fa. C lässt sich eine entsprechende Einfuhr in die Türkei nicht feststellen.

b) Die zweite Warensendung übergab die Klägerin X am 2. November 1995. Gleichwohl bestätigte die beauftragte Spedition in ihrer Ausfuhrbescheinigung, dass sie die Waren am 1. November 1995 bei der Klägerin entgegengenommen und am 3. November 1995 im Auftrag der T an die Fa. C befördert habe, während sie gegenüber der T angab, die Waren am 3. November 1995 bei der Klägerin übernommen zu haben. Die T erstellte unter dem 1. November 1995 eine an die Fa. C gerichtete Rechnung, deren Warenbeschreibung allerdings bis auf die identische Menge von 1 600 Stück keine Identität mit den von der Klägerin verkauften Speichermodulen erkennen lässt. Eine weitere Rechnung der T vom 3. November 1995 erlaubt weder nach der Warenbeschreibung noch nach den angegebenen Mengen und den --im Vergleich zur Rechnung der Klägerin erheblich niedrigeren-- Preisen den Rückschluss, dass die in Rechnung gestellten Speichermodule aus dem Zolllager der Klägerin stammten. Bei ihrer Zollanmeldung zur Einfuhr von Waren in die Türkei am 21. November 1995 legte die Fa. C diese Rechnung vom 3. November 1995 vor. Zu dieser Zollanmeldung gehört auch eine Transportversicherungspolice für diese Warensendung mit dem angemeldeten, sich aus der Rechnung ergebenden Warenwert.

Das FG hat aus diesen festgestellten Tatsachen gefolgert, dass es zum einen nicht feststehe, welche Waren die Spedition im Namen der Klägerin am 3. November 1995 zum gemeinschaftlichen Versandverfahren angemeldet und am 4. November 1995 über das Zollamt S ausgeführt habe, und dass es zum anderen als sicher anzusehen sei, dass es sich bei den am 21. November 1995 von der Fa. C in der Türkei angemeldeten Waren nicht um die dem Zolllager der Klägerin entnommenen Speichermodule gehandelt haben könne, da die dabei vorgelegte Rechnung vom 3. November 1995 in Anbetracht des auffallend niedrigen Preises offenbar andere Waren betroffen habe und da auch die dazugehörige Transportversicherungspolice diesen erheblich niedrigeren Rechnungswert der Waren ausgewiesen habe. Der Abschluss einer Transportversicherung mache aber nur Sinn, wenn sie dem tatsächlichen Warenwert annähernd entspreche. Da es keine Transportversicherungspflicht gebe, sei für ein im Im- und Export tätiges Unternehmen auch kein Grund ersichtlich, lediglich zum Zweck der Täuschung der Zollverwaltung über den zutreffenden Warenwert, eine Transportversicherung über einen falschen Warenwert abzuschließen.

Das Revisionsgericht kann diese Tatsachenwürdigung des FG nur daraufhin überprüfen, ob sie mit den Denkgesetzen und allgemeinen Erfahrungssätzen vereinbar ist (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 118 Rz. 54). Die Revision zeigt jedoch insoweit keinen Verstoß gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze auf. Sie verweist lediglich darauf, dass eine zu niedrige Angabe des Warenwerts auch darauf hindeuten könne, dass Einfuhrabgaben in der Türkei hätten hinterzogen werden sollen.

c) Die vierte Warensendung übergab die Klägerin der T am 11. Dezember 1995; gleichwohl meldete sie die Sendung noch am selben Tag zum gemeinschaftlichen Versandverfahren und zur Ausfuhr an. Die Zollstelle und auch das Zollamt F des HZA, bei dem die Sendung gestellt wurde, bestätigten die Sendung als konform; eine Beschau fand nicht statt. Es existiert zwar eine für die Fa. C erstellte Rechnung der T vom 11. Dezember 1995 über ähnliche Waren wie die aus dem Zolllager der Klägerin stammenden, jedoch wurde bei der Zollanmeldung in der Türkei eine andere Rechnung der T vom 11. Dezember 1995 vorgelegt, in welcher im Hinblick auf die Anzahl und die Art der Waren sowie den niedrigen Preis offenbar andere Speichermodule als die aus dem Zolllager der Klägerin bezogenen beschrieben werden. Auch hier weist die dazugehörige Transportversicherungspolice diesen erheblich niedrigeren Rechnungswert der Waren aus.

Das FG hat in gleicher Weise wie hinsichtlich der zweiten Warensendung aus den festgestellten Tatsachen gefolgert, dass die dem Zolllager der Klägerin am 11. Dezember 1995 entnommenen Speichermodule nicht in die Türkei ausgeführt worden sind. Die Revision zeigt auch insoweit keine Rechtsfehler auf.

d) Gestützt auf seine Annahme, dass die erste, zweite und vierte Warensendung nicht in die Türkei ausgeführt worden sind, hat das FG des Weiteren gefolgert, dass die Waren im Zollgebiet der Gemeinschaft der zollamtlichen Überwachung entzogen worden und hier verblieben sind und dass damit die gesetzliche Vermutung des Art. 71 Abs. 2 ZK, dass die in den Zollanmeldungen angegebenen Waren ausgeführt bzw. in das Versandverfahren übergeführt worden sind, als widerlegt anzusehen ist. Das FG hat diese Schlussfolgerung damit begründet, dass sich aus dem Schlussbericht des ZFA Ausfuhren der T nur in die Türkei und an die Fa. C ergeben hätten, dass aber die streitigen Speichermodule nicht dorthin gelangt seien. Die Klägerin habe in allen hier streitigen Fällen die nicht durch Zollverschlüsse gesicherten Waren X bzw. der T überlassen und habe damit die Manipulationen ermöglicht; zollamtliche Beschauen hätten nicht stattgefunden. Mangels anderer Anhaltspunkte sei deshalb von einem Verbleib der Waren im Zollgebiet der Gemeinschaft auszugehen.

Es ist weder von der Revision dargelegt noch ersichtlich, dass diese Tatsachenwürdigung durch das FG gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Die Revision führt lediglich aus, dass das FG die Tatsachenwürdigung nicht zutreffend vorgenommen habe und dass auch Anhaltspunkte --insbesondere die von der Ausfuhr- und der Ausgangszollstelle gestempelten Ausfuhrnachweise-- für eine Ausfuhr der Waren in die Türkei sprächen. Allein der Umstand, dass auch eine andere Würdigung der Tatsachen möglich erscheint, macht aber die vom FG vorgenommene, auf seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) beruhende Tatsachenwürdigung nicht rechtsfehlerhaft (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 118 Rz. 54).

Ohne Erfolg beruft sich die Revision deshalb auf den Senatsbeschluss in BFHE 195, 481, da jenem Beschluss ein Fall zugrunde lag, in welchem der Verbleib der dem Zolllager entnommenen Waren nicht ungeklärt geblieben war, weil die Waren nachweislich wieder ausgeführt worden waren. Im Übrigen hat der EuGH mit Urteil vom 12. Februar 2004 C-337/01 auf die Vorlagefrage des Senats geantwortet und dahin entschieden, dass auch in jenem Fall von einem Entzug der Waren aus der zollamtlichen Überwachung i.S. des Art. 203 Abs. 1 ZK auszugehen war.

2. Zutreffend hat das FG geurteilt, dass die Klägerin Schuldner der für die erste, zweite und vierte Warensendung entstandenen Einfuhrabgaben ist. Nach Art. 203 Abs. 3 Anstrich 4 ZK ist Schuldner der wegen des Entziehens aus der zollamtlichen Überwachung entstandenen Einfuhrzollschuld die Person, welche die Verpflichtungen einzuhalten hatte, die sich (u.a.) aus der Inanspruchnahme des betreffenden Zollverfahrens ergeben. Diese Person war hinsichtlich der hier streitigen ersten, zweiten und vierten Warensendung die Klägerin.

Die Klägerin war Inhaber des ihr bewilligten Zolllagerverfahrens. Nach Art. 99 Satz 3, Art. 101 Buchst. a ZK war sie daher dafür verantwortlich, dass die Waren während ihres Verbleibes im Zolllager nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden. Soweit sich bei der zweiten und vierten Warensendung dem Zolllagerverfahren jeweils ein gemeinschaftliches Versandverfahren anschloss, war die Klägerin als Hauptverpflichtete dieser Versandverfahren nach Art. 96 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a ZK dafür verantwortlich, dass die Waren unverändert der Bestimmungszollstelle gestellt wurden. Das FG konnte daher offen lassen, ob die Waren der zweiten und vierten Sendung noch während des Zolllagerverfahrens oder erst während des Versandverfahrens der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden. Gegen diese Ausführungen des FG zur Zollschuldnerschaft der Klägerin wendet sich die Revision auch nicht.

3. Das FG hat schließlich auch zu Recht den Eintritt der Festsetzungsverjährung verneint, da es sich bei den für die drei Warensendungen geschuldeten Einfuhrabgaben um hinterzogene Abgaben handelt, für die nach Art. 221 Abs. 3 Satz 2 ZK (i.d.F. vor In-Kraft-Treten der Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000, ABlEG Nr. L 311/17) i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 eine zehnjährige Festsetzungsfrist gilt, die im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Steuerbescheids noch nicht verstrichen war.

Das FG ist aufgrund seiner revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen davon ausgegangen, dass X oder einer seiner Mittäter die Waren der ersten, zweiten und vierten Sendung der zollamtlichen Überwachung bewusst entzogen und die Zollbehörden über die Tatsache, dass die scheinbar in die Türkei ausgeführten Waren tatsächlich im Zollgebiet der Gemeinschaft verblieben waren, in Unkenntnis gelassen hat. Das FG hat daher zutreffend geurteilt, dass damit der objektive und subjektive Tatbestand einer Steuerhinterziehung erfüllt ist (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977) und dass es sich bei den streitigen Einfuhrabgaben um hinterzogene Steuern handelt. Die Revision stellt dies nicht in Abrede.

Das FG hat auch zutreffend im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Senats angenommen, dass es für die Anwendung der zehnjährigen Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 allein darauf ankommt, ob es sich objektiv um eine hinterzogene Steuer handelt; die Vorschrift setzt dagegen nicht voraus, dass der Steuerschuldner selbst oder die Person, deren er sich zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten bedient, die Steuerhinterziehung begangen hat (Senatsurteile vom 23. März 1982 VII R 68/81, BFHE 135, 563; vom 30. Oktober 1990 VII R 18/88, BFH/NV 1991, 721). Ist Letzteres allerdings der Fall, kommt für den Steuerpflichtigen der nach § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 mögliche Exkulpationsbeweis, dass er durch die Tat keinen Vermögensvorteil erlangt bzw. die im Verkehr erforderlichen Vorkehrungen zur Verhinderung von Steuerverkürzungen nicht unterlassen hat, nicht in Betracht (Senatsurteile in BFHE 135, 563; in BFH/NV 1991, 721; vom 31. Januar 1989 VII R 77/86, BFHE 156, 30; vom 20. Juli 1999 VII R 85/98, BFHE 189, 244).

Im Streitfall ist nach den Feststellungen des FG davon auszugehen, dass der für die Steuerhinterziehungen verantwortliche X bzw. dessen Mittäter Personen gewesen sind, deren die Klägerin sich zur Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten bedient hat.

Der von der Revision vertretenen Ansicht, dass insoweit nur eine Person in Betracht komme, welche gegenüber dem Steuerschuldner weisungsgebunden sei, kann nicht gefolgt werden. Der Wortlaut des § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977 gibt für eine solche Auslegung keinen Anhaltspunkt. Vielmehr kann eine Person, deren der Steuerschuldner sich zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten bedient, jede Person sein, die mit dem Wissen und Wollen des Steuerschuldners in dessen steuerlichem Pflichtenkreis tätig wird, ohne dass es dabei auf eine Weisungsgebundenheit gegenüber dem Steuerschuldner ankommt. Der Senat hat daher, ohne auf die Frage einer etwaigen Weisungsgebundenheit einzugehen, in seiner Rechtsprechung lediglich darauf abgestellt, ob die betreffende Person steuerlicher "Erfüllungsgehilfe" bzw. eine "in Erfüllung seiner (des Steuerpflichtigen) steuerlichen Pflichten handelnde Person" (vgl. Senatsurteil in BFHE 135, 563), ein "Vertreter bzw. Erfüllungsgehilfe" oder eine "Hilfsperson" (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 1991, 721) war. Dementsprechend war weder in dem Senatsurteil in BFH/NV 1991, 721 der Lagerhalter noch in dem BFH-Urteil vom 19. Dezember 2002 IV R 37/01 (BFHE 200, 495, BStBl II 2003, 385) der Steuerberater, dessen Steuerhinterziehungen bei der Frage der Festsetzungsverjährungsfrist dem Steuerschuldner zugerechnet wurden, diesem gegenüber weisungsgebunden.

Die Mitarbeiter der T, insbesondere X und die übrigen bei den Steuerhinterziehungen mitwirkenden Personen, waren daher unter Zugrundelegung der den Senat bindenden Feststellungen des FG Personen, deren die Klägerin sich zur Erfüllung ihrer steuerlichen Pflichten bediente. Die Klägerin war --wie bereits ausgeführt-- als Inhaber des ihr bewilligten Zolllagerverfahrens dafür verantwortlich, dass die Waren während ihres Verbleibes im Zolllagerverfahren, d.h. bis zum Erhalt einer zulässigen neuen zollrechtlichen Bestimmung (Art. 89 Abs. 1 ZK), nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen wurden, und sie war in den anschließenden gemeinschaftlichen Versandverfahren als Hauptverpflichtete dafür verantwortlich, dass die Waren unverändert der Bestimmungszollstelle gestellt wurden. Diesen Verpflichtungen ist die Klägerin nicht selbst nachgekommen, sondern hat diese der T und deren Mitarbeitern übertragen, indem sie in allen --noch streitigen-- Fällen die Waren X bzw. anderen Mitarbeitern der T übergab und in ihren Rechnungen den Hinweis erteilte, dass die Waren nur für Exportzwecke in die Türkei bestimmt seien und dass sich die T verpflichte, sich durch ihren Spediteur die Ausfuhr bescheinigen zu lassen. Wenn diese in dem steuerlichen Pflichtenkreis der Klägerin mit deren Wissen und Wollen tätigen Hilfspersonen --wie vom FG festgestellt-- diese Pflichten verletzten und die Waren vorsätzlich der zollamtlichen Überwachung entzogen, so muss auch die Klägerin als Zollschuldner die zehnjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 2 AO 1977 gegen sich gelten lassen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die für die Klägerin tätigen Hilfspersonen ihrerseits ebenfalls Hilfspersonen eingesetzt haben, welche die Steuerhinterziehungen begangen haben (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 1991, 721).

Die Fragen des § 169 Abs. 2 Satz 3 AO 1977, ob die Klägerin durch die Steuerhinterziehungen ggf. keinen Vermögensvorteil erlangt hat bzw. die Tat auch nicht darauf beruht, dass sie die im Verkehr erforderlichen Vorkehrungen zur Verhinderung von Steuerverkürzungen unterlassen hat, stellen sich daher im Streitfall nicht.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1220106

BFH/NV 2004, 1516

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