Entscheidungsstichwort (Thema)

Keine Änderung eines Steuerbescheids zugunsten des Steuerpflichtigen nach Rechtsprechungsänderung

 

Leitsatz (NV)

Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglicher bekanntgewordener Tatsachen nicht zugunsten des Steuerpflichtigen geändert werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis infolge damals gefestigter aber zwischenzeitlich aufgegebener Rechtsprechung nicht abweichend entschieden hätte.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

FG München

 

Tatbestand

Der ledige Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wohnte in den Streitjahren 1975 bis 1977 in B. Er war bis Mitte September 1975 als Beamter im Bundesgrenzschutz in R und danach als Finanzanwärter tätig. Auf seine Anträge auf Lohnsteuer-Jahresausgleich wurden mit bestandskräftigen Bescheiden für die Zeit der Beschäftigung in R und des Besuchs der Finanzschule bzw. Fachhochschule in H - dem Antrag des Klägers folgend - Aufwendungen für eine Familienheimfahrt monatlich als Werbungskosten berücksichtigt.

Mit Schreiben vom 15. Dezember 1980 trug der Kläger vor, über die bisher geltend gemachten Fahrten hinaus im Kalenderjahr 1975 an 36 Tagen, im Kalenderjahr 1976 an 22 Tagen und im Kalenderjahr 1977 an 21 Tagen von R bzw. H nach B gefahren zu sein. Gleichzeitig beantragte er, die Lohnsteuer-Jahresausgleichsbescheide gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zu ändern und wegen der zusätzlichen Fahrten weitere Werbungskosten zum Abzug zuzulassen.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) lehnte das Änderungsbegehren mit Bescheid vom 23. Dezember 1980 ab. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage nach vorangegangenem Vorverfahren statt.

Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977. Es führt aus, die lediglich am Wortlaut orientierte Auslegung durch das FG führe zu einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Ausweitung der Vorschrift. Danach würde bei nachträglicher Bekanntgabe von Tatsachen eine Berichtigung in allen Fällen in Betracht kommen, in denen sich die einschlägige Rechtsprechung geändert habe. Dies führe zu einer nicht zu rechtfertigenden Benachteiligung derjenigen Steuerpflichtigen, die ihre tatsächlichen Verhältnisse umfassend dargelegt hätten und nach damaliger Rechtsauffassung eine Ablehnung hätten hinnehmen müssen. Dieses Ergebnis werde durch eine teleologische Auslegung vermieden, die solche Tatsachen nicht als nachträglich bekanntgeworden ansehe, die, sofern sie bei der ersten Entscheidung des FA bereits bekannt gewesen wären, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer abweichenden Steuerfestsetzung geführt hätten.

Der Kläger trägt vor, der Widerstreit zwischen den Grundsätzen der Rechtssicherheit und der materiellen Richtigkeit sei in § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, anders als noch in § 222 der Reichsabgabenordnung (AO), zugunsten des Steuerpflichtigen dahin gelöst worden, daß im Rahmen der Festsetzungsverjährung der Bestandskraft nur noch bei grobem Verschulden des Steuerpflichtigen der Vorrang eingeräumt werde. Im übrigen führe die wortgetreue Anwendung des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht zu Ungerechtigkeiten, weil mit ihr lediglich die materiell-rechtlich zutreffende Steuer festgesetzt werde. Die zugunsten der Steuerpflichtigen geschaffene Vorschrift könne nicht mit der Begründung versagt werden, daß bei einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung Personen, die die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 nicht erfüllen, nicht ebenfalls eine Berichtigung erreichen könnten.

Der erkennende Senat hat mit Beschluß vom 7. Mai 1986 VI R 172/82 (BFHE 146, 496, BStBl II 1986, 707) den Großen Senat angerufen. Dieser hat mit Beschluß vom 23. November 1987 GrS 1/86 (BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180) die vorgelegte Rechtsfrage wie folgt entschieden: Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekanntgewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen nicht aufgehoben oder geändert werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte. Der Große Senat begründete seine Entscheidung insbesondere damit, § 173 AO 1977 habe nicht den Sinn, dem Steuerpflichtigen das Risiko eines Rechtsbehelfsverfahrens dadurch abzunehmen, daß ihm gestattet werde, sich auf Tatsachen gegenüber dem FA erst dann zu berufen, wenn etwa durch eine spätere Änderung der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) eine Rechtslage eintrete, die eine bisher nicht vorgetragene Tatsache nunmehr als relevant erscheinen lasse. Es reiche daher nicht aus, daß eine Tatsache (oder ein Beweismittel) lediglich als Folge des später in Erscheinung tretenden Rechtsfehlers relevant werde. Vielmehr müsse die Unkenntnis von Tatsachen oder Beweismitteln für die ursprüngliche Veranlagung ursächlich gewesen sein. Das sei nicht der Fall, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel nicht anders entschieden hätte.

 

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung des Großen Senats in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180 ist für den erkennenden Senat bindend (§ 11 Abs. 5 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Revision des FA ist deshalb begründet.

Entgegen der Ansicht des FG kann danach eine Berichtigung nicht auf Tatsachen gestützt werden, die, ihr Bekanntsein unterstellt, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer abweichenden Steuerfestsetzung durch das FA geführt hätten. So verhielt es sich aber im Streitfall. Nach der bei Ergehen der bestandskräftig gewordenen Bescheide über den Lohnsteuer-Jahresausgleich vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung (BFH-Urteile vom 17. Dezember 1971 VI R 315/70, BFHE 104, 212, BStBl II 1972, 245, und vom 15. November 1974 VI R 195/72, BFHE 114, 340, BStBl II 1975, 278) und den einschlägigen Verwaltungsanweisungen (Abschn. 24 Abs. 3 der Lohnsteuer-Richtlinien 1975) wurden Aufwendungen für zusätzliche Fahrten, wie sie nunmehr geltend gemacht werden, nicht als Werbungskosten berücksichtigt, und sie wären, was unter den Beteiligten nicht streitig ist, auch im Streitfall nicht zum Abzug zugelassen worden. Dementsprechend war dem Berichtigungsbegehren nicht zu entsprechen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 423973

BFH/NV 1988, 482

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