Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Änderung bestandskräftiger ESt-Bescheide

 

Leitsatz (NV)

1. Ein Steuerpflichtiger handelt regelmäßig grob schuldhaft i.S. des § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte Frage nicht beantwortet. Daran vermag auch eine etwaige Verletzung der Aufklärungs- oder Fürsorgepflicht durch das FA nichts zu ändern (Bestätigung von BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65).

2. Bei einem steuerlichen Berater kann ein grobes Verschulden auch dann vorliegen, wenn er es schuldhaft unterläßt, rechtzeitig Einspruch einzulegen.

3. Die Änderungsmöglichkeit eines bestandskräftigen ESt-Bescheids, in dem der Steuerpflichtige mangels entsprechender Angaben in seiner ESt-Erklärung keinen Ausbildungsfreibetrag für sein in Ausbildung befindliches Kind erhalten hat, beurteilt sich ausschließlich nach § 173 Abs. 1 Nr.2 AO 1977.

 

Normenkette

AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2, § 172 Abs. 1 Nr. 2a; EStG § 33a Abs. 2

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute. Sie werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie haben zwei Kinder (A, geboren am . . . August 1965 und B, geboren am . . . Dezember 1967).

A war in der Zeit vom 1. September 1987 bis zum 15. Juli 1988 an der Fachhochschule in . . . im Fach . . . immatrikuliert; das Studium wurde am 15. Juli 1988 abgebrochen. Seit dem 1. August 1988 wird A in . . . zur . . . ausgebildet.

In ihrer Einkommensteuererklärung für 1988, die vom Steuerberater der Kläger gefertigt wurde, waren in den Zeilen 29 bis 40 unter der Überschrift ,,Angaben zu Kindern mit Wohnsitz im Inland" entsprechende Angaben gemacht. In Zeile 38 machten die Kläger Angaben zum Ausbildungsgang des Kindes A, sie unterließen es jedoch, die Zeilen 101 bis 104 zum Ausbildungsfreibetrag auszufüllen. Der Steuererklärung waren eine Studienbescheinigung und der Berufsausbildungsvertrag des Kindes A, beides in Kopie, beigefügt.

Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) erließ unter dem 1. September 1989 einen entsprechenden Einkommensteuerbescheid, ohne einen Ausbildungsfreibetrag zu gewähren.

In den vorangegangenen Veranlagungszeiträumen 1984, 1986 und 1987, in denen ebenfalls der Steuerberater der Kläger bei der Steuererklärung mitgewirkt hat, waren die Zeilen betreffend den Ausbildungsfreibetrag ebenfalls unausgefüllt geblieben. Gegen die Nichtberücksichtigung des Ausbildungsfreibetrags in den jeweiligen Einkommensteuerbescheiden hatten die Kläger Einspruch eingelegt und nachträglich die Gewährung des Freibetrages beantragt; dar- aufhin waren die Bescheide nach § 172 Abs. 1 Nr.2a der Abgabenordnung (AO 1977) geändert worden. In den Veranlagungszeiträumen 1983 und 1985 war der Freibetrag in der Einkommensteuererklärung beantragt wroden, 1985 jedoch erst, nachdem das FA darauf hingewiesen hatte.

Mit am 11.Oktober 1989 beim FA eingegangenem Schreiben beantragten die Kläger die nachträgliche Gewährung des Ausbildungsfreibetrages für das Jahr 1988. Das FA lehnte eine Änderung des Einkommensteuerbescheides ab; der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos.

Die Klage, mit der die Kläger die Aufhebung des Ablehnungsbescheids und der Einspruchsentscheidung sowie die Verpflichtung des FA beantragten, den Ausbildungsfreibetrag für das Kind A zu gewähren, hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete das FA, die Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG neu zu bescheiden (§ 101 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG führte im wesentlichen aus:

Der Antrag nach § 33a Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr geltenden Fassung (EStG) sei lediglich eine Verfahrenshandlung, durch die der Steuerpflichtige zum Ausdruck bringe, daß er Anspruch auf den Freibetrag erhebe und das F

A verpflichtet werden solle, die materiellen Voraussetzungen hierfür u prüfen und den Freibetrag ggf. zu gewähren. Der Anstoß zum Tätigwerden des FA müsse auch nicht in jedem Fall durch die Stellung eines förmlichen Antrags erfolgen; der Antrag könne vielmehr auch stillschweigend gestellt werden. Der amtliche Steuererklärungsvordruck sehe die Stellung eines ausdrücklichen Antrags auf Gewährung des Ausbildungsfreibetrages auch nicht vor. Wie sich daraus ergebe, lasse es die Finanzverwaltung für die Stellung des Antrags nach § 3a Abs. 2 EStG genügen, daß der Steuerpflichtige Angaben zu den materiellen Voraussetzungen mache. Gleiches müsse auch dann gelten, wenn der Steuerpflichtige entsprechende Angaben an anderer Stelle des Erklärungsvordrucks oder z.B. in beigefügten Anlagen mache und das FA ohne weiteres erkennen könne, daß damit die materiellen Voraussetzungen für einen Freibetrag dargetan seien.

Im Streitfall habe das FA aus den Zeilen 29 bis 47 des Vordrucks ersehen können, daß die Tochter A der Kläger sich vom 1. September 1987 bis 15. Juli 1988 an der Fachhochschule . . . in Ausbildung befunden und am 1. August 1988 eine Berufsausbildung als . . . begonnen habe (Zeile 30). Entsprechende Bestätigungen seien beigefügt gewesen. Damit sei für das FA erkennbar gewesen, daß ein Ausbildungsfreibetrag im Grunde zu gewähren gewesen sei.

Das Schreiben der Kläger vom 11.Oktober 1989 sei als Antrag auf schlichte Änderung nach § 172 Abs. 1 Nr.2a AO 1977 und nicht als Einspruch zu werten, da keine Gesamtüberprüfung des Bescheids beantragt worden sei. Da es sich um einen Antrag zugunsten der Kläger handle, habe er nur vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist des Bescheides vom 1. September 1988 gestellt werden können; der Antrag sei mithin verspätet gestellt worden.

Den Klägern müsse jedoch gemäß § 110 i.V.m. § 126 Abs. 3 AO 1977 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Die Kläger seien ohne Verschulden gehindert gewesen, den entsprechenden Antrag zu stellen. Denn das FA sei von der Steuererklärung abgewichen, als es den beantragten Ausbildungsfreibetrag nicht gewährt habe.

An dem Ergebnis ändere sich auch dann nichts, wenn man nicht davon ausgehen würde, daß der Antrag nach § 33a Abs. 2 EStG in der Steuererklärung gestellt worden sei. Dann wäre nämlich das FA zu einer entsprechenden Anregung, den Antrag zu stellen, verpflichtet gewesen. Auf der Grundlage dieser Erwägung wäre ebenfalls Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, insoweit zur Nachholung des Anrags nach § 33a Abs. 2 EStG, in Betracht gekommen.

Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung des § 33a Abs. 2 EStG sowie die Nichtgewährung rechtlichen Gehörs. . .

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.

Das FG hat das am 11.Oktober 1989 beim FA eingegangene Schreiben der Kläger zu Recht als Antrag auf Änderung des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheids 1988 aufgefaßt. Als Änderungsvorschrift kommt jedoch insoweit nur § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 und nicht, wie das FG angenommen hat, § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr.2a AO 1977 in Betracht.

1. Gemäß § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, daß die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor.

a) Der Anwendung des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 steht allerdings nicht schon entgegen, daß die Kläger den Antrag, ihnen für ihre Tochter A einen Ausbildungsfreibetrag nach § 33a Abs. 2 EStG zu gewähren, erst nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids gestellt haben. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 21. Juli 1989 III R 303/84 (BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960) entschieden hat, kann der Antrag für die Gewährung einer antragsgebundenen Steuerermäßigung grundsätzlich auch noch nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids nachgeholt werden. Wenn die übrigen Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 vorliegen, muß der Einkommensteuerbescheid entsprechend geändert werden.

b) Dem FA sind auch neue Tatsachen nachträglich bekannt geworden.

Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung; vgl.Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 28. September 1984 VI R 48/82, BFHE 141, 532, BStBl II 1985, 117, m.w.N.). Im Streitfall sind die Einkommensverhältnisse der Tochter A im Streitjahr derartige Tatsachen. Diese Tatsachen sind dem FA auch erst nachträglich bekannt geworden; denn auf Grund der - in anderem Zusammenhang - vorgelegten Unterlagen einschließlich der Kopie des Berufsausbildungsvertrages war nicht zu entnehmen, daß es sich um die einzigen Einkünfte der Tochter handelte und daß die Tochter keine Bezüge i.S. des § 33a Abs. 2 Satz 4 EStG hatte.

c) Der Kläger trifft am nachträglichen Bekanntwerden der Einkommensverhältnisse ihrer Tochter jedoch ein grobes Verschulden. Als grobes Verschulden i.S. von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 hat der Steuerpflichtige Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu vertreten. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und nicht entschuldbarer Weise verletzt. Ein grobes Verschulden kann vorliegen, wenn ein Steuerpflichtiger seiner Erklärungspflicht unzureichend nachkommt, indem er z.B. unzutreffende oder unvollständige Erklärungen abgibt. Denn der Steuerpflichtige hat gemäß § 150 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 die Angaben in der Steuererklärung nach bestem Wissen und Gewissen zu machen. Um die Steuererklärung vollständig und wahrheitsgemäß abgeben zu können, muß er das Erklärungsformular gewissenhaft durchlesen. Er handelt regelmäßig grob schuldhaft, wenn er eine im Steuererklärungsformular ausdrücklich gestellte, auf einen ganz bestimmten Vorgang bezogene Frage nicht beantwortet (vgl. Urteil in BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960).

Ob ein Beteiligter in diesem Sinne grob fahrlässig gehandelt hat, ist im wesentlichen eine Tatfrage. Das Revisionsgericht ist jedoch nicht gehindert, selbst zur Annahme eines groben Verschuldens zu kommen, wenn hierfür ausreichende tatsächliche Feststellungen vorliegen (vgl. BFH-Urteil vom 9. August 1991 III R 24/87, BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65).

Danach ergibt sich hier, daß die Kläger die in der Steuererklärung geforderten Angaben für die Gewährung des Ausbildungsfreibetrags unterlassen und damit i.S. von § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 grob schuldhaft gehandelt haben. Wie der Senat in seinem Urteil in BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65 entschieden hat, handelt auch ein steuerrechtlich nicht ausgebildeter Laie grob fahrlässig, wenn er die zum Ausbildungsfreibetrag im Steuererklärungsformular gestellten Fragen nicht vollständig beantwortet. Dies muß erst recht gelten, wenn sich der Steuerpflichtige - wie hier der Kläger - zur Ausarbeitung der Steuererklärung eines steuerlichen Beraters bedient. An diesen sind erhöhte Anforderungen zu stellen.

Daß der steuerliche Berater der Kläger seine Sorgfaltspflicht in ungewöhnlich großem Maße verletzt hat, ergibt sich zusätzlich auch noch daraus, daß er in den vorangegangenen Veranlagungszeiträumen teilweise ebenfalls die entsprechende Erklärungspflicht verletzt und das FA den betreffenden Freibetrag für die Tochter A ohne die dafür erforderlichen Angaben in der Einkommensteuererklärung nicht gewährt hatte. Das Verschulden des Prozeßbevollmächtigten ist dem Steuerpflichtigen bei Anwendung der Vorschrift des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 zuzurechnen (vgl. BFH-Urteil vom 13. Juni 1989 VIII R 174/85, BFHE 157, 196, BStBl II 1989, 789).

Im übrigen weist der Senat darauf hin, daß nach der Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 25. November 1983 VI R 8/82, BFHE 140, 18, BStBl II 1984, 256) ein grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr.2 AO 1977 bei einem steuerlichen Berater auch dann vorliegen kann, wenn er es schuldhaft unterläßt, rechtzeitig Einspruch gegen einen objektiv unrichtigen Steuerbescheid einzulegen.

Das einer Änderung des Steuerbescheids entgegenstehende grobe Verschulden der Kläger wird auch nicht etwa dadurch ausgeräumt, daß das FA möglicherweise seiner Aufklärungs- oder Fürsorgepflicht nach § 89 Satz 1 AO 1977 nicht nachgekommen ist. Zweifelhaft ist schon, ob die Steuerbehörde bei der Ermittlung des im Streitfall steuerlich relevanten Sachverhalts überhaupt eine Pflichtverletzung begangen hat. Denn angesichts der klaren Fragestellung zum Ausbildungsfreibetrag im Steuererklärungsvordruck konnte das FA möglicherweise davon ausgehen, daß ein Steuerpflichtiger den Ausbildungsfreibetrag wegen zu hoher Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht in Anspruch nehmen kann, wenn er dazu keine Angaben macht. Die Eintragungen in Zeile 38 des Erklärungsvordrucks waren (bereits) wegen der Gewährung des Kinderfreibetrags erforderlich, da die Tochter A über 16 Jahre alt war (§ 32 Abs. 4 EStG). Aus demselben Grunde war auch die Vorlage der Studienbescheinigung und des Berufsausbildungsvertrages geboten.

Ungeachtet dessen würde selbst eine Vernachlässigung der Fürsorgepflicht des FA gegenüber den Klägern nicht zu einem Ausschluß des Verschuldens der Kläger führen. Bei der Würdigung als grobes Verschulden hat das Verhalten des FA nach ständiger Rechtsprechung jedenfalls dann außer Betracht zu bleiben, wenn ein Steuerpflichtiger eine Änderung der Steuerfestsetzung zu seinen Gunsten begehrt (vgl. BFH in BFHE 165, 454, BStBl II 1992, 65, m.w.N.).

2. Das FG ist von anderen Voraussetzungen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist aufzuheben. Da das angefochtene Urteil bereits aus materiell-rechtlichen Gründen keinen Bestand hat, ist die Frage, ob das FG auch das Recht des FA auf Gewährung des rechtlichen Gehörs verletzt hat, nicht entscheidungserheblich.

Die Streitsache ist entscheidungsreif, die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 419012

BFH/NV 1993, 641

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