Leitsatz (amtlich)

1. Ist eine Schenkungsteuer vorläufig festgesetzt worden, weil der Wert eines geschenkten GmbH-Anteils nicht sofort ermittelt werden konnte (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 2 AO), so gilt ein Anspruch auf Nachzahlung nach dem vor dem 1. Januar 1966 geltenden Verjährungsrecht als mit der Beseitigung der Ungewißheit entstanden.

2. Hat das für die Schenkungsteuer zuständige FA das für die GmbH zuständige Betriebs-FA zur Feststellung des gemeinen Wertes aufgefordert, so ist für die Entscheidung der Frage, wann die Ungewißheit beseitigt worden ist, darauf abzustellen, wie sich die Verhältnisse für das Betriebs-FA darstellten.

3. Hat sich eine Betriebsprüfung durch das für die GmbH zuständige Betriebs-FA auch auf die Bewertung der Anteile an dieser GmbH erstreckt, so ist durch die Betriebsprüfung der Ablauf der Verjährung der Schenkungsteueransprüche gehemmt worden, die durch die Schenkung von Anteilen an der GmbH entstanden sind.

 

Normenkette

AO i.d.F. vor dem 1. Januar 1977 § 100 Abs. 1; AO i.d.F. vor dem 1. Januar 1977 § 146 a Abs. 3; AO i.d.F. vor dem 1. Januar 1966 § 225 S. 3 Hs. 2; BewDV 1935 § 64 ff.

 

Verfahrensgang

FG Düsseldorf

 

Tatbestand

Durch notariell beurkundeten Vertrag vom 20. März 1961 hatte A (Schenker) den Klägern je einen Geschäftsanteil an der A-GmbH geschenkt, wobei er sich jeweils ein lebenslängliches unentgeltliches Nießbrauchsrecht vorbehalten hatte.

Das früher zuständige Finanzamt (FA) X setzte durch „gemäß § 100 AO” vorläufige Steuerbescheide vom 16. Juni 1961 gegen die Kläger Schenkungsteuer fest. Dabei setzte es den Wert der geschenkten Geschäftsanteile entsprechend den Angaben in den Steuererklärungen an.

Bereits vor Erlaß der vorläufigen Steuerbescheide hatte das FA X das FA Y um Feststellung des gemeinen Wertes der geschenkten Geschäftsanteile gebeten, jedoch nur einen Zwischenbescheid erhalten.

Der Schenker starb im Januar 1966.

In den Jahren 1966 und 1967 fand bei der A-GmbH eine Betriebsprüfung für die Jahre 1959 bis 1965 statt.

Durch endgültige Steuerbescheide vom 5. Dezember 1972 setzte das FA X die Erbschaftsteuer gegen die vier Kläger endgültig fest. Die Einsprüche, mit denen in erster Linie Verjährung, hilfsweise nicht ausreichende Berücksichtigung des Nießbrauchsvorbehalts geltend gemacht wurde, hatten nur hinsichtlich des Hilfsantrages Erfolg. Im übrigen wurden die Einsprüche durch Einspruchsentscheidungen des FA Z, auf das die Zuständigkeit übergegangen war, zurückgewiesen.

Mit den vom Finanzgericht (FG) verbundenen Klagen haben die Kläger weiterhin geltend gemacht, die Steueransprüche seien verjährt. Die auf Aufhebung der angefochtenen Steuerbescheide gerichteten Klagen sind vom FG abgewiesen worden.

Die Kläger haben Revision eingelegt und ihre Klaganträge weiterverfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Denn die vom FG bisher getroffenen Feststellungen erlauben keine Entscheidung darüber, ob die nachgeforderten Steuerbeträge bei Erlaß der endgültigen Steuerbescheide bereits verjährt waren oder nicht.

1. Der Senat folgt dem FG darin, daß es sich bei den vorläufigen Steuerbescheiden um Bescheide im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 2 der Reichsabgabenordnung (AO) handelt und daß die Verjährung der nachgeforderten Steuern unter Beachtung des § 225 Satz 3 Halbsatz 2 AO i. d. F. vor dem 1. Januar 1966 zu beurteilen ist. Von Bedeutung ist danach für den Beginn der Verjährung, wann die Ungewißheit über den Wert der geschenkten GmbH-Anteile beseitigt worden ist. Ist die Ungewißheit bis zum Ablauf des Kalenderjahres 1967 beseitigt worden, so könnten die Nachforderungsansprüche bei Erlaß der endgültigen Steuerbescheide verjährt gewesen sein, soweit nicht eine Ablaufhemmung in Betracht käme.

2. Daß es sich bei den vorläufigen Steuerbescheiden um solche im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 2 AO handelt, ergibt sich aus deren Bezeichnung als „vorläufige Steuerbescheide gemäß § 100 AO” im Zusammenhang mit den Vermerken, die den Bescheiden beigefügt wurden. Danach entspreche der steuerliche Wert der jeweiligen Zuwendung den Angaben in den vom Schenker abgegebenen Schenkungsteuererklärungen; endgültige Steuerfestsetzungen würden folgen, sobald der gemeine Wert der Anteile durch das FA Y festgestellt worden sei. Damit hat das FA X deutlich gemacht, daß die Steuerfestsetzungen nur deshalb vorläufig vorgenommen worden seien, weil der Wert der Anteile nicht sofort habe ermittelt werden können.

Die Voraussetzungen des § 100 Abs. 1 Satz 2 AO waren erfüllt; denn das FA X konnte aus besonderen Gründen den Wert der geschenkten GmbH-Anteile nicht sofort ermitteln. Hierzu war nach Sachlage nur das für die Anteilsbewertung zuständige FA Y in der Lage, das gemäß §§ 64 ff. der Durchführungsverordnung zum Bewertungsgesetz (BewDV) zuständig war, die Anteilswerte einheitlich und gesondert festzustellen.

Diese Zuständigkeit galt auch für die Bewertung zu Erbschaftsteuerzwecken (vgl. hierzu Troll, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, 3. Aufl., § 12 Tz. 39). Demgemäß bat das FA X durch Schreiben vom 8. Juni 1961 das FA Y um Feststellung des gemeinen Wertes der Anteile zum Übertragungsantrag.

Ob die vorläufigen Steuerbescheide daneben auch die Voraussetzungen des § 100 Abs. 2 AO erfüllten, ist ohne Bedeutung. Aus den Eingangsworten des § 100 Abs. 2 AO folgt, daß dem Absatz 1 vorrangige Bedeutung zukommt.

3. Für Steuerbescheide im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 2 AO galt „das gleiche” wie für die Bescheide im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 1 AO. Wurden aufgrund des § 100 Abs. 1 Satz 2 AO vorläufige Steuerbescheide erlassen, so handelte es sich demgemäß um vorläufige Steuerbescheide wegen Ungewisser Verhältnisse, die gemäß § 225 AO berichtigt werden durften. Anwendbar war auch § 225 Satz 3 Halbsatz 2 AO d. F. vor dem 1. Januar 1966, wonach die Ansprüche in diesen Fällen als mit der Beseitigung der Ungewißheit entstanden galten.

Der Senat vermag nicht der Auffassung von Riewald zu folgen (vgl. Becker/Riewald/Koch, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 9. Aufl., § 225 AO Anm. 3 Abs. 4), daß § 225 Satz 3 Halbsatz 2 AO nicht in den Fällen subjektiver Ungewißheit galt. Aus dem Wortlaut des § 225 AO ergab sich deutlich, daß die Vorschrift u. a. auch bei vorläufigen Steuerfestsetzungen infolge sonstiger Ungewisser Verhältnisse galt. Derartige ungewisse Verhältnisse waren vor allem in den Fällen gegeben, in denen die Voraussetzungen des § 100 Abs. 1 AO vorlagen; denn der Ausdruck „sonst Ungewisse Verhältnisse” in § 225 Satz 1 AO ist seinem Bedeutungsinhalt nach identisch mit dem in § 100 Abs. 1 AO enthaltenen Ausdruck „ungewiß, ob …” (vgl. das Urteil vom 25. März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, 424, BStBl II 1969, 445). Die Fälle des § 100 Abs. 1 AO aber sind vor allem auch Fälle, bei denen es subjektiv ungewiß ist, ob bzw. in welcher Höhe die Steuer entstanden ist (vgl. Tipke/Kruse, Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 100 Tz. 3). Wenn das Gesetz gleichwohl die Vorschriften des § 100 Abs. 1 AO und des § 225 AO miteinander verknüpfte, so spricht dies dagegen, den Satz 3 Halbsatz 2 des § 225 AO i. d. F. vor dem 1. Januar 1966 auf die Fälle objektiver Ungewißheit einzuengen.

Daß die vom Senat vertretene Auffassung richtig ist, zeigt auch die historische Entwicklung. § 100 Abs. 1 und § 225 AO gehen zurück auf § 82 und § 214 AO 1919. Der seinerzeitige Regierungsentwurf sah im § 82 Abs. 1 Satz 2 vor, daß nach Beseitigung der Ungewißheit die Festsetzung nachzuholen oder nach § 214 AO zu berichtigen sei (Drucksachen der Nationalversammlung Nr. 759 S. 19). In § 214 des Entwurfes war vorgesehen, daß die Steuer mit der Beseitigung der Ungewißheit entstehe. Danach war in dem Regierungsentwurf die Verknüpfung zwischen den beiden Vorschriften so eindeutig, daß nicht die Auslegung möglich ist, der Hinweis auf § 214 sollte hinsichtlich der Vorschrift über das Entstehen des Anspruches nur in den Fällen objektiver Ungewißheit gelten. Daß bei den Gesetzesberatungen der Satz 2 des § 82 Abs. 1 des Entwurfes sodann inhaltlich in den § 214 AO übernommen worden ist, änderte an der Verknüpfung der Vorschriften des § 82 Abs. 1 und des § 214 nichts. Der Ausschußbericht bemerkte nur, daß die §§ 82 und 214 in etwas vervollständigter Weise verabschiedet worden seien (Drucksachen der Nationalversammlung Nr. 1460 S. 15).

Daß § 82 AO 1919 vor allem auch für Fälle subjektiver Ungewißheit geschaffen worden ist, zeigt auch § 24 des Erbschaftsteuergesetzes (ErbStG) von 1906, auf den § 82 AO 1919 letztlich zurückgeht (vgl. die Regierungsbegründung a. a. O. zu § 82 S. 103). Nach § 24 ErbStG 1906 wurden Ungewisse oder unsichere Rechte und andere zur sofortigen Wertermittlung nicht geeignete Gegenstände mit ihrem mutmaßlichen Wert angesetzt, den der Steuerpflichtige vorzuschlagen hatte. Konnte keine Einigung erzielt werden, so konnte das Erbschaftsteueramt von dem ihm angemessen erscheinenden Wert die Steuer einziehen und sich Berichtigung des Wertansatzes vorbehalten. Zur Verjährung der Erbschaftsteuer in diesen Fällen wurde damals die Auffassung vertreten, daß der Steueranspruch als bis zum Ausgang der Verhandlungen über den Wert hinausgeschoben gelte und zu diesem Zeitpunkt wieder zur Entstehung gelange, so daß der Lauf der Verjährung erst mit diesem Zeitpunkt einsetze (vgl. Zimmermann, Kommentar zum Reichserbschaftsteuergesetzes, 2. Auflg., § 54 Anm. 10).

Aus allem ergibt sich, daß im vorliegenden Fall § 225 Satz 3 Halbsatz 2 AO i. d. F. vor dem 1. Januar 1966 anwendbar ist. Ob sich an dieser Rechtslage etwas durch das Gesetz zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOÄG) vom 15. September 1965 (BGBl I, 1356) geändert hat, braucht der Senat in diesem Verfahren nicht zu prüfen. Es bedarf deshalb auch keiner Auseinandersetzung mit der vom VII. Senat zu § 145 Abs. 2 Nr. 4 AO i. d. F. ab 1. Januar 1966 vertretenen Auffassung, daß der Verjährungsbeginn nach dieser Vorschrift nur dann aufgeschoben werde, wenn objektiv noch nicht endgültig alle Voraussetzungen für die Entstehung der Steuer erfüllt gewesen seien (vgl. das Urteil vom 18. Dezember 1979 VII R 75-76/77, BFHE 129, 530).

4. Die Steuer gilt danach für Zwecke der Verjährung als mit der Beseitigung der Ungewißheit entstanden. Für die Festlegung dieses Zeitpunktes kommt es entgegen der Auffassung des FG nicht darauf an, wie sich die Verhältnisse für das FA X darstellten. Dieses FA hatte vielmehr bei dem FA Y um Feststellung des gemeinen Wertes der geschenkten Anteile gebeten. Damit hatte es ein Verfahren zur Feststellung des gemeinen Wertes der Anteile angeregt (vgl. § 66 Abs. 2 BewDV). Die erforderlichen Angaben für die Wertermittlung waren somit gegenüber dem FA Y zu machen. Für die Frage, wann die bestehende Ungewißheit beseitigt worden ist, kann es unter diesen Umständen nur darauf ankommen, wie sich die Verhältnisse für das FA Y darstellten. Hierüber sind bisher keine Feststellungen getroffen worden.

Sollten die weiteren Ermittlungen ergeben, daß unter diesen Umständen eine Ungewißheit spätestens im Jahre 1967 beseitigt worden ist, so wären die Nachforderungsansprüche bei Erlaß der endgültigen Steuerbescheide im Jahre 1972 nur dann nicht verjährt gewesen, wenn der Ablauf der Verjährungsfrist durch eine Ablaufhemmung hinausgeschoben worden sein sollte. Eine Ablaufhemmung könnte durch die bei der A-GmbH durchgeführte Betriebsprüfung eingetreten sein (vgl. § 146 a Abs. 3 AO i. d. F. ab 1. Januar 1966), wenn die Prüfung sich auch auf die Anteilsbewertung erstreckt haben sollte, für die das FA Y zuständig war (vgl. in diesem Zusammenhang das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 10. Dezember 1971 III R 35/71, BFHE 104, 282, BStBl II 1972, 331). Auch zu dieser Frage sind bisher keine ausreichenden Feststellungen getroffen worden.

 

Fundstellen

Haufe-Index 510109

BFHE 1981, 511

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