Leitsatz (amtlich)

Es stellt regelmäßig einen Verstoß gegen § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 i. V. m. § 102 FGO dar, wenn im Falle der Anfechtung einer Erlaßrücknahme gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 das Urteil des FG lediglich Ausführungen zu den tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Erlaßrücknahme enthält und auf die Frage der fehlerfreien Ermessensausübung nicht eingeht.

 

Normenkette

FGO § 102; AO 1977 § 130 Abs. 2 Nr. 3

 

Verfahrensgang

Niedersächsisches FG

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob ein aus sachlichen Gründen gewährter Billigkeitserlaß zurückgenommen werden durfte.

Die Klägerin zu 1 und die Erbengemeinschaft (Klägerin zu 2) nach ihrem verstorbenen Ehemann (Erblasser) sind Eigentümer je zur ideellen Hälfte eines landwirtschaftlichen Hofes. Der Klägerin zu 1 allein gehört ferner ein landwirtschaftlicher Grundbesitz, der gemeinsam mit dem erwähnten Hof bewirtschaftet wird. Die Wohn- und Wirtschaftsgebäude des Grundbesitzes der Klägerin zu 1 sind abgebrannt. Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) ist ein Wiederaufbau nicht geplant.

Mit notariell beurkundetem Vertrag kauften die Klägerin zu 1 und der Erblasser einen landwirtschaftlichen Betrieb in Niedersachsen. Sie beantragten Freistellung von der Grunderwerbsteuer nach dem Gesetz über Befreiungen von der Grunderwerbsteuer beim Erwerb von Grundstücken zur Verbesserung der Struktur land- und forstwirtschaftlicher Betriebe (GrEAgrG). Zur Begründung führten sie an, der Erwerb des landwirtschaftlichen Betriebs diene der Aufstockung ihrer beiden vorhandenen landwirtschaftlichen Betriebe. Die Aufstockung sei notwendig, um Wirtschaftseinheiten in vernünftiger Größe zu schaffen. Ihre beiden Kinder sollten nach Beendigung ihrer landwirtschaftlichen Berufsausbildung die neu geschaffenen Betriebe zur selbständigen Führung übernehmen.

Nach Vorlage der durch § 1 Abs. 2 GrEAgrG vorgeschriebenen Zweckdienlichkeitsbescheinigung seitens der Klägerin zu 1 und des Erblassers sowie nach einer Besichtigung des erworbenen Gutes durch einen Sachverständigen der Finanzbehörde erließ das beklagte Finanzamt (FA) mit zwei Verfügungen den Klägern je einen Teil der festgesetzten Grunderwerbsteuer unter Hinweis auf § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) i. V. m. dem Erlaß des Finanzministers vom 14. August 1962 S 4504 - 32 -31 3 (abgedruckt bei Schultze/Förger/Hofmann, GrESt Nds., 5. Aufl., S. 206). Zu einer unmittelbaren Freistellung von der Grunderwerbsteuer hatte sich das FA nicht in der Lage gesehen, weil nicht ein landwirtschaftlicher Betrieb im Lande Niedersachsen aufgestockt werden sollte.

Nach der Bekanntgabe der Erlaßverfügungen erfuhr das FA, daß die Besitzungen der Klägerin zu 1 und des Erblassers bewertungsrechtlich als ein einziger landwirtschaftlicher Betrieb geführt würden. Das FA hob daraufhin gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 die Erlaßverfügungen mit der Begründung auf, der Erlaß sei durch die unrichtige Angabe erreicht worden, daß zwei landwirtschaftliche Betriebe aufgestockt werden sollten. Es sei jedoch nur ein einziger landwirtschaftlicher Betrieb vorhanden. Dieser sei durch den Zukauf überdies nicht aufgestockt worden, da der neu erworbene Betrieb weiterhin selbständig geführt werde. Die gemeinsame Beschwerde wurde als unbegründet zurückgewiesen.

Das FG hat die Klagen mit der Begründung abgewiesen, das FA habe den Erlaß gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 zurücknehmen dürfen, da dieser durch unrichtige bzw. unvollständige Angaben erwirkt worden sei. Der Umfang der entsprechenden Wahrheitsbzw. Mitteilungspflicht richte sich nach § 90 AO 1977, wonach der Steuerpflichtige grundsätzlich die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenzulegen habe. Dieser Pflicht seien die Klägerin zu 1 und der Erblasser insoweit nicht nachgekommen, als sie bei der Beantragung der Vergünstigung die für die Erlaßgewährung wesentliche Tatsache nicht erwähnt hätten, daß beide Höfe gemeinsam bewirtschaftet würden. Der Umstand, daß die Erlaßrücknahme seitens des FA mit der verschwiegenen gemeinsamen Bewirtschaftung begründet worden sei, mache deutlich, daß das FA den Erlaß nicht ausgesprochen hätte, wenn ihm die gemeinsame Bewirtschaftung bekannt gewesen wäre. Im übrigen wäre das FA auch befugt gewesen, die Erlaßrücknahme auf einen anderen Grund zu stützen. In der Zeit zwischen Antragstellung und Erlaßgewährung seien auf der Hofstelle der Klägerin zu 1 die Wohn- und Wirtschaftsgebäude abgebrannt, ohne daß ein Wiederaufbau vorgesehen worden sei. Mithin habe fortan auch unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr von zwei landwirtschaftlichen Betrieben gesprochen werden können, was dem FA gegenüber hätte klargestellt werden müssen. Die Erlaßrücknahme sei nicht etwa im Hinblick darauf rechtswidrig, daß das FA nicht einmal den Erlaß hinsichtlich des einen vorhandenen landwirtschaftlichen Betriebes aufrechterhalten habe. Der Erlaß sei u. a. im Hinblick darauf gewährt worden, daß mit dem Antrag hinreichend deutlich die Absicht bekundet worden sei, die bisherige Eigenständigkeit des hinzuerworbenen landwirtschaftlichen Betriebes zu beenden und diesen in den vorhandenen Betrieb bzw. die vorhandenen Betriebe zu integrieren. Diese Umstrukturierung sei bislang nicht geschehen, so daß der Erwerb auch unter diesem Gesichtspunkt nicht der Aufstokkung eines Kleinbetriebes diene, weswegen der Erlaß in vollem Umfang habe zurückgenommen werden dürfen.

Mit der Revision beantragen die Kläger, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Erlaßrücknahmebescheide und die Beschwerdeentscheidung aufzuheben, hilfsweise, die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Sie rügen Verletzung des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 sowie unzureichende Erfüllung der Aufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -) und machen geltend, das FG habe übersehen, daß § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 eine Ermessensvorschrift ist, und habe demzufolge es zu Unrecht unterlassen, die Rücknahmebescheide und die Beschwerdeentscheidung schon um deswillen aufzuheben, weil diese nicht einmal Ansätze einer Ermessensabwägung enthielten. Das FG habe die erwähnte Vorschrift auch sonst unzutreffend ausgelegt, indem das FG die Angaben im Antragsschreiben als unvollständig angesehen und die Unvollständigkeit als entscheidungserheblich beurteilt sowie verkannt habe, daß jedenfalls ein aufstokkungsfähiger Hof vorhanden sei, so daß eine vollständige Erlaßrücknahme nicht gerechtfertigt sein könne. Das FG habe schließlich seine Aufklärungspflicht verletzt, indem es nicht nachgeprüft habe, ob dem Beklagten nicht schon vor der Erlaßgewährung die gemeinsame Bewirtschaftung bekannt gewesen sei und ob nach dem Brand der Wohn- und Wirtschaftsgebäude ein Wiederaufbau wirklich nicht geplant gewesen sei.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

II.

Auf die Revision wird das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht, und zwar in Gestalt des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 sowie des § 102 FGO.

Das FA hat die umstrittene Rücknahme des Grunderwerbsteuererlasses auf § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 gestützt. Nach dieser Vorschrift darf ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), u. a. dann zurückgenommen werden, wenn ihn der Begünstigte durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Die finanzbehördliche Entscheidung, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, stellt eine Ermessensentscheidung dar (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 10. Aufl., § 130 AO 1977 Rdnr. 9). Demgemäß ist im Falle der gerichtlichen Anfechtung die Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nach § 102 FGO zu überprüfen, wonach das Gericht, soweit die Finanzbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln oder zu entscheiden, prüft, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Dabei hat das Gericht im Falle der Aufdeckung von Ermessensfehlern die Ermessensentscheidung aufzuheben; es darf grundsätzlich nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der Verwaltungsbehörde setzen (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 102 FGO Rdnr. 2).

Entgegen der Annahme des FA gilt im vorliegenden Fall nichts anderes unter dem Gesichtspunkt der Ermessenseinengung. Für Fälle eingeengten Ermessens ist anerkannt, daß das FG bei der Aufdeckung von Ermessensfehlern nicht nur wie im Regelfall die Befugnis hat, die Ermessensentscheidung aufzuheben, sondern daß es auch befugt ist, sein eigenes Ermessen als Maßstab der Rechtmäßigkeit zu verwenden (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 102 FGO Rdnrn. 2 und 3). Diese Voraussetzungen, unter denen sich die finanzgerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung weitgehend der einer strikten Rechtsentscheidung annähern kann, sind im vorliegenden Fall jedoch nicht gegeben, da es an einer entsprechenden Ermessenseinengung für die Erlaßrücknahme fehlt.

Das FA hat nicht geltend gemacht, die von ihm angenommene Ermessenseinengung rühre gerade aus den die Erlaßrücknahme unmittelbar betreffenden Umständen und Verhältnissen her. Das FA vertritt vielmehr die Ansicht, eine Ermessenseinengung ergebe sich mittelbar aus den Umständen, die zum Erlaß geführt haben. Infolge einer Selbstbindung der Finanzbehörden sei nämlich für das vorausgegangene Erlaßverfahren der Ermessensspielraum dahin eingeengt worden, daß ein Grunderwerbsteuererlaß im Falle der Aufstockung eines außerhalb des Landes Niedersachsen liegenden Kleinbetriebes im selben Umfang zu gewähren oder zu versagen gewesen sei, wie ihn die gesetzliche Regelung im GrEAgrG für niedersächsische Kleinbetriebe vorgesehen habe. Diese bei der Erlaßgewährung gegebene Ermessenseinengung sei wegen des Gebots der Gleichmäßigkeit der Besteuerung auch für die Frage der Rücknahme des Erlasses nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 maßgebend.

Es kann dahingestellt bleiben, ob im vorausgegangenen Erlaßverfahren die vom FA angenommene Selbstbindung (vgl. hierzu Tipke/Kruse, a. a. O., § 4 AO 1977 Rdnr. 38, § 5 AO 1977 Rdnr. 26 und § 227 AO 1977 Rdnr. 26) in dem Sinne bestanden hat, daß ein sachlicher Billigkeitserlaß nur nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften über die grunderwerbsteuerlichen Vergünstigungen beim Aufstockungserwerb gewährt oder verweigert werden konnte. Selbst wenn diese Frage bejahend zu beantworten wäre, ließe sich hieraus nicht eine entsprechende Ermessenseinengung für die Rücknahme des Erlasses gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 herleiten. Anderenfalls würde der dieser Vorschrift zugrunde liegende gesetzgeberische Zweck mißachtet.

Die durch § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 für begünstigende Verwaltungsakte vorgesehene Rücknahmemöglichkeit ist, etwa im Gegensatz zur Aufhebungs- oder Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 AO 1977, nicht als eine die Finanzbehörde strikt verpflichtende Regelung, sondern als Einräumung einer Ermessensentscheidung ausgestaltet. Die ins Ermessen gestellte Befugnis ist nicht davon abhängig, daß es sich bei dem begünstigenden Verwaltungsakt, dessen Rücknahme in Betracht kommt, um eine strikte Rechtsentscheidung oder um eine Ermessensentscheidung bei im Einzelfall weitgehender Ermessenseinengung, die den strikten Rechtsentscheidungen sehr nahekommt, oder um eine Ermessensentscheidung ohne jegliche Ermessenseinengung handelt (wegen des Katalogs der von § 130 Abs. 2 AO 1977 betroffenen Verwaltungsakte vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 130 AO 1977 Rdnr. 4). Da es nicht einmal angängig wäre, bei der Rücknahme einer begünstigenden strikten Rechtsentscheidung den Ermessenscharakter des § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 zu vernachlässigen, darf bei der Rücknahme einer begünstigenden Ermessensentscheidung, selbst wenn diese unter weitgehender Ermessenseinengung erlassen worden ist, erst recht nicht angenommen werden, daß kaum noch ein Ermessensspielraum bei der Rücknahme vorhanden ist, zumal die Ermessensentscheidung, was die Zwangsläufigkeit der Rechtsfolge anbelangt, trotz der Einengung des Ermessens regelmäßig hinter der strikten Rechtsentscheidung noch zurückbleiben wird und diese allenfalls erreichen, aber nicht übertreffen kann.

Gegen die Annahme des FA, daß im vorliegenden Fall das Ermessen bei der Entscheidung über die Erlaßrücknahme durch die Ermessenseinengung bei der Erlaßgewährung weitgehend eingeschränkt gewesen sei, spricht ferner die Überlegung, daß der Zweck des den Finanzbehörden eingeräumten Ermessens beim Erlaß nach § 227 AO 1977 einerseits und bei der Rücknahme des Erlasses nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 andererseits unterschiedlich ist (vgl. Tipke/Kruse, a. a. O., § 227 AO 1977 Rdnrn. 18 ff. und § 130 AO 1977 Rdnr. 9). Umstände, die bei der Erlaßgewährung das Ermessen einengen können, brauchen nicht in demselben Maße entsprechende Wirkungen für die Rücknahme des Erlasses zu entfalten. Auch dies steht der Annahme entgegen, daß sich eine Ermessenseinengung im Rahmen des § 227 AO 1977 einfach auf die Frage übertragen ließe, ob der Erlaß später nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 zurückgenommen werden darf.

Der im vorliegenden Verfahren mithin uneingeschränkt anwendbare § 102 FGO ist vom FG nicht beachtet worden. Allerdings ergibt sich eine Verletzung der Vorschrift nicht daraus, wie die Kläger meinen, daß das FG ausgeführt hat, das FA wäre auch befugt gewesen, die Erlaßrücknahme darauf zu stützen, daß seitens der Kläger pflichtwidrig unterlassen worden sei, das FA von dem Brand der Wohn- und Wirtschaftsgebäude und der fehlenden Wiederaufbauabsicht zu unterrichten. Derartige Ausführungen waren dem FG nicht durch § 102 FGO untersagt, so daß aus ihnen nicht auf eine Verkennung der Maßgeblichkeit des § 102 FGO durch das FG geschlossen werden kann.

Wie der Bundesfinanzhof (BFH) entschieden hat (Urteil vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508), sind Ermessensentscheidungen zweistufig. Auf der ersten Stufe wird darüber befunden, ob die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen dafür vorliegen, daß eine Ermessensentscheidung ergeht. Insoweit ist für eine Ermessensausübung kein Raum; vielmehr liegt eine von den FG in vollem Umfang nachprüfbare Rechtsentscheidung vor. Sind die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt, so wird auf der zweiten Entscheidungsstufe unter Abwägung des Für und Wider die eigentliche Ermessensentscheidung getroffen, deren finanzgerichtliche Nachprüfung sich im Rahmen des § 102 FGO zu halten hat.

Die von den Klägern beanstandeten Ausführungen zur pflichtwidrigen Unterlassung einer vollständigen Unterrichtung des FA betreffen die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen der Erlaßrücknahme gemäß § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977. Sie gehören mithin in den Bereich der ersten Entscheidungsstufe. Bei der entsprechenden Würdigung unterliegt das FG nicht den Beschränkungen des § 102 FGO. Das FG war demnach nicht gehindert, Überlegungen darüber anzustellen, ob durch andere als die vom FA insoweit herangezogenen Sachverhaltselemente die Voraussetzungen für eine Erlaßrücknahme erfüllt sind.

Der gerügte Verstoß gegen § 102 FGO seitens des FG ergibt sich jedoch aus anderen Gesichtspunkten. Das FG hat die erwähnte Bestimmung weder zitiert noch inhaltlich wiedergegeben. Es hat darüber hinaus die Rechtmäßigkeitsprüfung nicht nach den Regeln vorgenommen, die durch § 102 FGO vorgesehen sind. Es hat vielmehr seine Überprüfung darauf beschränkt, sich mit den tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für eine Erlaßrücknahme nach § 130 Abs. 2 Nr. 3 AO 1977 auseinanderzusetzen, und hat es unterlassen, der Frage nachzugehen, ob das FA und die Oberfinanzdirektion (OFD) bei der Entscheidung über die Erlaßrücknahme fehlerfrei Ermessen ausgeübt haben. Die Bescheide über die Erlaßrücknahme und die Beschwerdeentscheidung lassen in dieser Hinsicht erhebliche Zweifel aufkommen.

Das FG hat nicht von einer zureichenden stillschweigenden Ermessensausübung durch das FA und die OFD ausgehen können. Weder die festgestellten Tatsachen noch das Vorbringen der Beteiligten rechtfertigen die Annahme, daß ausnahmsweise die auf der zweiten Stufe beim Zustandekommen einer Ermessensentscheidung zu treffende eigentliche Ermessensentscheidung, ob eine Erlaßrücknahme ausgesprochen werden soll, durch die Prüfung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen für die Erlaßrücknahme so vorgeprägt gewesen ist, daß von einer stillschweigenden Ermessensausübung ausgegangen werden könnte (vgl. das zitierte Urteil in BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508). Angesichts dessen braucht der Senat nicht die Frage zu erörtern, ob in Fällen, in denen sich annehmen läßt, daß das Ermessen zulässigerweise stillschweigend ausgeübt worden ist, im finanzgerichtlichen Verfahren ohne Verstoß gegen § 102 FGO die Ermessensausübung nicht besonders behandelt zu werden braucht.

2. Da im angefochtenen Urteil die mithin erforderliche Erörterung der Frage fehlt, ob bei der Erlaßrücknahme vom FA und von der OFD fehlerfrei Ermessen ausgeübt worden ist, war das Urteil aufzuheben. Das FG wird bei seiner neuerlichen Verhandlung und Entscheidung insbesondere zu prüfen haben, ob im vorliegenden Fall von dem Grundsatz abgewichen werden kann, daß die Rechtmäßigkeit einer Ermessensentscheidung im allgemeinen die finanzbehördliche Bekanntgabe der Ermessensabwägungen voraussetzt (vgl. BFH-Urteil vom 3. Juni 1982 Vl R 48/79, BFHE 136, 224, 229, BStBl II 1982, 710), etwa im Hinblick darauf, daß die Ermessensabwägungen der Klägerin zu 1 und dem Erblasser - möglicherweise aufgrund vorangegangener Verhandlungen - bereits bekannt waren oder ohne diesbezügliche schriftliche Ausführungen ohne weiteres erkennbar waren. Dabei bleibt allerdings zu beachten, daß die Frage nach der Entbehrlichkeit einer schriftlichen Bekanntgabe für die einzelnen im Rahmen der Ermessensausübung bedeutsamen Gesichtspunkte (im vorliegenden Fall z. B. für die etwaige Mitverantwortung der Finanzbehörden beim Zustandekommen eines unzutreffenden Bildes vom Sachverhalt bei der Erlaßgewährung oder für die Angemessenheit einer bloß teilweisen Rücknahme) unterschiedlich zu beantworten sein kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 74936

BStBl II 1984, 321

BFHE 1984, 128

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