Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei versäumter Einspruchsfrist

 

Leitsatz (NV)

1. Zum Verschulden i. S. des § 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 bei einem Irrtum über das Wesen einer gesetzlichen Ausschlußfrist.

2. Auch der Gesamtprokurist ist ,,Vertreter" i. S. des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977.

 

Normenkette

AO 1977 § 110 Abs. 1

 

Tatbestand

In der Zeit vom 22. November 1982 bis zum 14. Januar 1983 fand bei der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), einer GmbH & Co. KG, eine Betriebsprüfung statt. An der Schlußbesprechung am 14. Januar 1983 nahmen von seiten der Klägerin teil: der Geschäftsführer der Komplementär-GmbH, der frühere Geschäftsführer und der Leiter des Rechnungswesens der Klägerin und Gesamtprokurist K, welcher im Schreiben der Klägerin vom 11. März 1982 zum Empfangsbevollmächtigten ,,für unsere Steuerbescheide" bestellt worden war. Über die Schlußbesprechung liegt ein Vermerk des Betriebsprüfers vor, in dem es u. a. heißt:

,,. . . Auf die abschließende Frage nach dem weiteren ,Gang der Dinge` ist über die veranlagende Bp-Bericht- und Bescheiderstellung durch den Bpr gesprochen worden. Herr . . . (der gegenwärtige Geschäftsführer) bat daraufhin unter Hinweis auf seine österr. Staatangehörigkeit und geringen Kenntnisse des deutschen Steuerrechts sich von der Steuerabteilung seiner WP-Ges. . . . in diesem Punkt beraten zu lassen und mit der Erstellung u. Absendung des Berichts und der Stbescheide bis nach einer evtl. stattfindenden Besprechung bei der (Wp-Ges.) zu warten. Dies wurde ihm zugesichert."

Eine weitere Schlußbesprechung unter zusätzlicher Mitwirkung des Prozeßbevollmächtigten der Klägerin fand am 26. Januar 1983 statt. Am 10. Februar 1983 wurde der Prozeßbevollmächtigte vom Betriebsprüfer telefonisch darüber unterrichtet, daß eine Anerkennung der strittigen Beträge nicht erfolgen könne und daß ,,Bericht u. Bescheide erstellt würden". Unter dem 2. März 1983 übersandte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) den Betriebsprüfungsbericht an den Empfangsbevollmächtigten K.

Mit gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) geänderten Bescheiden vom 11. März 1983 stellte das FA die Gewinne der Klägerin für 1977 und für 1979 sowie die Einheitswerte des Betriebsvermögens auf den 1. Januar 1978, den 1. Januar 1979 und den 1. Januar 1980 gesondert und einheitlich fest. Sämtliche Bescheide waren an den Empfangsbevollmächtigten K adressiert und wurden am 11. März 1983 zur Post gegeben.

Am 23. März 1983 ging folgendes Schreiben des Prozeßbevollmächtigten beim FA ein:

,,. . . der Steuerpflichtigen ist der oben genannte Bericht Anfang März d. J. zugestellt worden.

Wir haben den Bericht inzwischen durchgesehen und mit der Geschäftsleitung der Steuerpflichtigen abgestimmt, daß Einwendungen zu den Prüfungsfeststellungen in Tz. 18 erhoben werden sollen.

Da der Unterzeichnete sich bis zum 10. April 1983 in Urlaub befindet, bitten wir die Frist für die Stellungnahme bis zum 30. April d. J. zu verlängern."

Am 29. April 1983 legte die Klägerin gegen die vorgenannten Bescheide Einspruch ein. Gleichzeitig beantragte sie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das Schreiben vom 23. März 1983 sei vom Prozeßbevollmächtigten in dem Glauben verfaßt worden, daß die Bescheide noch nicht vorgelegen hätten. Dieses Schreiben habe die Klägerin annehmen lassen, daß gegen die Bescheide zunächst keine Einwendungen erhoben werden müßten, zumal sich aus dem Betriebsprüfungsbericht ergebe, daß auf die Möglichkeit, zu den Prüfungsfeststellungen innerhalb angemessener Frist Stellung zu nehmen, nicht verzichtet worden sei. Mit Einspruchsentscheidung vom 24. Juni 1983, in der das FA eine Wiedereinsetzung der Klägerin in den vorigen Stand ablehnte, wurde der Einspruch als unzulässig verworfen.

Die Klage, mit der die Klägerin die Aufhebung der Einspruchsentscheidung begehrte, blieb ebenfalls erfolglos. Das Finanzgericht (FG) ist wie das FA der Auffassung, daß der Einspruch verspätet erhoben wurde und der Klägerin wegen Verschuldens des Empfangsbevollmächtigten und Gesamtprokuristen K Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO 1977 nicht zu gewähren sei.

Mit ihrer vom FG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Sie beantragte, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet.

1. Zu Recht ist das FG der Auffassung, daß die Klägerin an der Versäumung der Einspruchsfrist ein Verschulden trifft und deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO 1977 nicht zu gewähren war.

a) Gemäß § 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 ist dem Steuerpflichtigen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Ein Verschulden ist hier zu bejahen.

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen unverschuldeten Rechtsirrtums kann nur dann gewährt werden, wenn sich der Irrtum auf die Rechtsbehelfsfrist selbst oder die Form seiner Einlegung bezog (Urteile des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 29. Juli 1954 V 50/54 U, BFHE 59, 212, BStBl III 1954, 290; vom 8. März 1957 VI 117/55 U, BFHE 64, 509, BStBl III 1957, 190; vom 9. März 1961 V 76/59, Höchtsrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1961, 160; vom 28. April/1. September 1961 III 77/59 U, BFHE 74, 120, BStBl III 1962, 45, und der Beschluß vom 9. Mai 1967 II B 3/67, BFHE 88, 541, BStBl III 1967, 472). Irrtümer über das Wesen einer Ausschlußfrist oder über materielles Recht begründen dagegen eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht (hierzu der BFH in HFR 1961, 160; BFHE 74, 120, BStBl III 1962, 45; BFHE 88, 541, BStBl III 1967, 472); denn in diesen Fällen kann dem Steuerpflichtigen zugemutet werden, von seinen Verfahrensrechten in der gebotenen Weise Gebrauch zu machen bzw. sich hierüber zu informieren.

Im Streitfall bezog sich der Irrtum des K nicht auf die Dauer der Einspruchsfrist und die Form des einzulegenden Rechtsbehelfs. Denn welche Frist einzuhalten und welche Form geboten ist, ging aus den Rechtsbehelfsbelehrungen der Bescheide mit hinreichender Deutlichkeit hervor, wie auch von der Klägerin eingeräumt wird. K war vielmehr der irrigen Meinung, daß die Klägerin ihre materiell-rechtlichen Einwendungen gegen die Feststellungen im Betriebsprüfungsbericht auch noch nach Ablauf der Einspruchsfrist würde vortragen können. Er irrte also über das Wesen der gesetzlichen Ausschlußfrist, welche derartige Einwendungen nur nach rechtzeitiger Einspruchseinlegung zuläßt.

An diesem Rechtsirrtum trifft ihn ein Verschulden. Unter den gegebenen Umständen wäre er verpflichtet gewesen, sich über die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten gegen die seiner Meinung nach unrichtigen Prüfungsfeststellungen vorzugehen, insbesondere gegen die ihm zugestellten Bescheide rechtzeitig Einspruch einzulegen, zu informieren. Hierzu standen ihm verschiedene Wege offen: Er hätte die Bescheide sofort an den Prozeßbevollmächtigten übersenden und diesem die weiteren Maßnahmen überlassen können und er hätte sich an das FA wenden und dieses um Rat fragen können.

Daß er dies unterließ, ist als Verschulden im Sinne des § 110 Abs. 1 Satz 1 AO 1977 zu werten.

b) Das Verschulden des K ist der Klägerin auch nach § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 zuzurechnen.

Der Begriff des ,,Vertreters" nach dieser Vorschrift ist weit auszulegen (Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 110 AO 1977 Anm. 72; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 11. Aufl., § 110 AO 1977 Tz. 22). Zu den Vertretern gehören neben den gesetzlichen auch die gewillkürten Vertreter (Bevollmächtigten) im Sinne des § 80 AO 1977. Durch Rechtsgeschäft bestellter Vertreter ist auch der Prokurist oder Gesamtprokurist nach §§ 48 ff. des Handelsgesetzbuches (HGB).

Die Tatsache, daß K als Gesamtprokurist (§ 48 Abs. 2 HGB) zu Rechtshandlungen nur gemeinsam mit dem anderen Gesamtprokuristen ermächtigt und daher mangels Vorliegens spezieller - vom FG nicht festgestellter - Vollmachten, auch zur Einspruchseinlegung nur gemeinschaftlich mit jenem befugt war, rechtfertigt es nicht, ihm die Vertretereigenschaft im Sinne des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 abzusprechen. Denn das Erfordernis gemeinschaftlichen Handelns bedeutet nicht zwangsläufig gleichzeitiges Handeln: K hätte zunächst allein Einspruch einlegen und diese Rechtshandlung später durch den anderen Gesamtprokuristen mit rückwirkender Kraft genehmigen lassen können (§§ 182, 184 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -; siehe Würdinger in Brüggemann/Würdinger, Handelsgesetzbuch, 3. Aufl., § 48 Anm. 14; Baumbach/Duden, Handelsgesetzbuch, 26. Aufl., § 48 Anm. 2 A, § 125 Anm. 5 A).

Der Einwand der Klägerin, daß die Folgen des Untätigbleibens den Vertretenen nur dann treffen dürften, wenn alle zu seiner Vertretung berufenen Gesamtprokuristen übereinstimmend und bewußt untätig geblieben seien, beruht auf einer Verkennung des Wesens der Gesamtvertretung. Denn es ist allgemein anerkannt, daß Willensmängel, Kenntnis und Kennenmüssen von Tatsachen sowie ein etwaiges Verschulden auch nur eines Gesamtvertreters dem Vertretenen zuzurechnen sind (siehe Urteile des Reichsgerichts vom 19. Februar 1912, Rep. VI 291/11, RGZ 78, 347, 354; vom 30. Januar 1925 VI 301/24, RGZ 110, 145; des Bundesgerichtshofs vom 3. März 1956 IV ZR 314/55, BGHZ 20, 149; Würdinger, a.a.O., § 48 Anm. 15; Baumbach/Duden, a.a.O. § 48 Anm. 2 A; Schlegelberger, Handelsgesetzbuch, 5. Aufl., § 48 Anm. 29).

Da sich die Vertretereigenschaft des K im Sinne des § 110 Abs. 1 Satz 2 AO 1977 somit schon aus seiner Rechtsstellung als Gesamtprokurist ergibt, kommt es auf die Frage nach seinen speziellen Befugnissen im Rahmen der bei der Klägerin gegebenen betrieblichen Organisation nicht mehr an. Die insoweit erhobene Verfahrensrüge geht daher ins Leere.

 

Fundstellen

Haufe-Index 414628

BFH/NV 1986, 717

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