Leitsatz (amtlich)

Die Fristbestimmung in § 71 Abs. 2 EStDV ist rechtsunwirksam.

 

Normenkette

EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8, § 51 Abs. 1 Nr. 1c; EStDV § 71 Abs. 2

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b EStG 1969 auf ihren Antrag zur Einkommensteuer für das Kalenderjahr 1969 zu veranlagen sind.

Die Kläger beantragten am 30. April 1971 die Veranlagung zur Einkommensteuer für das Kalenderjahr 1969 entsprechend der beigefügten Einkommensteuererklärung, in der sie neben Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit einen infolge erhöhter AfA nach § 7b EStG entstandenen Verlust aus Vermietung und Verpachtung erklärten. Wegen der Versäumung der Frist zur Abgabe dieser Steuererklärung beantragten sie Nachsicht. Der Beklagte und Revisionskläger (FA) lehnte die Veranlagung ab, weil die Frist für den Antrag auf Veranlagung wegen berechtigten Interesses mit dem Zeitpunkt geendet habe, zu dem die Steuererklärungen zum größten Teil eingegangen seien. Das sei für die Einkommensteuererklärung 1969 der 31. März 1971 gewesen.

Der Einspruch blieb erfolglos, während das FG die Verpflichtungsklage für begründet hielt. Hierbei ging das FG davon aus, daß die in § 71 Abs. 2 EStDV bestimmte Frist nur dann eine Ausschlußfrist sein könne, wenn der sich hieraus ergebende Endtermin selbst so eindeutig bestimmt sei, daß der Steuerpflichtige von diesem Termin rechtzeitig Kenntnis nehmen und sich entsprechend einrichten könne. Dies sei nicht der Fall, was rechtsstaatlichen Grundsätzen widerspreche. Die Fristsetzung sei daher rechtsunwirksam. Somit sei deren Versäumung unbeachtlich. Das FA müsse die von den Klägern beantragte Veranlagung durchführen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Das FG hat das FA zu Recht verpflichtet, die Kläger gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b EStG 1969 für den Veranlagungszeitraum 1969 zur Einkommensteuer zu veranlagen.

In den Fällen des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG kann der Antrag auf Veranlagung nach § 71 Abs. 2 EStDV "nur bis zum Ablauf der Steuererklärungsfrist gestellt werden". Es kann dahingestellt bleiben, ob Steuererklärungsfrist im Sinne dieser Vorschrift die "allgemeine Steuererklärungsfrist" ist (so die Urteile des BFH vom 13. Januar 1961 VI 169/60 U, BFHE 72, 345, BStBl III 1961, 129, und vom 29. Mai 1963 IV 331/62, HFR 1963, 364) oder ob diese Frist erst mit dem Zeitpunkt endet, "in dem der Großteil der Steuererklärungen bei den Finanzämtern eingegangen ist" (so die EStR 1969 Abschn. 217 im Anschluß an das BFH-Urteil vom 8. März 1957 VI 117/55 U, BFHE 64, 509, BStBl III 1957, 190; hiergegen das FG Rheinland-Pfalz in seinem rechtskräftigen Urteil vom 29. Oktober 1970 III 1821/67, EFG 1971, 139). Die Fristbestimmung in § 71 Abs. 2 EStDV ist schon deshalb unbeachtlich, weil sie nicht durch eine Ermächtigung des Gesetzgebers gedeckt und daher ungültig ist. Eine Regelung des Inhalts, daß in den Fällen des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG der Antrag auf Veranlagung nur innerhalb einer bestimmten - vom Verordnungsgeber festzulegenden - Frist gestellt werden kann, enthält das EStG nicht. Diese Fristbindung läßt sich auch nicht etwa daraus herleiten, daß die Veranlagung wegen berechtigten Interesses einen Antrag voraussetzt. Dieser ist der Natur der Sache nach für das Tätigwerden des FA erforderlich, ohne daß dieser nur fristgebunden, vorstellbar wäre. Als Ermächtigungsnorm für die Fristsetzung des Verordnungsgebers gemäß § 71 Abs. 2 EStDV kommt nur § 51 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. c EStG 1969 in Betracht. Hiernach ist die Bundesregierung ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates Durchführungsverordnungen zum Einkommensteuergesetz unter anderem "über die Veranlagung" zu erlassen. Daß unter Veranlagung in diesem Sinne auch das Veranlagungsverfahren zu verstehen ist, unterliegt keinem Zweifel. Die Ermächtigung ist gegenständlich durch den Hinweis begrenzt, daß Durchführungsverordnungen zu erlassen sind, "soweit dies zur Wahrung der Gleichmäßigkeit bei der Besteuerung ... oder zur Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens erforderlich ist". Damit hat das Gesetz dem Verordnungsgeber ein "Programm" gesetzt (vgl. hierzu die Entscheidungen des BVerfG veröffentlicht in BVerfGE 5, 71 ff., 77; 8, 274 ff., 307), das man trotz gewisser Bedenken noch als den Erfordernissen des Art. 80 GG entsprechend ansehen kann.

Zu entscheiden ist danach, ob die in § 71 Abs. 2 EStDV bestimmte Antragsfrist durch den Rahmen der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt ist; denn es gehört zum Wesen einer Durchführungsverordnung, daß sie sich im Rahmen des Gesetzes halten muß. Der BFH hat diese Frage in seinem Urteil VI 169/60 U bejaht und dazu ausgeführt, es diene der gleichmäßigen Behandlung aller Steuerpflichtigen, wenn sich die Veranlagung zeitlich möglichst nahe an die Ergebnisse eines Veranlagungszeitraums anschließe. Das müsse auch für die Veranlagung wegen berechtigten Interesses gelten. Das Gesetz sehe es gleichsam als selbstverständlich an, daß sich das Veranlagungsrecht des Steuerpflichtigen grundsätzlich im Rahmen der allgemeinen Veranlagung auswirken solle und müsse. Das bedinge zwangsläufig eine Fristbestimmung und diese habe auf die allgemeine Steuererklärungsfrist abgestellt werden müssen, weil nur so die Gleichmäßigkeit in der Behandlung aller Steuerpflichtigen habe sichergestellt werden können. Die Fristbestimmung halte sich somit im Rahmen des EStG und sei rechtsgültig. Abgesehen davon, daß diese Rechtsauffassung im Urteil VI 169/60 U nur als obiter dictum vertreten wird und das Urteil nicht trägt, wird hierbei übersehen, daß die allgemeine Steuererklärungsfrist, die gemäß § 56 Abs. 3 EStDV von den obersten Finanzbehörden der Länder mit Zustimmung des BdF alljährlich festgesetzt wird, einen ganz anderen Charakter hat als die Frist des § 71 Abs. 2 EStDV. Die allgemeine Frist für die Abgabe der Einkommensteuererklärung kann nach § 167 Abs. 4 Satz 1 AO verlängert werden. Die Fristüberschreitung hat in der Regel nur geringfügige Folgen. Das FA hat die Veranlagung auf jeden Fall durchzuführen und erhebt im allgemeinen lediglich einen Verspätungszuschlag (§ 168 Abs. 2 AO). Die Frist des § 71 Abs. 2 EStDV ist dagegen als Ausschlußfrist gestaltet; sie kann nicht verlängert werden (vgl. § 83 Abs. 1 Satz 3 AO). Ihre Überschreitung führt, sofern Nachsichtgewährung nicht in Betracht kommt, zum Verlust des Anspruchs auf Durchführung der Veranlagung. Das ist ein Eingriff in die Rechtsposition einer bestimmten Gruppe von Steuerpflichtigen und der übrigen Steuerpflichtigen, für die die Fristenregelung gemäß § 56 Abs. 3 EStDV gilt.

Näher liegt es, die Fristbestimmung in § 71 Abs. 2 EStDV als der Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens dienend zu rechtfertigen. Daß Fristsetzungen diesem Ziel dienen können, läßt sich zwar nicht bestreiten. Was die Fälle des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG 1969 betrifft, so erweisen sich bei ihnen Ausschlußfristen sogar als besonders wirksam, weil bei Fristversäumung eine Veranlagung des Steuerpflichtigen überhaupt entfällt. Das ist jedoch ein Vereinfachungseffekt, der von der Zielvorstellung der Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens in § 51 Abs. 1 Nr. 1 EStG schlechterdings nicht mehr gedeckt sein kann. Denn was sich hier vordergründig als "Vereinfachung" darstellt, ist seinem Wesen nach eine Verfügung über den Rechtsanspruch auf Veranlagung als solche. Diesen materiell-rechtlichen Anspruch hat das Gesetz in § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG 1969 dem Steuerpflichtigen ohne Einschränkungen gewährt. Der Anspruch steht daher auch nur zur Disposition des Gesetzgebers selbst. Das ergibt sich aus den verfassungsrechtlichen Prinzipien des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung.

Die Fristsetzung gemäß § 71 Abs. 2 EStDV ist ohne eine solche gesetzliche Grundlage erfolgt.

Der Senat kommt jedoch noch aus einem anderen Grund zur Rechtsunwirksamkeit der Regelung der vom Verordnungsgeber als Ausschlußfrist gestalteten Frist des § 71 Abs. 2 EStDV.

Wie das BVerfG im Urteil vom 11. August 1954 2 BvK 2/54, (BVerfGE 4, 31, 37) ausgeführt hat, sind Fristvorschriften als formale Ordnungsvorschriften jus strictum und dienen allein der Rechtssicherheit. Fristen müssen infolgedessen aus dem Gesetzestext sofort eindeutig und klar erkennbar sein. Sie können nicht erst aus Sinn und Zusammenhang der Gesetze durch ausdehnende oder sogar überraschende Auslegung gefunden werden. Diese Voraussetzungen gelten in erhöhtem Maße für die Festsetzung von Ausschlußfristen, bei deren Nichtbeachtung erhebliche materielle Rechtsverluste, so wie im Streitfall durch Versagung der Veranlagung zur Einkommensteuer eintreten können. Die im § 71 Abs. 2 EStDV vorgesehene Frist ist jedenfalls aus dem Gesetzestext nicht sofort eindeutig und klar erkennbar. Sie ist vielmehr unbestimmt und läßt sich keinesfalls auf einen bestimmten Tag festlegen. Der einzelne Bürger kann weder dem Gesetz noch der Verordnung entnehmen, wann die Antragsfrist ausläuft. Eine solche Fristbestimmung entspricht jedenfalls nicht den an sie zu stellenden rechtsstaatlichen Anforderungen. Das in Art. 20 GG enthaltene Gebot der Rechtsstaatlichkeit verlangt, daß der Ablauf einer Ausschlußfrist so festgelegt ist, daß der Staatsbürger ihren Ablauf im Einzelfall ohne Schwierigkeiten ermitteln kann. Der Rechtsstaatsbegriff erfordert ein unabdingbares Maß an Meßbarkeit und Vorausberechenbarkeit staatlicher Machtäußerung (Maunz-Dürig, Grundgesetz, Rdnr. 86 zu Art. 20). Dazu gehört auch, daß ihnen in verständlicher Form gesagt wird, bis zu welchem Tag eine Ausschlußfrist läuft (so auch rechtskräftig gewordenes Urteil des FG Rheinland-Pfalz III 1821/67). Die Vorinstanz weist in diesem Zusammenhang u. a. zutreffend darauf hin, daß es von der Sache her nicht gerechtfertigt ist, wenn in den Bezirken verschiedener OFD verschiedene Ausschlußfristen im Sinne des § 71 Abs. 2 EStDV gelten sollen. Jedenfalls läßt sich das Ende der Frist keinesfalls auf einen bestimmten Tag festlegen. Somit handelt es sich bei der Vorschrift des § 71 Abs. 2 EStDV um ein unvollkommenes Gesetz. Dieses enthält nicht den eigentlichen Gesetzesbefehl und bürdet das Risiko daraus dem Steuerpflichtigen auf. Die Fristbestimmung in § 71 Abs. 2 EStDV ist auch deshalb rechtsunwirksam.

Die Vorinstanz hat daher das FA zu Recht zur Durchführung der Veranlagung verpflichtet.

 

Fundstellen

Haufe-Index 70417

BStBl II 1973, 484

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